Einleitung Teil 1

Archivgut und Kulturerbe erhalten im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, von Digitalisierung und Informationsethik

Gaby Knoch-Mund

Die Arbeit in Gedächtnisinstitutionen ist mehr denn je eine politische und kann nicht ohne breite Kontextualisierung ausgeübt werden. Ethische Fragen stellen sich nicht erst mit dem wachsenden Einfluss Künstlicher Intelligenz, Versuchen der Verfälschung von Information und der Manipulation des Zugangs. Kriegerische Ereignisse und friedliche politische Umwälzungen sowie allgemein gesellschaftliche Entwicklungen stellen Mitarbeitende von GLAM-Institutionen vor neue Probleme und Herausforderungen, denen mit traditionellen Konzepten und Methoden nicht begegnet werden kann. Theoretische Reflexion, sorgfältige Analyse und ein Denken «out of the box» ermöglicht Lösungen, sei es für kurzfristiges, mittel- oder längerfristiges Handeln.

Diese Reflexionsfähigkeit zeigt sich in den hier präsentierten Artikeln. Běla Marani, promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Staatsarchiv Zürich, untersucht die Teilung der Archive nach der Auflösung der ČSFR, vergleicht diese mit Abspaltungsprozessen in der Schweiz nach dem Jurakonflikt, als Gemeinden der Kantone Bern und Basel-Landschaft sich dem neuen Kanton Jura anschlossen. Simone Visconti, promovierter Historiker und Forscher an der Universität Neuenburg und Archivar bei der Firma Pro Archives SA in Nyon, präsentiert neue Ansätze für die Bewertung in den Archives cantonales vaudoises, wo er ein längeres Praktikum absolviert hat. Natalia Eschmann, Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatsarchiv Solothurn, entwickelt das Dokumentationsprofil für deutsche Kommunalarchive weiter, indem sie neue sozialwissenschaftliche Ansätze für die historische und gesellschaftliche Analyse ihres Archivsprengels und die theoretische Fundierung der Überlieferungsbildung hinzuzieht. Digitalisierung von Kulturgut, das in mehreren Institutionstypen aufbewahrt wird, bildet die Grundlage der Untersuchung zu Herbarien von Remo Stämpfli, Doktorand und Forschungsmitarbeiter an der Universität Neuenburg. Er nutzt dazu seine langjährige Erfahrung bei hallerNet an der Universität Bern und das theoretische Rüstzeug des MAS ALIS. Silvan Imhof, promovierter Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter mit einem Schwerpunkt Forschungsethik am Zentrum für Forschungsförderung der Pädagogischen Hochschule der Universität Bern, bewegt sich mit seinem Beitrag auf der Schnittstelle zwischen Informationswissenschaft und Ethik. Grundsatzfragen der Überlieferungsbildung und der Wertung von Information werden den zukünftigen Zugang zu Information, die Arbeit der Forschenden, aber auch jedes individuelle Wissen über unsere Welt heute, gestern und morgen bestimmen.

BĚLA MARANI untersucht in ihrem Aufsatz «Die Aufteilung der Archive bei Staatensukzession oder Gebietsverschiebung. Anhand der Auflösung der ČSFR, der Gründung des Kantons Jura und des Übertritts des Bezirks Laufen» die Rolle und die Möglichkeiten von Archiven bei derartigen grossen politischen Umwälzungen. Sie verbindet die historische Analyse mit einer archivwissenschaftlichen Perspektive. Eine Staatensukzession ist eine nach vereinbarten Regeln geplante und durchgeführte Trennung von Staaten. Diese hat auch die Auflösung respektive Teilung von Archiven zufolge, die einen wichtigen Beitrag zur «Sicherung der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie von Nachfolgestaaten spielen und die Kontinuität und Transparenz der Verwaltungstätigkeit gewährleisten.» Der Untersuchungszeitraum 1979-1994 umfasst die Auflösung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, die Gründung des Kantons Jura den Übertritt des Bezirks Laufental zum Kanton Basel-Landschaft. Die Ausgangslage präsentiert sich dabei unterschiedlich, die Digitalisierung steckte in den Anfängen und Good-Governance-Strategien blieben teilweise Desiderate. Die Autorin führt reichhaltige Literatur zu den Prinzipien der Trennungsgrundsätze und deren Umsetzung an und geht dann detailliert auf ihre Fallbeispiele ein, die Tschechische und Slowakische Föderative Republik ab1992 mit ihrer komplexen Archivlandschaft. Die Teilung basiert auf wichtigen Grundlagen, die Autorin nennt das «Provenienzprinzip und die Unzerstörbarkeit für das Archivgut, das Territorialprinzip für das Schriftgut, die Bewahrung der Einheit der föderalen Archive» sowie den 31. Dezember 1992 als «Stichtag». Zu dieser Separation gehören auch die Teilung der Registraturen und Vereinbarungen über den gegenseitigen Zugang und die Nutzung, insbesondere für das Archiv des Föderalen Ministerium des Innern und das Militärhistorische Archiv.

Teilweise wurde die Reorganisation nach der Auflösung der ČSFR u.a. durch Schweizer Archivare beratend begleitet, die ihre Erfahrung aus dem Jurakonflikt, eine «subnationale Sezession» einbrachten. Auch hier ging es um Vermögungs- und Güterteilung, darum ebenfalls um Archive. Der Verbleib von Kulturgütern wurde 1984 in einem Abkommen vereinbart zur «Wahrung der Integrität der Bestände der Verwaltungsarchive […], das Konzept des gemeinsamen Erbes», wo wie bei der Fondation des Archives de l’ancien Evêché de Bâle keine Teilung möglich war, der Entscheid für das Pertinenzprinzip mit der Separation der Zwischenarchive und der Entscheid für eine Kompetenzübertragung an die Kantonsarchivare mit garantiertem Zugang zu den Beständen des Staatsarchivs des Kantons Bern. In einem zweiten Schritt wurde im interkantonalen Konkordat «der Übertritt des Laufentals zum Kanton Basel-Landschaft» geregelt, «eine Zession innerhalb eines Bundesstaates», die ebenfalls einer «Vereinbarung über das Archivwesen» bedurfte. Diese wurde 1993 abgeschlossen. Marani bezeichnet zusammenfassend das Ergebnis ihrer Fallstudien, die alle die Archivteilung konventioneller Medien vor der Digitalisierung betreffen, als «Beitrag zur Good Governance-Praxis bei einer Staatensukzession, um die Interessen der Allgemeinheit und der Forschung zu gewährleisten».

SIMONE VISCONTI setzt sich in seinem Beitrag « L’évaluation aux Archives cantonales vaudoises. Analyse des pratiques et développement d’outils de travail » kritisch mit Bewertung als archivischer Kernkompetenz auseinander und untersucht die praktische Anwendung in den Archives cantonales vaudoises. Er überprüft die Tauglichkeit theoretischer Ansätze am Beispiel interner Praxis und im Vergleich mit anderen schweizerischen und internationalen Institutionen, um daraus neue Werkzeuge und Anleitungen für das grösste Kantonsarchiv der Westschweiz zu entwickeln. Seine klassischen Ausgangsfragen sind «Pourquoi évaluer ? Qui évalue et comment ?», geprägt von Strategie, Wissenschaftlichkeit und Transparenz, um daraus ein methodisch nachvollziehbares Konzept zu entwickeln. Leicht unterschiedlich sind Rollen und Kompetenzen im Schweizerischen Bundesarchiv und bei den Archives cantonales vaudoises verteilt. Im Staatsarchiv des Kantons Waadt bilden Aufbewahrungskalender, die Calendriers de conservation, und die administrativen Vorgaben der Verwaltung (DRUIDE-recueil) die nach Meinung des Autors zu wenig ausgearbeitete Grundlage für Erhaltungsplanung und Bewertung, die das Risiko in sich tragen, dass Bewertungsentscheide intuitiv und wenig systematisch getroffen werden. Der Autor hält fest, dass dies in vielen Archivinstitutionen der Fall sei und sich auch in der Bundesverwaltung die Rollen überschneiden würden zwischen Verwaltung und Archiv. Darum seien die rechtlich-administrative Analyse und die historisch-wissenschaftliche in einem Prozess miteinander zu verbinden. Werte seien anders und neu zu definieren, anstelle der «valeur historique» trete ein gesellschaftliches Interesse. Der Archivar oder die Archivarin seien heute Vermittler und nicht mehr historische Experten; sie vertreten die Interessen ihrer Institution, diejenigen des Staates und der Öffentlichkeit und wahrten die Transparenz. Die Analyse weiterer Generalkonzepte aus den Nationalarchiven der Schweiz und Frankreichs sowie des Internationalen Archivrats ICA mündet in der Erarbeitung eines Bewertungsrasters für die Archives cantonales vaudoises, das bewusst einfach gehalten ist, um « une vision d’ensemble claire et synthétique », ein Gesamtbild, zu ermöglichen und der internen sowie der externen Kommunikation zu dienen. Dieses wird ergänzt durch ein « Référentiel de Sélection, Versement, Elimination » mit 12 Kriterien. Ein Praxistest ist ausstehend.

NATALIA ESCHMANN geht in ihrem Aufsatz «Der Pluralität des Geschehens gerecht werden – aber wie? Eine Weiterentwicklung des Dokumentationsprofils» von Hans Booms Ansatz einer «gesamtgesellschaftlichen Dokumentation aller Interessens- und Bindungsgemeinschaften» aus. Sie analysiert das Dokumentationsprofil der Bundeskonferenz für Kommunalarchive BKK und entwickelt es weiter, indem sie sich auf Ann Laura Stolers Publikationen beruft. Sie versucht damit, historisch-sozialwissenschaftliche Ansätze mit traditionell archivischer Theorie zu kontrastieren und daraus eine Praxis für das Staatsarchiv Solothurn zu entwickeln.

Der Ansatz von Stoler ist politisch, da er die Machtverhältnisse und das Machtgefälle ins Zentrum stellt. Eschmann fordert eine Neuausrichtung der Dokumentationsprofile, damit sie «zum Steuerungsinstrument einer Überlieferungsbildung werden, [das] sich der Pluralität des Geschehens» bewusst ist. Sie testet in der Folge die Adaptationner historischen und sozialwissenschaftlichen Methodik, nämlich die Quellen ‘gegen den Strich’ zu lesen, sie aber auch ‘entlang’ dem Strich zu analysieren. In ihrer funktionalen Analyse beschränkt sie sich auf den Einbezug der rechtlichen Grundlagen und den selektiven Einbezug der BKK-Arbeitshilfe zur Kategorisierung der Lebenswelt und geht kritisch mit dieser Vorlage um. Der Staat wird wahrgenommen als Akteur mit entsprechend ‘produziertem Wissen’, zusätzlich braucht es eine Untersuchung derjenigen Bereiche, wo der Staat nicht aktiv wird. Anstatt eine Vielzahl von Themen und Quellen hinzuzuziehen, erfolgt eine kluge Beschränkung mit dem exemplarischen Bezug auf die Solothurner Kantonsgeschichte. Aus beiden Zugängen resultieren konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen und die Festlegung von Kategorien des Sammlungsprofils des Staatsarchivs Solothurn, die einer multiperspektivischen Betrachtungsweise genügen.

In einem nächsten Schritt werden Dokumentationsziele erarbeitet und entgegen dem Strich gelesen heisst es zu fragen, welche «nichtstaatlichen Akteur*innen die jeweilige Kategorie mitgestalte(te)n», d.h. es geht um einen retro- und prospektiven Zugang, bei dem auch alle Überlieferungsentscheide priorisiert und begründet werden müssen. Ausführlich stellt dies die Autorin am Beispiel des «Dokumentationsprofils Politik» im Staatsarchiv Solothurn dar, insbesondere am Beispiel der Eruierung neuer Dokumentationsfelder wie Frauen(-Organisationen), Ausländer, Menschen unter Beistandschaft, Partizipation von Kindern und Jugendlichen, Einzelpersonen. Eschmann stellt fest, «dass die Formulierung von Dokumentationszielen entgegen dem Strich einer der aufwändigsten Arbeitsschritte bei der Erstellung des Dokumentationsprofils ist». Der Dokumentationsgrad legt schliesslich die «angestrebte Überlieferungsdichte» fest, wobei aus pragmatischen Gründen auf eine zu grosse Differenzierung verzichtet wurde.

Ein multiperspektivischer Ansatz, nach welchen Ansätzen und Modellen er auch entwickelt wird, bietet die Möglichkeit, die eigene Praxis theoretisch kritisch zu reflektieren, diese neu zu begründen und offen weiterzuentwickeln. Der Artikel von Eschmann zeigt somit auf, dass Archivare und Archivarinnen sich nicht einfach auf bestehende Konzepte berufen können, sondern diese regelmässig zu evaluieren, sie proaktiv zu adaptieren und reflektiert durch neue Modelle und Vorgehensweisen zu ersetzen haben, um der «Pluralität des Geschehens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft» gerecht werden zu können.

REMO STÄMPFLI beschreibt in seiner Masterarbeit «Die Möglichkeiten des Digitalen bei der Erschliessung und Vermittlung von Herbarien und Herbarbelegen» Pflanzenarchive, Herbare oder Herbarien und Einzelbelege für Pflanzen, sogenannte Herbarbelege. Diese alle bilden als «Archive der Natur» eine eigene Quellengattung, die in unterschiedlichen Institutionstypen aufbewahrt und in den letzten Jahren vermehrt aufgearbeitet und einem breiten, aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen stammenden Publikum zur Verfügung gestellt wird. Nicht zuletzt eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten der Präsentation und Vernetzung. Die Biodiversitäts-Forschung, insbesondere die Taxanomie als Teilgebiet der Botanik, interessiert sich ebenso wie Wissenschaftshistoriker*innen für diese einzigartigen Quellen.

Dank der rasch fortschreitenden Entwicklung der Digital Humanities und auf archivwissenschaftlicher Basis werden grosse Herbarsammlungen breit digital zugänglich gemacht. Dies geschieht auch in der Schweiz, verbunden mit Netzwerken und Plattformen wie SwissCollNet und hallerNet, infoflora.ch, Swiss Herbaris und international mit JSTOR Global Plants. Stämpfli stellt in einem Überblick die Eigenheiten der «Landschaft der digitalen Schweizer Herbare» dar mit den Herbarien von Universität und ETH Zürich, dem kleineren Beispiel des Herbars von Philippe Farquet, den Herbarien der Universität Bern, die erschlossen werden, dem Fallbeispiel des Herbars von Felix Platter, das als ältestes Schweizer Herbar in der Burgerbibliothek Bern aufbewahrt wird und früh elektronisch zugänglich war, dem ebenfalls umfangreichen Neuenburger Herbar, dessen Digitalisierung vorerst abgebrochen wurde, aber zusammen in einem «Projekt Botanisches Erbe der Aufklärung und Rousseaus Neuenburger Herbar» wieder aufgenommen wurde, um es in diesem Projekt zu analysieren und virtuell zu rekonstruieren. Mögliches Ziel der Aufarbeitung von Herbaren ist die Zugänglichmachung über SwissCollNet, das von der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz geförderte Netzwerk. Dies geschieht unter Einhaltung der neuesten wissenschaftlichen Standards, führt zu Entwicklungsschritten dank Normdaten und eröffnet weitere Vernetzungsmöglichkeiten.

Künstliche Intelligenz wird als «Machine Learning-Verfahren» für die Transkription schriftlicher Teile der Herbarien wie Herbaretiketten oder die «automatischen Identifizierung der botanischen Art», von Fundort und Sammler genutzt werden. So generierte Metadaten sind eine Grundlage für die weitere Auswertung. Für die vorlinnéischen Belege und andere Bestände vor 1900 bietet sich die Weiterentwicklung und das Vernetzungspotenzial von hallerNet an, das gemäss dem Autor zu einer «Kompetenzplattform für die ältere Schweizer Botanik» werden könnte. Auch wenn erst 10% der etwa eine Million Herbarbelege in der Schweiz digital vorliegen, besteht ein grosser Forschungsbedarf mit technikgestützter Auswertung und Vermittlung, die letztlich auch der Erschliessung zu Gute kommt und der Erhaltung der fragilen Originale dient.

SILVAN IMHOF leistet mit seinem Aufsatz «Archive in informationsethischer Perspektive» einen Beitrag zu einer «theoretisch begründeten Archivethik», die sich am praktischen Umgang mit Information orientiert. Seine Überlegungen basieren auf Informationsökologie, die einen nachhaltigen Umgang mit Information einfordert, und mündet in einem «informationsethischen Diskurs […] mit anderen Akteuren», d.h. den Partnern der Archive, über grundlegende Fragen wie «die Bewertung von Information». Der Autor beginnt seine Ausführungen mit einer knappen Einführung in die Informationsethik und ihre informationsökologischen Grundlagen, die zusammen mit den technologischen Neuerungen entstanden ist. Bestimmend sind die Arbeiten von Rainer Kuhlen und Luciano Floridi, ausserdem referiert er auf Rafael Capurro. Information wird als «immaterielle, nichtnatürliche Ressource» definiert, die unerschöpflich sei, da sie sich durch Nutzung nicht verbrauche und beliebig oft reproduziert und weitergegeben werden könne, in einer Infosphäre, auf die sich das (informationsethische) Handeln auswirkt.

Imhof geht nun über diese theoretischen Ansätze hinaus, indem er praktisch anwendbare «informationsethische Prinzipien» formuliert, aus denen «Handlungsnormen» abgeleitet werden können. Fünf Bedingungen stehen am Anfang der Analyse − Information, die vorhanden, auffindbar, zugänglich, interpretierbar, verwendbar und gesichert sei. Diese werden als informationsethische Prinzipien erläutert und ausformuliert. In einem nächsten Schritt beschreibt der Autor ausgewählte archivische Funktionen in «informationsethischer Perspektive». Archive sind in diesem Zusammenhang als «lokale informationelle Ökosysteme» zu verstehen, die mit Information umgehen und innerhalb der Infosphäre agieren. Imhof orientiert sich dazu am OAIS-Referenzmodell und untersucht exemplarisch den Ingest, insbesondere die mit der Akquisition verbundene Bewertung. Auch wenn Imhof einige Ergebnisse als «trivial», d.h. offensichtlich, bezeichnet, geht es letztlich um eine «ethische Legitimierung» archivischen Handelns, die nicht nur zu einer Weiterentwicklung der Berufsethik(en) führt, sondern auch auf andere «informationelle Ökosysteme» wie GLAM-Institutionen ganz allgemein anwendbar sein könnte.

Detailliert ausgeführt wird dies für «Archive in informationsethischen Diskursen», die einen nachhaltigem Umgang mit Information pflegen müssen und sich in einem diskursiven Prozess der «Normfindung» bewegen. Archive werden so zu Akteuren mit einem informationsethischen Standpunkt, den sie auch bei der «Bewertung im Diskurs» einnehmen; ihre ganzheitliche Sicht in einem breiten Kontext erlaubt es, Bewertungsentscheide diskursiv zu begründen. Hier führt Imhof neu den Begriff der «signifikanten Wahrheit» nach Philipp Kitcher ein, mit der sich die Signifikanz der Methoden und Forschungsfragen und damit auch der Bewertungsmodelle messen lässt.

So komplex das theoretische Gerüst Imhofs ist, so klar ist seine Forderung nach einem Diskurs der Akteure und dem informationellen Handeln der «Archive und Gedächtnisinstitutionen» nach Grundsätzen von Nachhaltigkeit und «allgemeinen informationsethischen Prinzipien». Imhof fordert damit Reflexion und Handeln, die zusammen weit über die Anwendung neuester technischer Möglichkeiten hinausgehen.

Die fünf vorgestellten Artikel setzen sich auf hohem intellektuellem Niveau mit sehr unterschiedlichen Funktionen von Archiven und anderen Gedächtnisinstitutionen auseinander. Die Autoren und Autorinnen untersuchen ihre Fragestellung theoriebasiert und wenden ihre Überlegungen auf praktische Beispiele aus ihrem beruflichen oder akademischen Umfeld an. Der Untersuchungsgegenstand ist mehrheitlich ein archivischer, aber auch beispielhaft für andere aufbewahrende Institutionen. Damit setzen die Autoren und Autorinnen des Studiengangs 2020-2022 Leitprinzipien des Weiterbildungsprogramms in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft um: Interdisziplinarität und die Verbindung von Theorie und Praxis. Dieser Ansatz hat nicht nur die Reflexion der Absolventen und Absolventinnen bereichert, sondern bei allen auch zu einer neuen Anstellung im erweiterten ABI-Umfeld oder in der Wissenschaft geführt. Sie teilen in der Publikation des CAS/MAS ALIS ihre Erkenntnisse mit einer Fachcommunity, es werden nicht ihre letzten, qualifizierten Wortmeldungen sein.