Einleitung Teil 2

Digitalisierung im ABD-Bereich ‒ normative Grundlagen und politischer Kontext

Ulrich Reimer

Die im Folgenden vorgestellten Arbeiten befassen sich mit einer Ausnahme mit Aspekten der Digitalisierung und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Einige von ihnen untersuchen den Einsatz neuer technischer Hilfsmittel, andere mehr die Rahmenbedingungen, welche die Digitalisierung im ABD-Bereich fördern. Während die Digitalisierung somit nach wie vor ein wichtiges Thema der Abschlussarbeiten im MAS ALIS darstellt, greifen andere Arbeiten aber auch ganz andere Themen auf, so wie der als letztes vorgestellte Beitrag, welcher das Instrument vertraglicher Leistungsvereinbarungen zur Förderung von GLAM-Institutionen betrachtet.

Der Standard Records in Context (RiC) ist schon etwa zehn Jahre alt, hat es trotzdem bis jetzt kaum in praktische Anwendungen geschafft. Der Beitrag von SIMON HOFER «Records in Contexts im Staatsarchiv Thurgau» untersucht exemplarisch, wie der Grundbuchbestand des Staatsarchivs Thurgau nach RiC transferiert werden kann. Anhand von zwei Beispielen beschreibt der Autor die Überführung eines älteren, physischen Bestands – ein Kaufprotokollband aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts – sowie eines digitalen Bestands – Daten, die aus einem digitalen Grundbuch extrahiert wurden. In beiden Fällen liegt der Fokus auf der Provenienz, im zweiten Fall auch auf der Anreicherung von Metadaten. Simon Hofer weist in seiner Arbeit auf die Vorteile einer Darstellung in RiC hin: neben maschinenlesbaren Verzeichniselementen und -kategorien die damit neu entstehende Möglichkeit, mit Ressourcen ausserhalb des Archivinformationssystems zu vernetzen. Schliesslich mahnt der Autor eine bessere Unterstützung durch die Archivinformationssysteme an, um den manuellen Aufwand bei der Überführung in RiC zu reduzieren.

In ihrem Beitrag «Une politique publique du Records Management au Tessin? Etat des lieux et pistes de réflexion» untersucht ALESSIA BOTTANI, wie weit sich in Tessiner Verwaltungen Records Management etabliert hat. Sie geht von der These aus, dass die Verwaltung von Geschäftsunterlagen nach wie vor fragmentarisch ist, und untersucht dies im Rahmen einer Feldstudie. Basis für ihre Untersuchung ist ein im Rahmen ihrer Masterarbeit entwickeltes Reifegradmodell, das auf dem eCH-0232-Reifegradmodell für das Informationsmanagement einer Organisation basiert. Das Modell wird sowohl für die Untersuchung der kantonalen Verwaltung als auch der Gemeindeverwaltungen angewendet. Die Ergebnisse werden entsprechend der drei Handlungsbereiche des Reifegradmodells vorgestellt: Existenz einer Records Management Strategie für die Verwaltung, Vorgabe von Richtlinien, technologische Basis. Es zeigen sich insgesamt grosse Defizite. Alessia Bottani untersucht deshalb anschliessend die Gründe dafür und leitet Vorschläge für Massnahmen ab, mit denen sich die Situation in Zukunft verbessern liesse. Der Zeitpunkt für Massnahmen erscheint der Autorin günstig, da der Kanton Tessin die digitale Transformation zu einer seiner Prioritäten erklärt hat.

FLORIAN CHRISTEN widmet sich in seiner Arbeit «Vom Projekt zum langfristigen Prozess? Perspektiven für das Crowdsourcing im Staatsarchiv des Kantons Zürich» der Rolle von Crowdsourcing in Archiven. Crowdsourcing kann beim Erschliessen von Archivalien und bei der Ergänzung von Metadaten helfen. Typischerweise erfolgt dies im Rahmen eines zeitlich befristeten Projekts. Je nach Situation kann es jedoch sinnvoll sein, Crowdsourcing als einen Prozess einzuführen, der zur fortdauernden Erschliessung und Qualitätsverbesserung eines Archivs beiträgt. Florian Christen untersucht, unter welchen Bedingungen es sich lohnen kann, Crowdsourcing langfristig in einem Archiv zu etablieren, und welche Faktoren es dabei zu berücksichtigen gilt. Anschliessend wendet der Autor die gewonnenen Erkenntnisse auf das Staatsarchiv des Kantons Zürich an, welches vor Kurzem Erfahrungen mit einem Crowdsourcing-Projekt sammeln konnte. Hierbei diskutiert Florian Christen, ob in dem Archiv eine Etablierung als Prozess sinnvoll ist und wie weit die Voraussetzungen dafür gegeben sind.

Archive sind zunehmend damit konfrontiert, Daten zu übernehmen, die digital entstanden sind und nicht nur eine Ergänzung analogen Materials darstellen. Das Ordnungssystem solcher rein digitalen Datenablieferungen ist eine über die Zeit gewachsene, nicht unbedingt wohl durchdachte Struktur und kann unter Umständen nur mit erheblichem Aufwand verstanden werden. LEONIE FRITZ schaut sich in ihrer Arbeit «Tools zur Übernahme digitaler Dateiablagen» Werkzeuge und zugehörige Workflows für die Übernahme solcher digitaler Ablieferungen an. Konkret untersucht sie die Tauglichkeit und Benutzerfreundlichkeit dreier Werkzeuge für die technische Analyse eines privaten digitalen Nachlasses. Dabei fliesst neben den rein technischen Aspekten, wie beispielsweise die Formatanalyse von Dateien oder das Erkennen von Duplikaten, auch die Betrachtung der begleitenden Arbeitsschritte ein. Leonie Fritz kommt in ihrem Fazit zu dem Schluss, dass eine Werkzeugunterstützung für die Übernahme digitaler Bestände unerlässlich ist. Noch bietet allerdings keines der untersuchten Werkzeuge für sich alle hierfür erforderlichen und wünschenswerten Funktionen.

Die Literatur zum Thema Archivverwaltung befasst sich vorwiegend mit Fragen des Managements und der Strategieentwicklung, aber kaum damit, wie das archivspezifische Arbeitswissen bewahrt und an neue Mitarbeitende weitergegeben werden kann. AGNÈS SOPHIE DUBLER widmet sich in ihrem Beitrag «Jenseits des Archivguts. Das eigene Wissen teilen können – Interne Wikis als Instrumente des Wissens- und Informationsmanagements in Archiven» diesem Thema und untersucht, wie sich Wissensmanagement in Archiven am besten aufsetzen lässt. Ihr Fokus liegt dabei auf dem Einsatz von Wikis als ein technisch einfach einzuführendes Werkzeug für die Externalisierung und Bewahrung von Wissen, das aber auch einen Dialog und somit die Weiterentwicklung von Wissen ermöglicht. Trotz dieser Vorteile von Wikis zeigt eine von der Autorin durchgeführte Umfrage, dass Wikis in Schweizer Archiven bislang noch kaum eingesetzt werden. Agnès Sophie Dubler rundet ihren Beitrag mit einem Leitfaden zur Konzipierung eines Wikis für einen Archivdienst ab und greift dabei auf ihre Erfahrungen mit der Konzeption eines Wikis für das Universitätsarchiv Fribourg zurück.

Die Kombination hermeneutischer Ansätze mit digitalen Methoden zur inhaltlichen Analyse von Texten ist Gegenstand der Arbeit von LUKAS HEINZMANN «Mönche, Schnee und Algorithmen – Eine Anwendung von Topic Modeling auf die Wetterbeobachtungen des Einsiedler Paters Joseph Dietrich (1645-1704)». Der Autor wendet einen Topic Modeling Ansatz zur Analyse von Wetterbeobachtungen an, die im Tagebuch eines Paters aus dem 17. Jahrhundert niedergeschrieben wurden. Topic Modeling ist ein algorithmisches Verfahren, das die in einem Text auftretenden Topics erkennt und ihr Auftreten über den Text hinweg sichtbar macht. Nach einem Überblick über verschiedene Anwendungen von Topic Modeling gibt Lukas Heinzmann eine detaillierte Beschreibung der Anwendung des Verfahrens auf Wetterbeobachtungen. Der Autor wertet verschiedene, im Tagebuch protokollierte Wetterphänomene nach Beobachtungsort und Jahreszeit aus und zeigt auch die Veränderung der Orthografie über den Aufzeichnungszeitraum hinweg auf. Er illustriert damit exemplarisch, wie algorithmische Analyseverfahren im geisteswissenschaftlichen Bereich eingesetzt werden können.

Die automatische Erkennung von Handschriften ist, ganz anders als die Erkennung gedruckten Textes, nach wie vor eine schwierige Aufgabe. CLAUDIA PFISTER beschreibt in ihrem Artikel «Der Stand der Handschriftenerkennung im ABD-Kontext» ihre Erfahrungen, die sie mit der Benutzung einer Software für Handschriftenerkennung zur Transkription einer Briefsammlung gemacht hat. Das Material stellt einige Herausforderungen an die Erkennungssoftware, da in den Briefen oft korrigiert wurde sowie Wörter gestrichen und Einfügungen zwischen den Zeilen vorgenommen wurden. Die Autorin testet zunächst verschiedene, für die benutzte Software vordefinierte Modelle und fährt mit den besten Modellen weiter. Die manuelle Transkriptionsarbeit wird durch Verwendung der Software leicht beschleunigt. Die Fehlerraten sind recht hoch, doch ist die erreichte Erkennungsqualität gut genug, um zum Beispiel Keywords in den Texten zu erkennen. Zum Schluss untersucht die Autorin, um wieviel sich die Erkennungsqualität erhöhen lässt, wenn man ein Modell verwendet, das speziell auf einem Sample des zu transkribierenden Materials trainiert wurde – ohne dafür zu viele Trainingsdaten bereitstellen zu müssen.

JEAN-PIERRE GRETER widmet sich in seinem Artikel «Leistungsvereinbarungen, ein probates Mittel zur Förderung von GLAM-Institutionen?» der Fragestellung, inwieweit Kulturförderung mit Hilfe von Leistungsvereinbarungen sinnvoll gestaltet werden kann. Der Begriff Leistungsvereinbarung meint hier Verträge zwischen staatlichen Förderstellen und Organisationen, die kulturelle Angebote zur Verfügung stellen. Der Ansatz, mit Hilfe von Leistungsvereinbarungen Kulturförderung zu betreiben, ist eng verknüpft mit dem Konzept der wirkungsorientierten Verwaltungsführung. Die Förderung eines kulturellen Angebots wird dabei vertraglich an Leistungsindikatoren gebunden. Jean-Pierre Greter erläutert in seinem Beitrag zunächst die Grundlagen der schweizerischen Kulturpolitik sowie die normativen Anforderungen an Leistungsvereinbarungen. Anschliessend stellt der Autor mehrere konkrete Beispiele für Leistungsvereinbarungen von GLAM-Institutionen vor und zeigt dabei sehr anschaulich, wie unterschiedlich diese aussehen können. Zum Schluss des Beitrags diskutiert der Autor die Praxistauglichkeit von Leistungsvereinbarungen für die Kulturförderung und setzt sich kritisch mit den Nachteilen und Gefahren eines solchen Förderungsansatzes auseinander.