Dass das Themenspektrum der Abschlussarbeiten aus dem CAS/MAS ALIS, die in “Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis” veröffentlicht werden, sehr breit ist, ist schon fast ein Gemeinplatz. Neben klassisch archivwissenschaftlichen Arbeiten zur Bewertung oder zum Umgang mit Altbeständen stehen in dieser Ausgabe aktuelle Fragestellungen wie der Umgang mit sehr lange aktivem Schriftgut unter den Vorzeichen der digitalen Transformation oder postkoloniale Fragen. Finanzierungsmodelle und Inklusion werden ebenfalls verhandelt. Die dieses Mal weniger zahlreich vertretenen bibliothekswissenschaftlichen Arbeiten fokussieren auf die Weiterentwicklung von Angeboten in Bibliotheken unterschiedlichster Art. Staatliche Archive, Universitätsbibliotheken, Gemeindearchive, private Institutionen und andere sind die Objekte der Untersuchungen.
Eröffnet wird der Reigen der Abschlussarbeiten mit einem Beitrag, der die “archivische Schwelle” ins Zentrum stellt. PETER ROTH, Betreuer der Privatarchive im Staatsarchiv St. Gallen, fragt in seinem Artikel Jenseits der Schwelle (?) - Archivische Sicherung in den Kantonen St. Gallen, Basel-Stadt, Zürich und Wallis zwischen Theorie, Recht und Praxis nach Bedeutung und konkretem Status dieser in der Theorie wichtigen und für die Archive konstitutiven Abgrenzung zwischen Verwaltungsschriftgut und Archivgut. Zwei wichtige archivwissenschaftliche Theorien, der Postkustodialismus gemäss F. Gerald Ham und das Records Continuum Model aus Australien, haben im späten 20. Jahrhundert diese Schwelle in Frage gestellt, Argumente für ihre Durchlässigkeit formuliert und ein verstärktes Engagement von Archivarinnen und Archivaren in der aktiven und semi-aktiven Phase des Lebenszyklus gefordert. In der schweizerischen Fachdiskussion sind diese Überlegungen kaum explizit rezipiert worden.1 Wie Peter Roth aufzeigt, lassen sich aber viele konkrete Probleme und die relativ pragmatisch dafür gefundenen Lösungen im Licht von Postkustodialismus und Records Continuum interpretieren. Er analysiert dazu die Gesetzeslage und Umsetzungsrichtlinien in vier Schweizer Kantonen. Durch eine äusserst präzise Lektüre dieser gesetzlichen und reglementarischen Grundlagen arbeitet er die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen Praktiken heraus. Da sich die Frage der archivischen Sicherung im digitalen Bereich stärker und drängender stellt, ist sein Artikel auch eine Handreichung für den zukünftigen Umgang mit lange aktiv gebrauchten Daten und Unterlagen wie beispielsweise Registerdaten.
In die gleiche Richtung geht der Beitrag von LEA HEIL, Archivarin beim Amt für Städtebau & Architektur im Bau- und Verkehrsdepartement Basel-Stadt. Sie fokussiert auf einen bestimmten Unterlagentypus, nämlich auf die Bewertung von Baudossiers aus behördlicher und endarchivischer Perspektive. An Unterlagen zu öffentlichen Bauten zeigt sich geradezu exemplarisch der Interessenskonflikt zwischen federführender Stelle und zuständigem Endarchiv: Solange das Gebäude steht, bleibt der Primärwert der Unterlagen im Vordergrund. Die zuständige Stelle greift regelmässig auf die Dokumentation zu und hat ein Interesse daran, diese möglichst zu behalten. Gleichzeitig ist der archivische Wert von Baudossiers hoch. Lea Heil analysiert präzise die möglichen Bewertungskriterien sowie vier Bewertungsmethoden aus der Fachliteratur. Das Beispiel Basel-Stadt zeigt, dass pragmatische Lösungen gefunden werden können, aber auch, dass die betroffenen Aktenbildner mit der Schaffung eigener Archivarsstellen gewissermassen in Vorleistung gehen.
Weiterhin im Bereich der öffentlichen Archive, aber auf Ebene der Gemeinden, füllt ATHIRA KASHAMKATTIL, Projektleiterin bei der fokus AG für Wissen und Organisation, eine Forschungslücke. Praxisberichte zur digitalen Archivierung sind ganz grundsätzlich selten; aus den notorisch unterbetreuten Gemeindearchiven kommt aber so gut wie gar keine Publikation. In Strategien zur digitalen Archivierung in Kommunalarchiven in der Schweiz leistet die Autorin einen Beitrag dazu, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Sie erläutert zunächst die Herausforderungen der Gemeindearchive in personeller, finanzieller und politischer Hinsicht. Im Hauptteil ihres Artikels entwickelt sie vier Szenarien, welche Gemeindearchive bei der Archivierung digitaler Unterlagen verfolgen könnten. Keines davon ist ein Patentrezept. Vielmehr erfordern die unterschiedlichen rechtlichen und Ressourcensituationen jeweils eine eigene Herangehensweise. Der Beitrag von Athira Kashamkattil liefert dazu eine Auslegeordnung, auf der die Gemeinden aufbauen können.
Mit dem Beitrag von STEPHANIE MOHLER, Leiterin Informationsdienstleistungen bei economiesuisse, wechseln wir von den öffentlichen Archiven zu den Archiven der privaten Wirtschaft. Deren Schicksal ist oft ungewiss oder in der Schwebe. Sofern ein Unternehmen nicht ein eigenes historisches Archiv unterhält (was die wenigsten tun), muss eine andere Institution einspringen, damit die Überlieferung gesichert werden kann. Aus zwei der wichtigsten überregionalen Archive mit Firmenbeständen in der Schweiz kommen die Fallbeispiele in Finanzierungsmodelle für die Übernahme von Archiven der privaten Wirtschaft am Beispiel des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs und des Archivs für Zeitgeschichte. Stephanie Mohler stellt die Archivierung von Firmenarchiven als Gemeinschaftswerk zwischen öffentlichen und privaten Institutionen dar. Die Finanzierung muss von Fall zu Fall geregelt werden. Innovative Modelle wie Public-Private-Partnership oder Crowdfunding sind hier besonders vielversprechend.
Das Thema der kulturellen Integration erscheint zum ersten Mal in den Spalten der “Informationswissenschaft”. SALOMÉ NÄF, Archivarin bei den Archives historiques de Nestlé, beschäftigt sich in ihrem Artikel mit Inclusion culturelle et accès à l’information; der Untertitel präzisiert die Stossrichtung: Accessibilité des archives, bibliothèques et musées de Suisse romande aux personnes en situation de handicap. Das inzwischen zwanzigjährige Behindertengleichstellungsgesetz sowie die Behindertenrechtskonvention der UNO, der die Schweiz 2014 beigetreten ist, verlangen unmissverständlich den Abbau der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen. Dass dies immer noch nicht flächendeckend geschehen ist, wird bei genauerem Hinschauen unschwer deutlich. Gerade GLAM-Institutionen, die den Zugang zu Informationen für die gesamte Bevölkerung als Kern ihrer Mission postulieren, sind in dieser Hinsicht besonders gefordert und sollten als Leuchttürme fungieren. Salomé Näf listet zunächst fünf Handlungsfelder auf, in denen sich Zugänglichkeit manifestiert. Eine Umfrage bei Kulturinstitutionen in der Westschweiz erlaubt zum ersten Mal eine Gesamteinschätzung der Situation und der Handlungsbedarfe. Zum Schluss liefert ein ausführliches Interview mit der Bibliothèque de Vevey ein Praxisbeispiel, anhand dessen verschiedene Massnahmen diskutiert und analysiert werden können.
Ebenfalls um den Zugang zu und die Zugänglichkeit von institutionellen Sammlungen geht es im letzten Beitrag des ersten Teils dieser Ausgabe. MAËL GOARZIN, wissenschaftlicher Bibliothekar an der Bibliothèque cantonale et universitaire de Lausanne, befasst sich mit der Médiation culturelle et mise en valeur des collections sur le site Unithèque de la BCU Lausanne. Der in der Schweiz praktisch einzigartige Kontext des Universitätscampus Dorigny in Lausanne erfordert eine eigene ganzheitliche Herangehensweise an die Kulturvermittlung der Universitätsbibliothek. Konkret gilt es, sich im Wechselspiel mit dem Service Culture et Médiation Scientifique der Université de Lausanne sowie mit weiteren universitären Akteuren zu positionieren und gleichzeitig von den Synergien zu profitieren, die die gemeinsame Präsenz auf dem Campus ermöglicht. Entsprechend skizziert Maël Goarzin zunächst diese Landschaft, bevor er die Ziele der BCUL und mögliche, aus der Literatur entnommene theoretische Ansätze diskutiert. Die konkrete Umsetzung führt dann wieder über Partnerschaften auf dem Campus, mit der universitären Gemeinschaft, Studierenden und ihren Vereinigungen, Dozierenden und anderen. Eine Zusammenstellung dessen, was dies für die Bibliothek in Sachen Ressourcen, Raumbedarf und personelle Kompetenzen bedeutet, schliesst den Artikel ab.
Die Artikel im ersten Teil dieser Ausgabe schliessen an die archiv-, bibliotheks- und informationswissenschaftliche Forschung und Diskussion an und machen sie in den schweizerischen institutionellen Kontexten fruchtbar. Die enge Verzahnung von Theorie und Praxis, die den MAS ALIS auszeichnet, wird hier in exemplarischer Weise sichtbar.