Einleitung Teil 2

Die Welt im Archiv und der Mensch im Zentrum: Klassische Hilfswissenschaften sind nicht von gestern ‒ Archivarbeit ist politisch ‒ Überlieferungsbildung als Strategie für die Zukunft

Gaby Knoch-Mund

Archive bilden die Welt ab. Informationen unterschiedlichster Art und Provenienz – von Behörden und Verwaltungen sowie von privaten Aktenbildnern – sind die Grundlagen der Archivbestände, ganz unabhängig von Form, Format und Alter der verwahrten und zukünftig zu erhaltenden Unterlagen. Archive spiegeln Herrschaftsverhältnisse und politische Systeme, zu denen spätere Generationen in einem kritischen Verhältnis stehen mögen. Aufgabe von Archivar:innen ist es nicht in erster Linie – auch wenn dies manche Mitarbeitende bedauern mögen – diese Quellen zu interpretieren, sondern es ist ihre Aufgabe, diese langfristig zu erhalten, sie so zu beschreiben, damit eine Kontextualisierung möglich ist, und Grundlagen zu schaffen, dass Aktenproduzent:innen ihren Dienst an der Allgemeinheit und der Demokratie möglichst gut erfüllen können. Dazu gehören eine gute Allgemeinbildung und Ausbildung sowie Spezialkenntnisse: Hilfs- und andere historische Wissenschaften, Kultur- und Politikwissenschaft, Informatik und Management usw. Diese Anforderungen sind selten in einer einzigen Person vereint und müssen es auch nicht sein. Durch eine geschickte Anstellungspolitik oder überinstitutionelle Zusammenarbeit sind gute Resultate möglich.

Die Arbeiten, die hier vorgestellt werden, sind Beispiele für die unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen und Erstausbildungen der Absolvent:innen des CAS/MAS ALIS und die grosse Breite ihrer Interessen und beruflichen Schwerpunkte. Arnaud Meilland, Mediävist und Archivar mit eigener Firma, Bureau Clio Sàrl, Martigny, stellt fundiert die Frage nach der Rolle der klassischen Hilfswissenschaften in den Archiven und präsentiert eine empirische Analyse der Altbestände der Staatsarchive der Romandie und anderer ausgewählter Institutionen der Westschweiz. Daniele Testori, Archivar und Records Manager bei der Direction générale des immeubles et du patrimoine (DGIP) des Kantons Waadt, Lausanne, untersucht Adoptionen aus dem Ausland und den grundlegenden Wandel der Politik in ihrem Verhältnis zu adoptierten Menschen, die Anspruch auf Informationen zu ihrer Herkunft haben. Das Thema Adoption von Kindern aus der Schweiz und dem Ausland wurde nach der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen und dem Fürsorgerischen Freiheitsentzug zu einem brennenden Thema in Politik und Archiv. Ebenso neu und Teil des politischen Diskurses ist die Arbeit von Heidi Brunner, wissenschaftliche Archivarin der Basler Afrika Bibliographien, Basel, über ein fotohistorisches Thema. Sie untersucht Fotografien auf ihre koloniale Herkunft und Darstellung hin und fordert eine ausgeweitete ethische Basierung der Arbeit in Archiven. Alexei Kulazhanka, wissenschaftlicher Archivar und Projektleiter bei archivsuisse, Kehrsatz, beschäftigte sich mit ABD-Institutionen im Krieg am Beispiel des Ukrainekriegs. Der Überfall Russlands auf die Ukraine in 2022 und der langjährige Krieg gefährden Menschen, Natur, Wirtschaft und auch Gedächtnis- und Kulturinstitutionen. Taugen hier herkömmliche Notfall- und Katastrophenpläne? Der letzte hier vorgestellte Artikel von Georg Friedrich Heinzle, promovierter Mediävist und Co-Leiter Überlieferungsbildung im Staatsarchiv Graubünden, Chur, widmet sich seinem beruflichen Schwerpunkt Überlieferungsbildung auf einer strategischen Ebene. Es geht um die zentrale Aufgabe von Archivar:innen, das zukünftige Gedächtnis eines Archivsprengels zu bilden. In mehreren Schritten entwirft er ein strategisches und regelmässig zu evaluierendes Vorgehen.

Allen Artikeln ist gemeinsam, dass sie sich fundiert mit wissenschaftlichen und theoretischen Konzepten auseinandersetzen, aber dennoch die Gesellschaft und das Individuum ins Zentrum stellen. Die Texte zeugen von umfangreichen Spezialkenntnissen, die immer mit einem persönlichen Engagement verknüpft sind. So geht es bei allen Texten um die Welt im Archiv und den Menschen im Zentrum.

Klassische Hilfswissenschaften sind nicht von gestern

ARNAUD MEILLAND betitelt seine Masterarbeit und diesen Beitrag « Le traitement intellectuel des archives anciennes (grosso modo antérieures à 1850). État des lieux en Suisse romande, réflexion et perspectives » und wählt eine Kombination von sozialwissenschaftlich empirisch basierter Methodik und historischem Überblick. Er erstellt eine Übersicht über sogenannt alte Archive in öffentlichen Institutionen der französischsprachigen Schweiz – in den Staatsarchiven der Kantone Wallis, Waadt, Genf, Freiburg und Neuenburg sowie einer Spezialinstitution, den Archives de l’Ancien Évêché de Bâle in Pruntrut, und von zwei Universitätsbibliotheken mit reichen Sammlungen an Handschriften und Privatarchiven, der Bibliothèque cantonale et universitaire de Lausanne und der Bibliothèque de Genève. Meilland fragt danach, wer, wann und wie diese erstaunlich grossen, nicht, ungenügend oder teilweise fehlerhaft erschlossenen Bestände in öffentlichen Institutionen der Suisse romande bearbeiten könne. Die Erschliessungslücken sind so gross, dass sie nicht durch ein einziges Arbeitsleben oder eine spezialisierte Firma geschlossen werden können.
Ergänzend untersucht der Autor die Ausbildungs- und Anstellungssituation in den entsprechenden Kantonen und zeigt am Beispiel des Kantons Wallis auf, wer Lateinkurse am Gymnasium besucht und welche Qualifikationen in alten Sprachen und Paläographie Studierende, insbesondere Historiker:innen und Mediävist:innen, in ihrem Studium an der Universität Lausanne erwerben können. Er erstellt durch strukturierte Interviews einen Überblick, reflektiert die Ergebnisse, zeigt schliesslich Perspektiven auf und formuliert konkrete Vorschläge:

Meilland plädiert dafür, dieses Kulturerbe vergangener Zeiten nicht dem Vergessen anheim zu geben, kontinuierlich durch Fachleute zu erschliessen und zu erforschen und damit als Kulturgut zugänglich zu machen und ihm eine Zukunft zu geben – so wie das die Studienleitung des CAS/MAS ALIS in ihrem Entscheid für eine fachliche Partnerschaft im Bereich der historischen Hilfswissenschaften für 2025 gemacht hat. Es geht ihm – ganz im Gegensatz zu älteren Studien – nicht darum, den Verlust von Lateinkenntnissen, Paläographiewissen, historischer Bildung und Methodik sowie von anderen Kompetenzen zu beklagen, sondern in einer grossen Bestandsaufnahme zu zeigen, dass ‘alte Archive’ einen grossen und teilweise vernachlässigten Schatz bilden und durch Spezialist:innen erschlossen und einer wissenschaftlichen Community und einem grösseren Publikum zugänglich und vermittelt werden sollten. Er schlägt dazu die Schaffung eines Kuratoriums vor, so wie es dies im Bereich der Erschliessung von mittelalterlichen Handschriften in öffentlichen Bibliotheken der Schweiz schon lange gibt. Seine Erfahrung in Projektmanagement, archivischer Methodik sowie seine mediävistische Kompetenz könnten so einem Generationenprojekt von grossem Nutzen sein. Die Resultate sind aber auch von Interesse für die untersuchten Institutionen und können im Einzelfall für die Planung von Erschliessungsprojekten und zur Formulierung von Kompetenzen bei Neuanstellungen von qualifiziertem, unbefristet oder über eine längere Projektphase engagiertem Personal dienen. Das ältere Kulturerbe der Schweiz – in der vorgestellten Untersuchung vorerst auf die Romandie beschränkt – ist so bedeutend, dass es auch in einer digitalen Welt weitergenutzt, kontextualisiert und ausgewertet werden soll.

Archivarbeit ist politisch

DANIELE TESTORI verfasst seine Zertifikatsarbeit und diesen Artikel über « La gestion des dossiers de l’adoption internationale en Suisse : Quo vadis ? ». Fremdplatzierungen, Verdingkinder und Fürsorgerischer Freiheitsentzug sind Themen, die in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurden und durch aufwändige Archivprojekte und wissenschaftliche Forschung teilweise aufgearbeitet sind. Unsere Gesellschaft steht heute anders zu dieser sehr schwierigen Geschichte und kann das frühere Handeln von Staat, Gemeinden und ihren Exponenten nicht mehr gutheissen. Dem Individuum werden andere Rechte zuerkannt als noch vor wenigen Jahrzehnten, jeder Mensch hat Anrecht darauf, seine eigene Geschichte und Herkunft zu kennen. Darum erstaunt es nicht, dass nun Adoptionen im Allgemeinen und diejenigen aus dem Ausland, insbesondere aus Indien und Sri Lanka, in den Fokus kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft geraten sind, nachdem lange die Adoptiveltern besser geschützt wurden als die Adoptierten, die über ihre eigene Geschichte im Ungewissen gelassen wurden. Dies führte anfangs 2025 zum unterdessen durch den Nationalrat im Herbst 2025 wieder aufgehobenen Bundesbeschluss, Adoptionen aus dem Ausland, die v.a. in den 80er- und 90er-Jahren recht zahlreich geschahen und nach der Jahrtausendwende zurückgingen, generell zu verbieten.

Testori stellt nun die Frage, wie Personen auf der Suche nach der eigenen Herkunft unterstützt werden können, welche Grundlagen dazu die Archive zur Verfügung stellen müssen und wie die Archivmitarbeitenden Menschen in diesem emotionalen Kontext adäquat begleiten können. Besonders herausfordernd ist, dass im Adoptionsprozess mehrere Stellen und Ämter beteiligt sind, und es keine interkantonal verbindlichen Standards und Regelungen zur Führung der Adoptionsdossiers gibt, dass die Suche nach der eigenen Herkunft oft mit grossem zeitlichen Abstand zur Adoption beginnt und in den Institutionen durch Personen begleitet werden muss, die keine sozialpsychologische Ausbildung haben. Es geht also um juristische, administrative und psychologische Aspekte und darum, von den Erfahrungen mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und ausserfamiliärer Platzierung zu lernen, um ein Modell für den Umgang mit dem Thema Adoption im Archiv zu entwickeln. Der Autor untersucht dazu drei grundsätzliche Fragen: Die Adoptionsdossiers und die Bedürfnisse der betroffenen Personen; die Dossierführung während des ganzen Lebenszyklus der Unterlagen, Schutzfristen und Entscheid über die definitive Archivierung; Fragen der Vermittlung dieser Dossiers und die Herausforderungen ihrer Nutzung. Es geht bei Testoris Vorgehensvorschlägen letztlich auch darum, Ungleichheiten in der Behandlung von Antragsteller:innen auf Einsicht zu vermeiden und bei einer zunehmenden Bedeutung dieser Unterlagen zur eigenen Biographie, sogenannten Ego-Dokumenten, zu wissen, was eine Konsultation auf Seiten der Einsichtnehmenden und der Vermittelnden auslösen kann. Der Verfasser zeigt damit auf, dass Archivarbeit auch Beziehungsarbeit ist.

HEIDI BRUNNER schreibt in ihrer Zertifikatsarbeit und in diesem Artikel über «Koloniale Bildwelten und archivethische Verantwortung im digitalen Raum». Sie fokussiert auf Fotobestände, die in einem kolonialen Kontext entstanden sind oder die sie als koloniale Fotografien bezeichnet.

Wenn es um die Online-Stellung bzw. die Veröffentlichung von Fotobeständen geht, haben Archivar:innen heute nicht nur die Urheberrechte der Fotograf:innen zu respektieren, sondern auch Verantwortung gegenüber weiteren Interessensgruppen wie den Fotografierten wahrzunehmen und die Situation potentieller Nutzer:innen der allgemeinen Gesellschaft einzubeziehen. Dies führt zu einer ethischen Haltung und einem – so abgegriffen der Begriff unterdessen schon geworden ist – «dekolonialen Bewusstsein», das für die Arbeit in Archiven und anderen Gedächtnisinstitutionen unterstützend wirksam werden kann.

Innovativ ist der Artikel in manchen Punkten: Die Autorin hebt die Vielschichtigkeit historischer Quellen hervor, weist darauf hin, dass die Nutzung des Online-Zugangs oder die «Perspektive der Postcolonial Digital Humanities» vor allem für die früher kolonialisierten Länder bedeutend sind und nicht nochmals veraltete Machtverhältnisse reproduzieren sollten. Die Autorin plädiert darum dafür, neben der Klärung technischer und rechtlicher Fragen auch ethische Überlegungen anzustellen, nicht zuletzt im Rahmen der Provenienzforschung, zu deren Objekten auch Fotografien werden können. Sie geht dabei multidisziplinär vor und integriert Geistes- und Kulturwissenschaften, Kunst- und Archivwissenschaft und bezieht sich auf eine Vielzahl von Theoriebildungen, die sich innerhalb der Critical Archival Studies verorten, und teilweise den «colonial gaze» beinhalten und das «Othering» fördern.

Fotografien werden in mannigfaltigen Beständen verwahrt, in Nachlässen, anderen Privatarchiven und Spezialbeständen, doch möchte die Autorin sie als «eigenständiges kulturelles Erbe» deuten. Sie führt damit die Diskussion aus der Museumswelt und teilweise aus dem Bereich der Bibliotheken im Archivkontext weiter und plädiert für eine «ethics of care», eine Ethik der Sorge, im Gegenüber von Archivar:in und Fotograf:in, Archivar:in und Fotografierten, Archivar:in und Online-Nutzer:in sowie von Archivar:in und Gesellschaft. Für ein neues strategisches Verhalten schlägt sie in Bezug auf den digitalen Zugang «Stewardship und Kollaboration» vor, fordert einen sorgfältigen Umgang mit dem Material beim «Kontextualisieren und Kuratieren», eine gute Kenntnis der internen Informatikgrundlagen, besonders für die Nachnutzung der Fotografien, und damit den Einsatz von Software, die auch auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten indigener Gemeinschaften ausgerichtet ist. Ebenso geht es um «Alternativen zu Online-Zugängen» und den «Institutionellen Austausch und Sensibilisierung». Die Leistung dieses Beitrags ist die breite theoretische Diskussion von Konzepten und die Anwendbarkeit in der Praxis, die auf ein plakatives Pro und Contra verzichtet und darum den Diskurs über und neue Herangehensweisen an das weltweite Kulturerbe in Bild und Text fördert.

ALEXEI KULAZHANKA schreibt in diesem Beitrag und zuvor in seiner Hausarbeit über «ABD-Institutionen der Ukraine im Krieg. Welche Schutzmassnahmen werden in einem Angriffskrieg angewendet, um Bestände vor der Vernichtung zu retten?». Ausgehend vom Überfall Russlands auf die Ukraine und dem seither andauernden Krieg beschrieb Kulazhanka in 2023 in seiner Hausarbeit den verheerenden Einfluss des Kriegs auf Gedächtnisinstitutionen. Mitte 2025 dauert der Krieg an, die Beobachtungen und Schlussfolgerungen des Autors haben immer noch Gültigkeit, auch wenn statistische Angaben und Beispiele nicht nachgeführt werden konnten. Dank seiner Kenntnisse der Geschichte Osteuropas und seiner Vielsprachigkeit zeichnet der Autor aber ein detailreiches Bild und führt den exemplarischen Fall weiter zu einer Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen von Notfallplänen. Er skizziert die Bedeutung internationaler Unterstützung für konkrete (Rettungs-)Massnahmen und die Widerstandsfähigkeit oder «Resilienz kultureller Einrichtungen im Katastrophenfall», dies immer im Blick auf eine Verallgemeinerungsmöglichkeit für andere politische Krisen.

Kulturerbe wird in kriegerischen Konflikten vermehrt gezielt angegriffen, zerstört oder gestohlen, teilweise um die Geschichte eines Landes anders zu schreiben. Zu fragen ist, ob dies u.a. durch angepasste Notfallpläne, die in erster Linie für Naturkatastrophen oder andere Risiken entworfen wurden, verhindert werden kann. Kulazhanka versucht trotz dieser Vorbehalte eine Adaption des Konzepts Notfallplan. Wichtig sei im Kriegsfall die Verbindung mit einem Evakuierungsplan, der mit reduziertem Personalbestand durchführbar sein sollte. Daraus leitet er konkrete «Schutzmassnahmen im Krieg» ab, an erster Stelle die Evakuation, danach das «Sichern» innerhalb der Institution oder präventive Massnahmen wie «Digitalisieren», wozu auch das «Backup des digitalen kulturellen Erbes» sowie die Sicherung im Ausland und die Archivierung von Webseiten gehören. Herausfordernd ist das Tempo, mit dem ein konventioneller Notfallplan aktualisiert und umgesetzt werden muss, und dies zeigt auch die Grenzen der Einsatzmöglichkeiten im Kriegsfall auf. Eine Zusammenarbeit zwischen dem betroffenen Staat, seinen Institutionen und «internationalen Hilfsangeboten» kann die Priorisierung der Handlungen unterstützen und dazu beitragen, dass neben den wichtigsten Elementen des kulturellen Erbes einer Nation auch die Bestände kleinerer Institutionen (teilweise) gerettet werden können.

Überlieferungsbildung als Strategie für die Zukunft

GEORG FRIEDRICH HEINZLE verfasste einen Artikel und seine Masterarbeit über «Grundsätze der staatlichen Überlieferungsbildung für das Staatsarchiv Graubünden». Das Staatsarchiv Graubünden liess seine Überlieferungsbildung im privaten und öffentlich-rechtlichen Bereich wie schon zuvor Erschliessung und Aspekte der Vermittlung durch Qualifikationsarbeiten analysieren. Heinzle macht dies fundiert auf der Basis der rechtlichen Grundlagen, der bisherigen Praxis und der Strategie für die nächsten Jahre und reduziert seine ursprünglich neun Grundsätze für diesen Beitrag auf sechs. Daraus entwickelt er systematisch und pragmatisch ein Vorgehen, um die archivische Kernkompetenz der staatlichen Überlieferungsbildung zu stärken.

Der Autor geht von der über Generationen massgeblichen Publikation von Theodore Schellenberg aus, die er mit den heutigen Konzepten der Cloud und einer prospektiven Grundhaltung kombiniert. Heinzle schildert die aktuelle Situation des Staatsarchivs Graubünden in einer knappen SWOT-Analyse, um danach Grundsatzpapiere der Archives cantonales vaudoises und des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen zum Vergleich hinzuzuziehen. Ziel ist es, anschliessend klare und prägnante Grundsätze zu formulieren: «Bewertungshoheit leben» auf der Basis rechtlicher Grundlagen. «Daten statt Worte» zu nennen, heisst, sich für ein pragmatisches Vorgehen einzusetzen und – wenn nötig – die Ansprüche in den Dienststellen etwas herunterzuschrauben. Zentral ist aber eine enge Zusammenarbeit mit den Aktenproduzenten unter dem Stichwort «Schwerpunkt Vorfeldarbeit», um die Informationsverwaltung gut zu unterstützen und damit im vorarchivischen Bereich einen Akzent setzen zu können. Sobald es um Bewertung geht, ergreift der Autor Partei für den Informationsgehalt der Unterlagen und nennt dies «Primat der Information». Es geht aber nicht ausschliesslich um das Abwägen zwischen Evidenz- und Informationswert, sondern durchaus um «schöpferische Eingriffe» (nach Frank M. Bischoff), beispielsweise bei der Darstellung von relationalen Datenbanken oder der Speicherung als RDF-Triples. Ziel ist es, das Archiv als «trusted institution» mit authentischen Informationen und signifikanten Eigenschaften zu positionieren. Wiederholt wird die Aussage, dass auch in einem gut aufgestellten und organisierten Archiv die Ressourcen limitiert sind. Darum heisst das fünfte Prinzip «Weniger ist mehr». Ob eine drastische Reduktion der definitiv zu archivierenden Unterlagen gleichermassen für digitale Unterlagen und grosse Datenmengen gilt, wird anhand der archivwissenschaftlichen Literatur und einer noch nicht definitiv festgelegten Praxis diskutiert.

Das Staatsarchiv Graubünden wird seine Prinzipien der Überlieferungsbildung, ihre Praktikabilität und die Resultate regelmässig überprüfen, nur so gelingt «Weiterentwicklung durch Evaluation»; dies erfolgt u.a. anhand des «Maturity Assessment für Appraisal in the AI Age» von InterPARES, wodurch der «Reifegrad» der Überlieferungsbildung bestimmt und Übernahmemengen definiert werden. Schliesslich dient eine einfache Tabelle dazu, Prioritäten zu erkennen und die gemachten Vorschläge rasch und kostengünstig umzusetzen. Wie der Sechspunkteplan sich in der Praxis bewährt, wie die Überlieferungsbildung zusammen mit der Strategie des Staatsarchivs Graubünden angewandt wurde und ob weitere Punkte zu definieren sind, wird die interne Evaluation in wenigen Jahren zeigen. Es ist zu wünschen, dass das hier vorgestellte Beispiel rezipiert wird, allenfalls Widerspruch provoziert, aber auch Schule macht in anderen kantonalen und kommunalen Archiven.

Die fünf, hier vorgestellten Artikel tragen bei zu einer theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit Konzepten und Beständen aus öffentlichen Archiven und Spezialinstitutionen. Sie zeigen nicht nur die Vielfalt der persönlichen Arbeitsgebiete und Interessenten der Absolvent:innen des neunten Studiengangs CAS/MAS ALIS 2022-2024 auf, sondern auch die inhaltliche und technologische Weiterentwicklung des Berufsfelds. Kernkompetenzen bleiben weiterhin wichtig, ohne diese ist die Arbeit in den Institutionen nicht möglich und leidet die Qualität der Überlieferung sowie deren Erschliessung, Zugang und Vermittlung. Doch wird das traditionelle Arbeiten herausgefordert durch das Geschehen ausserhalb der Archive. Politische Veränderungen und Krisen, neue Sichtweisen, eine retrospektiv und prospektiv erneuerte Weltsicht erfordern eine Überprüfung und manchmal auch eine Reorientierung des bisherigen Handelns, die Neuinterpretationen von Quellen und ihrer Provenienz und ein vorausschauendes Agieren in einem politisch unsicheren Kontext.

Die Autoren und Autorinnen mit ihren sorgfältig konzipierten Forschungsarbeiten zeigen ihre berufliche Kompetenz, ihre akademische Reflexionsfähigkeit und ihre Bereitschaft zur Weiterentwicklung der Praxis. Beweis sind ihre vielfältigen und anspruchsvollen Artikel und die Zukunftsfähigkeit des erfolgreichen und kontinuierlich zu erneuernden Weiterbildungsprogramms in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Universitäten Bern und Lausanne.