Vorwort

Universitäre Weiterbildung und Digitalisierung im Umbruch – zwischen COVID und der immer prominenteren Rolle Künstlicher Intelligenz

Christian Rohr*

Prof. Dr. Christian Rohr ist Direktor der Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) am Historischen Institut der Universität Bern und Vorsitzender der Programmleitung CAS/MAS ALIS. Der Text stellt eine überarbeitete und erweiterte Version der Ansprache anlässlich der Diplomfeier des 8. Studiengangs CAS/MAS ALIS (2020-2022) am 19. Januar 2023 dar.

2006, vor bald 20 Jahren, wurde der CAS/MAS ALIS, das Weiterbildungsprogramm mit dem Certificate und Master of Advanced Studies in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft, als Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Bern und Lausanne ins Leben gerufen. Es überwindet somit bewusst die Sprachgrenze des «Röstigrabens», indem auch der Unterricht weitgehend auf Deutsch oder Französisch stattfindet. Das Programm hat sich wohl auch gerade deswegen rasch zu einem Erfolgsmodell entwickelt: Mittlerweile läuft der 9. Studiengang (2022-2024) und das Interesse an dieser nachuniversitären Ausbildung ist weiterhin sehr hoch.

Der 8. Studiengang, dessen Abschlussarbeiten nun in gekürzter Form diese Ausgabe von Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis / Sciences de l’information: théorie, méthode et pratique füllen, begann unter denkbar schlechten Rahmenbedingungen. Im Herbst 2020 prägte die COVID19-Pandemie das gesellschaftliche und berufliche Leben weltweit. Nach einem ersten Lockdown im Frühling desselben Jahres hatten sich Lehrende und Studierende zwar schon alle ein wenig an diese neue Situation gewöhnt. Aber im Gegensatz zum Vorgängerkurs, der unter «normalen» Bedingungen begonnen hatte und dann gegen Ende voll von den Umstellungen hin zu virtueller Lehre betroffen war, hatte es dieser Studiengang fast noch schwerer: Die Studierenden begannen ausschliesslich mit virtuellem Unterricht und hatten somit am Beginn keine Möglichkeit, sich untereinander persönlich kennenzulernen. Eine Gruppendynamik konnte sich erst mit der Zeit entwickeln, als schrittweise die Präsenzlehre eingeführt werden konnte.

In der historischen Katastrophenforschung, einer Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, in der ich selbst seit vielen Jahren einen meiner Forschungsschwerpunkte habe, wird anhand solcher einschneidenden Ereignisse immer wieder diskutiert, bzw. auch die Öffentlichkeit trägt diese Frage an die Forschung heran, ob es schon ähnliche Einschnitte gegeben habe, die unsere Gesellschaft so nachhaltig verändert haben. Diese Frage kann hinsichtlich der COVID-Pandemie jetzt noch nicht abschliessend beantwortet werden, weil viele Langzeitfolgen noch nicht absehbar sind, aber es ist klar, dass viele Veränderungen gerade im Bereich der Kommunikationstechnologie wohl dauerhafte Nachwirkungen haben werden.

Zweifellos handelte es sich um eine «Krise» im wahrsten Sinne des Wortes, wie es die meisten in unserem Leben hier in der Schweiz und in vielen anderen Teilen der westlichen Welt noch nicht erlebt haben. Aber Krisen können auch neue Chancen aufzeigen: das Wort krisis im Altgriechischen bedeutet eigentlich «Entscheidung». Eine Krise ist somit eine Zeit, in der gut überlegte, richtungsweisende Entscheidungen anstehen. Damit kann der oft rein pejorative Charakter dieses Wortes auch in die Zukunft weisen, und zwar durchaus auch in einem positiven Sinn: Die COVID-Pandemie hat uns in einer Art «Crash-Kurs» mit zahlreichen neuen Kommunikationskanälen vertraut gemacht: Zoom und ähnliche Programme gehören heute zum Berufsalltag; virtuelle oder hybride Meetings sind nicht nur eine Notlösung, sondern eine zeit- und ressourcensparende Form der Besprechungskultur geworden.

Nach dem Abklingen der Pandemie und der Rückkehr zur Präsenzlehre können wir heute besser abschätzen, wo die Stärken und die Grenzen dieser neuen Kommunikationsformen liegen: Zeitersparnis, weniger dienstliche Reisen auf der einen Seite, Grenzen der sozialen Interaktion auf der anderen, um nur einige Aspekte zu nennen. Konkret für die Ausbildung im Rahmen der Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft relevant ist die Einsicht, wie wichtig Digitalisierung und Open Access für ein Aufrechterhalten von Forschungsarbeit geworden sind, wenn Lockdowns den Zugang zu Archiven und Bibliotheken verunmöglichen. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung als Historiker dazu berichten, dass die digitale Zugänglichkeit von E-Books, von Archivbeständen, Repertorien, Bilddatenbanken etc. entscheidend dafür war, ob akademische Arbeiten auch in diesen Krisenzeiten vorangetrieben werden konnten oder nicht.

Viele der Absolvent:innen des CAS/MAS ALIS sitzen heute an den Schaltstellen dieser Digitalisierung bzw. digitalen Wissensvermittlung oder werden in Zukunft damit befasst sein. Es kommt somit eine zusätzliche Verantwortung auf alle zu, diesen allgemeinen Digitalisierungsprozess mitzutragen und ihn bestmöglich im Austausch mit Politik und Gesellschaft auszuhandeln. Allgemein werden die Digital Humanities immer zentraler, ob im Rahmen dieses Ausbildungskurses, in der universitären Lehre und Forschung oder in der Praxis in Archiven, Bibliotheken, Museen und Dokumentationsstellen. Immer mehr Recherche- und Arbeitsschritte werden von Algorithmen und Linked Open Data massgeblich mitgeprägt. Während Künstliche Intelligenz (KI) zwar schon seit Jahren immer mehr Einfluss auf unsere digitale Kommunikationskultur hat – von Suchmaschinen bis hin zu Übersetzungsprogrammen –, dies aber kaum von der breiten Öffentlichkeit in ihrer Dimension wahrgenommen wurde, so hat sich dies spätestens 2022 mit dem Aufkommen von ChatGPT grundlegend verändert. Die Diskussionen verlaufen durch alle Gesellschaftsschichten, inwiefern KI für uns alle in der Zukunft «unbegrenzte Möglichkeiten» erschliessen oder uns «in den Untergang» führen wird, um die zwei Extrempositionen abzustecken. Umso mehr liegt es an den Fachkräften im Bereich der Informationswissenschaften, die Stärken, Schwächen und Gefahren der KI realistisch zu bewerten und einzusetzen. Der Hauptvortrag an der Diplomfeier am 19. Januar 2023 von Prof. Dr. Siegfried Handschuh zum Thema «Von der Informationswissenschaft bis zur künstlichen Intelligenz» hatte daher einen Teilaspekt dieses Themenkomplexes zum Thema.1

Umbruch und Weiterentwicklung spiegeln sich auch in struktureller und personeller Hinsicht wider. Seit dem Sommer 2023 arbeitet die Programmleitung an einer umfassenden Evaluation der Kursinhalte, die dann – in einem kleineren Umfang – schon in den 10. Studiengang des CAS/MAS ALIS (2024-2026) sowie umfassender in die Studiengänge ab 2026 einfliessen sollen. Dabei wird es auch um die Gewichtung der bisherigen Inhalte sowie die allfällige Aufnahme neuer Themen gehen. Wie schon in der Vergangenheit waren und sind dabei die stets konstruktiven und hilfreichen Feedbacks der Studierenden zu den einzelnen Modulen wichtig, die uns allen helfen, den Unterricht und die Inhalte noch besser auf die spezifischen Bedürfnisse anzupassen.

In der Studienleitung fand schrittweise ein Generationswechsel statt: Natalie Brunner-Patthey trat mit 1. April 2022 nach sieben Jahren in der Studienleitung in den vorgezogenen Ruhestand. Mit Amélie Vallotton Preisig wurde eine ideale Nachfolgerin gefunden; sie wechselte 2022 von der Programmleitung, in der sie Bibliosuisse vertreten hatte, in die Studienleitung.

Mittlerweile zieht sich auch Gaby Knoch-Mund, die das Programm ab 2005 mit aufgebaut und seither kontinuierlich mitverantwortet, schrittweise in den Ruhestand zurück. Sie hatte die Studienleitung zudem seit 2014 in der Programmleitung vertreten. Ihre Aufgaben in der Studienleitung hat Georg Büchler übernommen; er vertritt nun die Studienleitung seit November 2023 auch mit Stimmrecht in der Programmleitung. Auch sonst gab es in der Programmleitung kontinuierlich Veränderungen: Seit 2020 schieden Niklaus Landolt (Universitätsbibliothek Bern, Pensionierung) und Alain Dubois (aufgrund seines Rücktritts als VSA-Präsident und der Konzentration auf seine neue Position als Chef du Service valaisan de la culture) aus dem Gremium aus. Ihnen folgten Sonia Abun-Nasr (Direktorin der Universitätsbibliothek Bern), Rudolf Mumenthaler (Direktor der Universitätsbibliothek Zürich, als Vertretung von Bibliosuisse) sowie Heike Bazak (Leiterin des PTT-Archivs Köniz bei Bern, als Co-Präsidentin des Vereins der Schweizerischen Archivar:innen). Schliesslich gab es auch in der Administration, namentlich von Antoinette Guggisberg auf Christine Beyeler, im Frühling 2023 einen personellen Wechsel. Ihnen allen sei ausdrücklich für ihren grossen Einsatz gedankt.

Ich freue mich nicht nur über die erfolgreichen Abschlüsse der Weiterbildungsstudierenden, sondern auch darüber, dass trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und Zusatzbelastungen insgesamt 20 Zertifikats- und Masterarbeiten fristgerecht für die Publikation überarbeitet werden konnten. Dabei gebührt dem Redaktionsteam Gaby Knoch-Mund, Ulrich Reimer und Barbara Roth-Lochner sowie Edith Maier, die die Abstracts ins Englische übersetzt hat, ein besonderes Lob, diese Nummer von Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis / Sciences de l’information: théorie, méthode et pratique im bisher gewohnten Rhythmus erscheinen zu lassen, obwohl sich der Abschluss der Masterarbeiten aufgrund der Pandemie in vielen Fällen um Monate verschoben hatte.

So bleibt zu hoffen, dass die hier publizierten Arbeiten Impulse für die Theorie und Praxis der Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft für die Zeit nach der COVID-Pandemie und in einer neuen Phase der Weiterentwicklung der KI geben können. Die Absolvent:innen des CAS/MAS ALIS selbst werden mit ihrer bereits angetretenen oder zukünftigen Tätigkeit in der weiten Welt der Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen die Möglichkeit und Aufgabe haben, diese neuen Erkenntnisse konkret anzuwenden und damit einen Beitrag zum Wissenstransfer zu leisten.

Notes

1 Die Verschriftlichung des Vortrags ist in dieser Ausgabe von Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis / Sciences de l’information: théorie, méthode et pratique auf S. 11-28 enthalten. ↩︎