Jenseits der Schwelle (?)

Archivische Sicherung in den Kantonen St. Gallen, Basel-Stadt, Zürich und Wallis zwischen Theorie, Recht und Praxis

Peter Roth

Archive engagieren sich heute auf vielfältige Art und Weise auch jenseits der «archivischen Schwelle», etwa als Fachorgane im Bereich Aktenführung oder bei der Vermittlung ihrer Bestände. Fallweise kann es auch zu Herausforderungen bei der archivischen Sicherung von Unterlagen kommen, die während längerer Zeit von Dienststellen benötigt werden oder aufgrund rechtlicher Bestimmungen mit längerfristigen Aufbewahrungsfristen belegt sind. Unter dem Paradigma des «Postkustodialismus» hat sich auch die archivtheoretische Diskussion mit der Frage beschäftigt, ob und wie im Zeitalter von (zunehmend elektronischen) Massenakten eine Archivpraxis «jenseits der Schwelle» aussehen könnte.
Dieser Artikel geht anhand der rechtlichen Grundlagen und des mündlichen und schriftlichen Austauschs mit Staats- und «Amtsarchiven» der Frage nach, wie sich die diesbezügliche archivische Sicherung in den Kantonen St. Gallen, Basel-Stadt, Zürich und Wallis zwischen Theorie, Recht und Praxis gestaltet. Dabei zeigt sich, dass Archive als Orte des Zugangs zur Überlieferung keineswegs grundsätzlich an Bedeutung eingebüsst haben. Vielmehr müssen die bewährten Grundsätze archivischer Überlieferungsbildung in gewissen Fällen immer wieder neuen Gegebenheiten angepasst werden, ohne dabei das übergeordnete Ziel der Sicherstellung einer authentischen, integren und zugänglichen Überlieferung aus den Augen zu verlieren.

Les centres d’archives s'investissent aujourd'hui de diverses manières au-delà du « seuil archivistique », par exemple en tant qu'organes spécialisés dans la gestion des dossiers ou dans la communication des fonds d’archives. Dans certains cas, l’archivage de documents dont les services ont besoin sur le long terme, ou qui sont soumis à des délais de conservation prolongés en raison de dispositions légales, peut également constituer un défi. Sous le paradigme du « post-custodialisme », le débat théorique sur l'archivage s'est également penché sur la question des formes que peut revêtir une pratique archivistique « au-delà du seuil », à l'ère de la pléthore documentaire de plus en plus électronique.
En se fondant sur les bases juridiques et sur des échanges oraux et écrits avec des Archives d'État et des unités d’archives au sein de l’administration, cet article examine comment l’archivage s'organise entre théorie, droit et pratique dans les cantons de Saint-Gall, Bâle-Ville, Zurich et du Valais. Il en ressort que les archives n'ont en aucun cas perdu de leur importance en tant que lieu d'accès aux sources. Toutefois, les principes éprouvés de la constitution des fonds d’archives doivent être adaptés aux circonstances nouvelles, sans pour autant perdre de vue l'objectif supérieur de garantir une transmission authentique, intègre et accessible.

These days archives are involved in a variety of ways beyond the "archival threshold", for example as specialised bodies in the field of records management or in making collections accessible. In some cases, there may also be challenges in the archival preservation of documents that are required by public authorities for a longer period of time or are subject to longer retention periods due to legal provisions. According to the paradigm of "post-custodialism", the archival theory debate has also addressed the question of what an archival practice "beyond the threshold" could look like in the age of (increasingly electronic) records. The article draws on the legal foundations and the oral and written exchange with state and public authority archives to examine the question of how the respective archival preservation is organised in the cantons of St. Gallen, Basel-Stadt, Zurich and Valais at the nexus between theory, law and practice. It shows that archives have by no means lost their fundamental importance as places of access to a country’s documentary heritage. Rather, the tried and tested principles of the formation of a documentary heritage must in certain cases be continually adapted to new circumstances without losing sight of the overriding goal, i.e. ensuring the formation of an authentic, integral and accessible documentary heritage.

Einleitung

Staatliche Archive bewerten, erschliessen, bewahren und vermitteln die von der Verwaltung nicht mehr benötigten Unterlagen. Die "Verwandlung" der (Geschäfts-)Unterlagen, die von einer Dienststelle bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erstellt werden und primär der Erfüllung dieses Primärzweckes dienen, in eigentliches Archivgut wird im Lebenszyklus-Modell als geregelter (und regelbarer) Prozess beschrieben, an dessen Endpunkt die Vernichtung oder Archivierung steht. Der Punkt dieses Übergangs vom «blossen» Dokument zum authentischen Träger von (dauerhafter) Beweiskraft und einer potentiellen Quelle kollektiver Erinnerung ist bereits lange vor der Entstehung des Archivwesens der modernen Nationalstaaten als «Schwelle» des Archivs («archii limes»)1 bezeichnet worden. Während sich die ältere Archivwissenschaft, v.a. in den Arbeiten von Hilary Jenkinson, noch ganz der Ansicht verschrieben hatte, dass die Übernahme von Schriftgut in die hinter dieser Schwelle liegende «custody» der Archive deren Hauptfunktion darstelle, bildeten die enorme Ausweitung der Aktenproduktion in der Nachkriegszeit sowie die zunehmende Ausbreitung elektronischer Arbeitsmittel in der Verwaltung den Ausgangspunkt einer Debatte, die unter dem Oberbegriff des «Post-custodialism» (dt. «Postkustodialismus»)2 eine Neuorientierung der Archive «jenseits der Schwelle» forderte. Extremere Ausformungen des Postkustodialismus haben v.a. in den 1990ern bezüglich der Sicherung elektronischer Unterlagen die Notwendigkeit des Überschreitens der archivischen Schwelle und damit die Bedeutung des Archivs als physischem Ort der Verwahrung einer authentischen und integren Überlieferung (und folglich auch der Schwelle an sich) überhaupt in Frage gestellt. Damit lässt sich der Titel der vorliegenden Arbeit auch als Frage verstehen: Wie relevant ist die Schwelle des Archivs bzw. deren Überschreitung im Prozess der archivischen Sicherung heutzutage überhaupt noch?3

Abseits dieser Theoriediskussion war die gewissermassen beidseitige Durchlässigkeit der archivischen Schwelle in der Praxis, wie etwa das Beispiel des Staatsarchivs St. Gallen zeigt, frühestens seit den 1950er-Jahren ein Thema – konkret mit der zunehmenden, teils schmerzhaft gemachten Erkenntnis, dass der Übergang des Massenschriftguts in eine öffentlich nutzbare historische Überlieferung nur gewährleistet werden kann, wenn das archivische «Vorfeld» weit über die Schwelle hinaus auch in die Verwaltung ausgedehnt wird.4 Doch auch gewissermassen «nach innen» hat sich der Status der Schwelle mit der Zeit verändert: So verstehen sich heute immer mehr staatliche Archive nicht mehr nur als Dienstleister für die Verwaltung (Zwischenarchive), sondern (auch) als öffentlich orientierte Institutionen im Dienste der demokratischen Kontrolle der staatlichen Organe.

Der folgende Artikel ist eine gekürzte5 Version der 2024 abgeschlossenen Masterarbeit. Nach einem kurzen Überblick über die der Untersuchung zugrundeliegenden theoretischen Konzepte werden in vier Kapiteln die Ergebnisse aus der Untersuchung der Fallbeispiele St. Gallen, Basel-Stadt, Zürich und Wallis vorgestellt.

Postkustodialismus und Records Continuum: Zwei Theorien zur zukünftigen Rolle der archivischen Schwelle

Begriff und Konzept des «Postkustodialismus» gehen auf den amerikanischen Archivar F. Gerald Ham zurück, der 1980 in einem Vortrag vor der Society of American Archivists argumentierte, dass revolutionäre Entwicklungen in der Informationsbearbeitung und die massenhafte Aktenproduktion «[are] pushing us into a new period in archival history, a period I call the post-custodial era7 Damit sollte keineswegs die Bedeutung der archivischen «custody» verneint oder gar ein «laissez-faire» in der Überlieferungsbildung gefordert werden. Vielmehr ging es um den Hinweis, dass der in der Vergangenheit besonders von Hilary Jenkinson vertretene Fokus auf den Archiven als weitgehend passiven «custodians» von Verwaltungsunterlagen, deren Ordnung und Bewertung in der alleinigen Kompetenz der Dienststellen liegen sollte, mit den aktuellen Herausforderungen nicht mehr Schritt zu halten vermöge. Die meisten der auf diesem umfassenden Verständnis von «Postkustodialismus» basierenden Forderungen sind, besonders aus heutiger Sicht, keineswegs revolutionär, sondern breit etablierte Praxis: So forderte Ham etwa, dass «[w]e must utilize the benefits of modern technology to provide easy and centralized access to increasingly complex and decentralized holdings» und «[w]e must deal with the impact of modern technology on the creation of information, and devise programs for its selective preservation and use».8 Dabei liesse sich aktuell etwa an die immer weiter verbreitete Online-Zugänglichkeit von Archiven (besonders in Gestalt der sogenannten «Virtuellen» bzw. «Digitalen Lesesälen») oder die intensiven Diskussionen um die Herausforderungen der digitalen Archivierung denken.

Damit soll keineswegs behauptet werden, dass die von Ham aufgeworfenen Fragen keinerlei Kontroversen provoziert hätten. So basierten etwa die mit den Arbeiten von David Bearman verknüpften Ansätze der «shared» bzw. «non custody» auf der Ansicht, dass die langfristige Sicherung elektronischer Unterlagen in einem Zentralarchiv nicht nur aufgrund des mangelnden technischen Wissens unmöglich, sondern auch gar nicht mehr nötig sei: «[I]f archives», so Bearman, «have intellectual control over the records that are deemed archival, it doesn’t matter much where records or users are.»8 Bearmans provokative Forderungen wurden von seinen Kritikerinnen und Kritikern (so etwa Margaret Hedstrom und Adrian Cunningham) nicht rundweg abgelehnt, allerdings dahingehend abgeschwächt, dass die Aufbewahrung bei der Dienststelle entweder eine Zwischenlösung darstellen oder als gleichberechtigte Option neben der Überführung in das Zentralarchiv stehen könne.

Grundsätzliche Kritik an Bearmans Ansatz übte hingegen Luciana Duranti: Die Authentizität von records hänge entscheidend von den drei Faktoren Transparenz (bzgl. «preservation» der records), Sicherheit und Stabilität ab, die aufgrund der verschiedenen Interessenlagen von Aktenbildnern und Archiv nur in letzterem sichergestellt werden könnten. Daher sei es «necessary that the record pass the archival threshold, the space beyond which no alteration or permutation is possible, and where every written act can be treated as evidence and memory.»12 An dieser Auffassung wurde u.a. kritisiert, dass sie wiederum allzu sehr auf den physischen Ort «Archiv» und dessen Bedeutung für die Gewährleitung von Authentizität fokussiert sei – stattdessen müsse darauf hingearbeitet werden, Garantien für Authentizität («archival bond») bereits vom Punkt der Entstehung der records an verankern zu können – in diesem Falle sei «the decision when or whether to perform a physical act of custodial transfer to an archives […] a minor administrative consideration, not a matter of central significance»13.

Das Records Continuum Model wurde erstmals 1996 vom australischen Archivar Frank Upward publiziert. Es greift die im Postkustodialismus aufgeworfene Frage nach der Bedeutung der archivischen Schwelle auf und denkt diese anhand des praktischen Umgangs mit records konsequent weiter. Anders als das «klassische», prozess- und hierarchie- bzw. ablageorientierte Lebenszyklusmodell und dessen diverse Spielarten11, fokussiert das wesentlich abstraktere Continuum-Konzept auf records als «logical objects, belonging to a special genre of recorded information made up of the documentary traces of social and organizational activity. They are accumulated and managed by recordkeeping and archiving processes as record, archive and archives.»15 Vereinfacht ausgedrückt: Das Continuum-Konzept unterscheidet nicht zwischen Unterlagen und (bewertetem) Archivgut – unabhängig von der «Verwandlung» auf der Archivschwelle vereinen records stets die vier Dimensionen trace, evidence, personal/corporate memory und collective memory.16 Durch die im Continuum-Konzept aufgehobene Unterscheidung zwischen Verwaltung/Records Management und Archiv/Archivierung (Bewertung, Erschliessung, Bewahrung, Vermittlung) soll sichergestellt werden, dass in sämtlichen Systemen und Situationen stets die Anforderungen beider Bereiche berücksichtigt werden.17

Obwohl als Gegenentwurf zum Lebenszyklusmodell gedacht, sind die Unterschiede zwischen den beiden Konzepten, gerade auch vor dem Hintergrund der heutigen, konkreten Schweizer Archivpraxis betrachtet, wesentlich weniger einschneidend, als es die ungewohnte Multidimensionalität des Records Continuum Models zunächst vermuten liesse.18 In diesem Zusammenhang besonders spannend ist eine von der australischen Informationswissenschaftlerin Viviane Frings‑Hessami 2019 in der Westschweiz durchgeführte Umfrage.16 Dabei stellt die Australierin zwar einerseits fest, dass bei den Befragten nur ein rudimentäres Verständnis des Continuum-Modells vorhanden sei und in Bezug auf die eigene Arbeit eher auf das Lebenszyklusmodell (bzw. dessen französische Ausprägung der «trois âges des archives»)17 verwiesen werde. Andererseits identifiziert Frings-Hessami in den Praxisberichten der Befragten Elemente, die sie zumindest als «continuum actions» bezeichnet24:

Die zitierten Beispiele bezeichnet Frings-Hessami als «continuum actions», weil die Befragten darin Handlungs- und Denkweisen zeigen, welche die Interessen der verschiedenen Stakeholder in den Dimensionen des Records Continuums von Anfang an berücksichtigen. Dies sei die «essence of the Records Continuum Model, which aims to ensure that records that all stakeholders will need in the short, medium and long terms are created, managed, preserved and made accessible to meet their needs without waiting until the records reach the end of their active use.»26 Die, wenn auch punktuellen, Westschweizer «continuum actions»

bring into recordkeeping practice a Records Continuum perspective that can help to meet the needs of multiple stakeholders within a life cycle framework. They facilitate the future work of archivists by providing them with ready to use information about the context of the records and aim to cater for the needs of various people who may want to access the records for various reasons. They help to embed the records in their societal context and to bring them into the fourth dimension of the Records Continuum.27

St. Gallen

Die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen im Kanton St. Gallen ist seit der Nachkriegszeit von der wachsenden Einsicht geprägt, dass im Interesse der archivischen Sicherung die «Schwelle» des Archivs zunehmend auch in die Verwaltung ausgedehnt werden muss. So hält u.a. der Regierungsratsbeschluss zum Erlass der Archivverordnung von 1984 fest:

In den vergangenen 30 Jahren haben sich im Bereich aller Archive beachtliche Veränderungen abgespielt. Das starke Anwachsen der öffentlichen Verwaltung und die damit verbundene Zunahme des Schriftgutes verlangen, dass die Archive früher und stärker als bisher Einfluss auf die Schriftgutverwaltung nehmen.22

Die neuerliche, umfassende Revision des Rechtsrahmens in den 2000er-Jahren (Gesetz über Aktenführung und Archivierung von 2011) war u.a. von den Erfahrungen mit der ab 1990 intensivierten Zwischenarchivpraxis geprägt. So wurden im Staatsarchiv zunehmend Kapazitäten für die Aufbewahrung von Unterlagen geschaffen, die entweder aufgrund rechtlicher Bestimmungen noch nicht vernichtet aber auch aus Platzgründen nicht mehr länger bei den Dienststellen gelagert werden konnten, oder deren Bearbeitung vom Staatsarchiv aufgrund mangelnder Ressourcen zurückgestellt werden musste. Das Zwischenarchiv sollte gewissermassen als zentral erbrachte Dienstleistung dazu beitragen, die bei den Dienststellen entstehenden Platzprobleme zu entschärfen und trotz Verzugs bei der Bearbeitung im Staatsarchiv nach wie vor Ablieferungen zu ermöglichen. In einem Bericht an das Departement des Innern wies das Staatsarchiv 1990 eindringlich darauf hin, dass die Platzreserven im Regierungsgebäude nahezu erschöpft seien – daher könne man «bis zur Bereitstellung eines Zwischenarchivs kein Material mehr übernehmen […], das einer Bearbeitung bedarf.»23 Die dem Staatsarchiv per Ende Jahr 1990 entsprechend zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten reichten allerdings bei weitem nicht aus – so stellte das Archiv bereits im Folgejahr ein weiteres «Raum- und Baubegehren», denn es sei aufgrund mehrerer bereits angemeldeter Grossablieferungen «absehbar, dass das Platzangebot im Zwischenarchiv bereits 1991 erschöpft sein wird.»24 1997 wurde das Zwischenarchiv um weitere Räumlichkeiten (Tresorraum der ehemaligen Kantonalbank, Palettenlager in St. Gallen-Winkeln) erweitert.25

Die Zwischenarchivpraxis wurde, wie oben bereits angedeutet, v.a. auch mit den Bedürfnissen der Verwaltung begründet:

Der Zweck des Zwischenarchivs besteht aber wesentlich auch darin, die Verwaltung von Schriftgut zu entlasten, das nicht dauernd, aber aus rechtlichen Gründen längerfristig aufzubewahren ist. […]

[M]it der Möglichkeit, das Zwischenarchiv des Staatsarchivs als Ablagemöglichkeit zu benützen, wird auch eine effiziente Schriftgutverwaltung in der Verwaltung erleichtert. Zugleich können aber auch die zahlreichen Archivräumlichkeiten der Verwaltung besser bewirtschaftet werden, was die Ansprüche nach zusätzlichem Archivraum verringern und deshalb längerfristig erhebliche Kosteneinsparungen bringen wird.26

In Kombination mit ungeplanten Grossablieferungen zu Beginn der 2000er-Jahre (z.B. der mit der Verfassungsrevision aufgelösten Bezirksämter)27 und mangelnden personellen Ressourcen führte dies schliesslich im Frühjahr 2003 zu einer endgültigen Erschöpfung der bereits in früheren Jahren (siehe oben) immer wieder knappen räumlichen Reserven des Staatsarchivs (ca. 3 km grösstenteils unbewertete Unterlagen) und einem infolgedessen verhängten generellen Ablieferungsstopp.

Die nach 2003 erfolgte Änderung der Sicherungspraxis beruhte v.a. auf einem starken Ausbau des Prinzips der prospektiven Bewertung. Das Staatsarchiv ging nun dazu über, für die einzelnen Aktenbildner umfassende Bewertungsmodelle zu erstellen, welche u.a. Geschichte, Organisation und Tätigkeit des jeweiligen Organs sowie die daraus entstehenden Unterlagen gesamthaft in den Blick nehmen. Auf der Grundlage einer horizontalen und vertikalen Bewertung (in Anlehnung an die Bewertungspraxis in Baden-Württemberg)28 sowie unter Einbezug archivwissenschaftlicher Fachliteratur und von bestehenden Bewertungsentscheiden anderer Archive wird mit dem Aktenbildner eine Archivierungsvereinbarung abgeschlossen, die im Einzelnen festhält, welche als archivwürdig beurteilten Unterlagen zu welchem Zeitpunkt dem Staatsarchiv abgeliefert werden sollen und ebenfalls diejenigen Akten bezeichnet, die nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist oder nach Ablauf der internen Gebrauchsdauer in Eigenregie von der Dienststelle vernichtet werden können.

Abb. 1. Schaubild zur Veranschaulichung des Bewertungsverfahrens im Staatsarchiv St. Gallen. Entnommen aus: Präsentation Bewertungsverfahren StASG für die Fachhochschule Graubünden von Martin Jäger (Stand: 2025)

Die Erfahrungen aus dieser «Totalrevision» der archivischen Sicherungspraxis (konkret die starke Ausweitung des archivischen «Vorfelds») flossen auch bei den Vorarbeiten zum heute gültigen Gesetz über Aktenführung und Archivierung (2011) sowie der dazugehörigen Verordnung (2019) mit ein. Entsprechend stellt die Gesetzesbotschaft die zentrale Bedeutung des Lebenszyklusmodells ins Zentrum:

Das Empfangen, Erstellen, Verwenden, Ablegen, Wiederauffinden, Vernichten und dauernde Archivieren von Unterlagen sind miteinander in Beziehung stehende Elemente des so genannten ‘Lebenszyklus’ von Informationen. Das Archivieren von Unterlagen wird sich – angesichts von Massenschriftgut und elektronischer Geschäftsverwaltung – nur dann erfolgreich gestalten lassen, wenn die dem Archiv vorgelagerten Arbeitsprozesse nach bestimmten Vorgaben praktiziert werden.29

Neben dem im Gegensatz zur früheren Zwischenarchivpraxis stehenden Wechsel von der Ablieferungs- zur Angebotspflicht hält die Gesetzesbotschaft ebenfalls fest, dass eine längerfristige Aufbewahrung von Unterlagen bei Dienststellen vermieden werden solle:

Ebenso gilt es zu verhindern, dass einzelne öffentliche Organe sich für die dauernde Aufbewahrung ihrer archivwürdigen Unterlagen, wenn diese ihren Primärzweck in der Geschäftsbearbeitung erfüllt haben, als zuständig erachten. Das birgt die Gefahr, dass insbesondere elektronische Akten den Archiven entzogen bleiben. Für eine fachgerechte, zeitlich unbefristete Archivierung verfügen die öffentlichen Organe weder über die erforderlichen fachlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen, noch können sie einen angemessenen Zugriff der Öffentlichkeit auf ihre Unterlagen gewährleisten. Ausserdem wird eine die einzelnen Behörden und Dienststellen übergreifende Überlieferungsbildung verunmöglicht. Eine dezentrale Archivierung zöge überdies erhebliche Kostenfolgen nach sich.30

Dennoch ist auch die Sicherungspraxis des Staatsarchivs St. Gallen fallweise mit Herausforderungen konfrontiert, die in den gesetzlichen Normen nicht im Einzelnen geregelt werden können.

3.1 Aus praktischen oder rechtlichen Gründen längerfristiger Verbleib bei der Dienststelle

3.1.1 Denkmalpflege/Kantonsarchäologie

Analog zur Situation in den übrigen Vergleichsbeispielen stellt die archivische Sicherung (im Sinne einer Übernahme durch das zuständige Archiv) v.a. der Kernüberlieferung aus den Bereichen Denkmalpflege (Baudokumentation) und Archäologie (Grabungsdokumentation) auch im Kanton St. Gallen ein bislang ungelöstes «Problem» dar. In diesen Fällen besteht aus Sicht der Dienststellen ein Konflikt zwischen der Gewährleistung einer effizienten, kontinuierlichen Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben dieser v.a. auch historisch forschenden Organe und der klaren Vorgabe der Verordnung zum Gesetz über Aktenführung und Archivierung (2019), dass Unterlagen, die älter als 50 Jahre sind, «ohne weiteres»31 dem jeweils zuständigen Archiv angeboten werden müssen. Im Falle der Denkmalpflege hält das Bewertungsmodell des Staatsarchivs fest, dass die Unterlagen zum Kerngeschäft aus historischen Gesichtspunkten integral als archivwürdig anzusehen seien, jedoch bei der Dienststelle verbleiben, solange sie von dieser zur Erfüllung ihrer Aufgaben noch benötigt werden.32 In der dazugehörigen Archivierungsvereinbarung wird im Sinne des Lebenszyklusmodells klar festgehalten, dass bis zum Zeitpunkt der Ablieferung die Verantwortung für Authentizität, Integrität und Vollständigkeit beim Aktenbildner liegt.33 Dieselbe Kombination aus voraussichtlich integraler Archivierung und bis auf weiteres «lokaler» Aufbewahrung bei der Dienstelle ist auch im Falle der Kantonsarchäologie vorgesehen34. Zu bemerken ist hierbei allerdings, dass im weiteren Kontext der Vorbereitung einer Ablieferung ans Staatsarchiv die Kantonsarchäologie aktuell bestrebt ist, die Aufbewahrungssituation am Dienststellensitz zu verbessern, ein allfälliges Digitalisierungsprojekt zu prüfen und nicht zuletzt die Ablage zu reorganisieren (abschliessbare Ereignisdossiers), wobei sie vom Staatsarchiv beratend begleitet wird.35

3.1.2 Universität St. Gallen

Für den Kanton St. Gallen ungewöhnlich36 stellt das aus Ressourcengründen37 eingerichtete, sogenannte «Universitätsarchiv» (im Rahmenvertrag zwischen dem Staatsarchiv und der HSG als «Archivfachstelle der Universität»38 bezeichnet) ein speziell geregeltes «Amtsarchiv» dar, das gewissermassen als eine Art Aussenstelle des Staatsarchivs fungiert, die vor Ort für Überlieferungsbildung, Erschliessung, Benutzung und Vermittlung sowie die Verwaltung des Zwischenarchivs zuständig ist (d.h. derjenigen Unterlagen, die noch nicht im Staatsarchiv als dem zuständigen Endarchiv magaziniert worden sind). Eine genaue Aufgabenabgrenzung zwischen dem Staatsarchiv und der 2005 eingerichteten Archivfachstelle wurde mit dem erstmaligen Abschluss eines Rahmenvertrages 2008 (2019 erneuert) vorgenommen. Der Rahmenvertrag regelt im Einzelnen u.a. die Finanzierung und organisatorische Stellung des «Universitätsarchivs» innerhalb der HSG, den Status des von der Archivfachstelle gebildeten Archivguts, grundsätzliche Modalitäten der Bewertung, Erschliessung und Benutzung sowie den Umgang mit elektronischen Unterlagen. Die Erschliessung durch die Mitarbeitenden der Archivfachstelle findet im AIS des Staatsarchivs statt; ebenso werden Digitalisate (teilweise)39 in dessen elektronischem Langzeitarchiv aufbewahrt.

3.2 Paradoxien der Digitalisierung

Während speziell die «Ortlosigkeit» und einfache Kopierbarkeit digitaler Daten neue Chancen und Möglichkeiten in der Übernahme und Vermittlung schaffen, stellt die zunehmende Digitalisierung der Verwaltung das Staatsarchiv aber auch vor bislang unbekannte Herausforderungen. So ermöglichte etwa erst die vollständige Digitalisierung der analogen Kartei der Abteilung Grundstückgewinnsteuer deren Ablieferung an das Staatsarchiv. Auch bei der dereinst geplanten Übernahme der Unterlagen der Kantonsarchäologie könnte ein Digitalisierungsprojekt eine wesentliche Rolle spielen.40 Besonders bei der archivischen Sicherung von Datenbanken müssen gewisse «althergebrachte» Praktiken, v.a. bezüglich der Aufbewahrungsfrist, überdacht werden. So zeigt etwa das Beispiel des ab 1978 elektronisch geführten Registers der Abteilung Juristische Personen des Steueramts die Gefahren, die mit einer langfristigen Aufbewahrung digitaler Daten bei Dienststellen verbunden sein können. Da die Daten aus den Jahren vor 1999 (entgegen anderslautender Zusagen) nur unvollständig in die Nachfolgesysteme übernommen worden waren, mussten diese im Staatsarchiv händisch aus einer alten Fachanwendung extrahiert und konvertiert werden. In den Folgejahren ging das Staatsarchiv dazu über, jährliche Datenbankauszüge zu übernehmen. Während es sich beim elektronischen Register der Abteilung Juristische Personen um ein Beispiel handelt, bei dem das mangelnde «praktische Interesse» der Dienststelle an der längerfristigen Aufbewahrung nicht mehr benötigter Daten eine Rolle spielt, wird in Zukunft zu überlegen sein, welche Lösungen für die Langzeitaufbewahrung elektronischer Unterlagen gefunden werden können, die aufgrund rechtlicher Bestimmungen oder längerfristiger Benutzung in der Dienststelle während einer längeren Zeitdauer aufbewahrt werden müssen. Auch wenn diese Problematik in sämtlichen befragten Archiven anerkannt wird, stellt das entsprechende Projekt der Staatskanzlei und des Staatsarchivs Basel-Stadt den am weitesten fortgeschrittenen Versuch zu einer Lösung dar. Im Staatsarchiv St. Gallen wäre ein ähnliches Vorgehen (zentral angebotene Dienstleistung) denkbar, allerdings sind hier aufgrund der nach wie vor laufenden Projektphase in Basel-Stadt noch keine konkreten Schritte unternommen worden – als übergeordnetes Ziel soll nach Möglichkeit verhindert werden, dass sich ein Flickenteppich an dezentralen Lösungen auf Dienststellenebene herausbildet.41 Obwohl die genaue Rolle, die das Staatsarchiv St. Gallen bei der Entwicklung einer entsprechenden Plattform spielen könnte, noch unklar ist, konnte in den letzten Jahren erreicht werden, dass das Archiv bei neuen IT-Projekten standardmässig mit einbezogen wird (sog. «Quality Gate Archiv»).42

Augenscheinliche Vorteile hat die Digitalisierung im Bereich Vermittlung. In Kombination mit der bereits seit mehreren Jahren verfolgten, konsequenten Digitalisierungsstrategie bieten sich dem Staatsarchiv St. Gallen mit dem 2022 in Betrieb genommenen Digitalen Lesesaal neue Möglichkeiten der Zugänglichmachung und Vermittlung besonders audiovisueller Unterlagen. Noch offen ist die Frage, ob der Digitale Lesesaal in Zukunft auch eine Rolle bei der Entlastung des Benutzungsdienstes im Bereich der Verwaltungsausleihen spielen wird. Entsprechende Funktionen (z.B. «Privilegien» für die aktenbildenden Dienststellen wie die Einsichtnahme in noch nicht veröffentlichte Metadaten oder gar der selbständige Bezug digitaler Primärdaten) sind zwar seit der Entwicklungsphase im Gespräch, allerdings zum Zeitpunkt der Abfassung der vorliegenden Arbeit noch nicht implementiert worden.43

Basel-Stadt

Die rechtlichen Grundlagen des baselstädtischen Archivwesens sind im Archivgesetz von 1996 sowie der «Registratur- und Archivierungsverordnung» von 1998 festgehalten. Im Gegensatz zum Gesetz über Aktenführung und Archivierung des Kantons St. Gallen (2011) sind dabei auch die sogenannte «Aufbewahrung im Auftrag» und die «Archivierung unter Aufsicht» vorgesehen. Zu Ersterem hält das Archivgesetz fest:

Das Staatsarchiv kann im Einvernehmen mit dem anbietenden öffentlichen Organ auch Unterlagen übernehmen, für die noch keine Anbietungspflicht besteht und über deren Archivwürdigkeit noch nicht entschieden worden ist. Bis zu diesem Entscheid bleibt das anbietende öffentliche Organ verantwortlich im Sinn von § 6 des Informations- und Datenschutzgesetzes.44

Der Ratschlag zum Archivgesetz begründet die Möglichkeit der Auftragsarchivierung folgendermassen: «Betriebliche Gründe, z.B. Platzverhältnisse bei der anbietenden Stelle oder ein bevorstehender Umbau verbunden mit Umzug in ein provisorisches Domizil, können diese sozusagen provisorische Archivierung nahelegen.»45 Allerdings räumt auch der Ratschlag ein, dass die Aufbewahrung im Staatsarchiv in Verbindung mit fortgesetzter Nutzung durch die Dienststelle aufgrund der dafür nötigen Ressourcen nur sparsam zum Einsatz kommen solle:

Dieses [das Staatsarchiv; Anm. des Verfassers] kann angesichts des Aufwandes für Ausleihe und vor allem des Bedarfs an Räumlichkeiten nur in begrenztem Masse Unterlagen im Auftrag archivieren. Die Benützungsmodalitäten sind klar zu regeln. Ausserdem dauert dieses Auftragsverhältnis nicht unbegrenzt. Nach einer Frist, die im Einzelfall festgelegt wird, fällt der definitive archivische Bewertungsentscheid.46

Die vor dem Hintergrund der zunehmenden digitalen Aktenproduktion erneut drängender werdende Frage, wie sich eine sichere Aufbewahrung auch längerfristig von Dienststellen benötigter elektronischer Unterlagen sicherstellen lässt, wird im Kanton Basel-Stadt aktuell im Rahmen des Projekts Langzeitaufbewahrung und Nutzbarhaltung bearbeitet.47

Die «Archivierung unter Aufsicht» wird vom Archivgesetz folgendermassen definiert:

Staatliches Archivgut kann aufgrund einer Vereinbarung ausnahmsweise bei einer anderen Stelle verwahrt werden, wenn die dauerhafte Erhaltung, die Benützbarkeit und der Schutz vor unbefugter Benützung im Sinne dieses Gesetzes gewährleistet sind. Die Archivierung steht unter der Aufsicht des Staatsarchivs.48

Der Ratschlag zum Archivgesetz begründet die Einführung der «Archivierung unter Aufsicht» v.a. mit zwei Argumenten: Einerseits könne es sich «als zweckmässig erweisen»49, dass «besondere Arten von Archivgut, z.B. […] ‘maschinenlesbare’ Datenträger […] von spezialisierten Stellen verwahrt»50 würden, andererseits müsse «die Möglichkeit bestehen, dass einzelne öffentliche Organe, vor allem aber diesen nach § 2 Absatz 1 Bst. C und Absatz 2 gleichgestellte Institutionen und Personen, ihr eigenes Archivgut verwahren.»51 Bezüglich der Aufsichtsfunktion des Staatsarchivs wird zusammenfassend festgehalten: «Es überwacht die Einhaltung der Auflagen und sorgt dafür, dass diese Archive uneingeschränkt Bestandteile des kantonalen Archivsystems bleiben.»52

Faktisch eine mit der «Archivierung unter Aufsicht» zumindest vergleichbare, wenn auch mit § 6 Absatz 4 Archivgesetz teilweise nur unvollständig fassbare, Situation herrscht im Kanton Basel-Stadt bezüglich der Grabungsdokumentation der Archäologischen Bodenforschung sowie der Baudokumentation bzw. des gesamten neueren Archivs der baselstädtischen Denkmalpflege, da in beiden Fällen zentrale Teile der (oder gar die ganze) Registratur seit Längerem bei der Dienststelle aufbewahrt werden.53 Als zwei der prominentesten Beispiele für im weitesten Sinne «historische» Dienststellen (d.h. sie produzieren selbst historische Forschungsdaten und tragen gleichzeitig massgeblich zu deren Aufbereitung und Vermittlung bei) stellen Archäologie und Denkmalpflege in allen für diese Arbeit untersuchten Kantonen insofern Sonderfälle dar, als dass die von ihnen produzierten Unterlagen (v.a. betreffend die jeweiligen Kernaufgaben Ausgrabungen bzw. Bauberatung) in der Regel bei den Dienststellen selbst aufbewahrt werden.

Im Falle der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt54 muss v.a. zwischen dem 2002 ins Staatsarchiv überführten «Administrativen Archiv»55 und der «bis auf weiteres»56 am Hauptstandort der Bodenforschung57 verbleibenden Grabungsdokumentation unterschieden werden. In der öffentlich zugänglichen Begründung wird darauf hingewiesen, dass die Grabungsdokumentation die «Kernüberlieferung»58 der Bodenforschung darstelle und gleichzeitig als «tägliches Arbeitsinstrument»59 genutzt werde. Die längerfristige Aufbewahrung durch die aktenproduzierende Dienststelle lasse sich rechtfertigen, «[d]a die Dokumentation alle Bedingungen für eine externe Archivierung erfüllt (inkl. dauerhafte Erhaltung, siehe auch Archivgesetz §6 Abs. 4)»60. Obwohl auf den Passus des Archivgesetzes Bezug genommen wird, der die in der Verordnung ausführlich geregelte «Archivierung unter Aufsicht» begründet, handelt es sich m.E. lediglich um eine sinngemässe Anwendung, indem die im Gesetz genannten, allgemeinen Rahmenbedingungen (dauerhafte Erhaltung, Benutzbarkeit und Schutz vor unbefugter Benutzung)61 gewissermassen sekundär als Rechtfertigung dafür herangezogen werden, die von der Bodenforschung für die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben nach wie vor benötigten Unterlagen auch längerfristig im «Amtsarchiv» zu belassen. Hingegen lässt sich in Anbetracht des Ratschlags zum Archivgesetz (siehe oben) und der Bestimmungen der Archivverordnung (insbesondere Entscheidbefugnis des Staatsarchivs bei Einsichtnahmen innerhalb der Schutzfrist)62 der Schluss ziehen, dass bei der «Archivierung unter Aufsicht» klar an eine Endarchivierung mit Bewertung durch und Übergang der Datenhoheit an das Staatsarchiv und nicht an eine blosse längerfristige Aufbewahrung bei einer aktenproduzierenden Dienststelle gedacht wird.63 Die Bodenforschung selbst beruft sich auf § 7 Abs. 1 Archivgesetz BS, der die Angebotspflicht auf die «nicht mehr benötigten» Unterlagen beschränkt (ohne dabei etwa eine «Deadline» festzulegen, wie es die Verordnung zum Gesetz über Aktenführung und Archivierung des Kantons St. Gallen tut64), sowie auf Bedenken bezüglich einfacher Zugänglichkeit und der «drohenden Bewertung» im Falle einer Ablieferung an das Staatsarchiv. Die oben beschriebene Situation beruht auf keiner schriftlichen Vereinbarung65 zwischen Bodenforschung und Staatsarchiv.

Ähnlich gelagert wie der Fall der Bodenforschung, wenn auch wesentlich komplexer, ist die weitgehend autonome Aufbewahrung bzw. (sinngemäss) Archivierung der Unterlagen der Denkmalpflege des Kantons Basel-Stadt. Zumindest teilweise gründet die heutige Situation auf einer 1994 (also noch vor dem Inkrafttreten des heute gültigen Archivgesetzes) geschlossenen mündlichen Vereinbarung zwischen der Denkmalpflege und dem Staatsarchiv bezüglich Dispensierung der Baudokumentation von der Anbietepflicht.66 Obwohl sich entsprechend v.a. auch bis in die 1990er-Jahre reichende administrative und Grundlagendokumente der Denkmalpflege im Staatsarchiv befinden67, wird der Umfang der «Eigenarchivierung» Stand heute wieder eher in einem umfassenden Sinne interpretiert68 (also sowohl administrative Unterlagen als auch die Überlieferung zu den Kernaufgaben wie Bauberatung und Bauforschung).

Die Basler Denkmalpflege ist ein illustratives Beispiel für die im Archivbereich möglichen Diskrepanzen zwischen Norm und Praxis – zumal sich in diesem Fall sozusagen auch zwei unterschiedliche Archivkonzeptionen gegenüberstehen: Während das Staatsarchiv die Denkmalpflege nicht als eigentliches Archiv, sondern lediglich als eine Dienststelle betrachtet, die ihre eigenen Unterlagen aufbewahrt69, versteht sich die Denkmalpflege aus praktischen Gründen (Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben) als eine Dienststelle, die gleichzeitig grösstenteils für die faktische Endarchivierung ihrer eigenen Unterlagen zuständig ist bzw. sein muss, wobei v.a. die «Furcht» vor einer Bewertung (insbesondere Sampling gemäss Evidenzwert) der Kernüberlieferung durch das Staatsarchiv sowie arbeitspraktische Argumente (möglichst rascher, unkomplizierter Zugriff vor Ort in der Dienststelle) im Vordergrund stehen.70 Darüber hinaus lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Denkmalpflege in einem gewissen Sinne durchaus «im archivischen Sinne handelt», indem etwa Geschäftsdossiers unmittelbar nach deren Abschluss der Benutzung durch Externe zur Verfügung gestellt werden und im Rahmen des IT-Projektes «monument.bs»71 ein eigenes Digitales Langzeitarchiv in Betrieb genommen wurde (docuteam cosmos), womit die Denkmalpflege als erste Dienststelle im Kanton Basel-Stadt in Eigenregie digitale Dossiers archivieren kann.72

Zürich

In seiner Weisung zum Zürcher Archivgesetz (1994) begründete der Regierungsrat dessen Einführung u.a. mit dem gewandelten Charakter der Archive, die früher «zur Hauptsache als Endablage für entbehrliche Verwaltungsakten» betrachtet worden seien, «welche nur gelegentlich durch Familienforscher und Lokalhistoriker benützt werden»73, sowie mit neuen technischen Entwicklungen und der massiven Zunahme der Aktenproduktion. Diese mache es nötig, «den Zufluss zu regeln und auf Wesentliches zu beschränken» und auf eine bessere Vernetzung von Aktenproduzenten und Archiven sowie von Archiven untereinander hinzuwirken. Darüber hinaus solle der Wechsel zum «Anbietungssystem» sicherstellen, dass «[d]ie Archive […] nicht mehr von den abliefernden Stellen nach deren Belieben mit Akten überschüttet» werden, sondern «letztlich bestimmen können, was wichtig genug ist, um archiviert zu werden und den Rest zurückzuweisen.»

Die Sicherungspraxis des Staatsarchivs Zürich legt grossen Wert auf die gegenseitige Abgrenzung der Verantwortlichkeiten der Dienststellen und des Staatsarchivs entlang des Lebenszyklus. Die Übernahme in das Staatsarchiv erfolgt erst dann, wenn die entsprechenden Unterlagen von der Verwaltung nicht mehr benötigt werden – und zwar grundsätzlich unabhängig von der Länge der Aufbewahrungsfrist. Damit verbunden ist das Ziel einer weitgehenden Entlastung des Staatsarchivs von den Bedürfnissen der laufenden Verwaltungstätigkeit, die mit einer Sicherung «auf Vorrat» verbunden wären (Platzbedarf, Verwaltungsausleihen). Auch im Umgang mit digitalen Daten wird die Einhaltung des Lebenszyklus-Modells betont: Die theoretische Ortlosigkeit und endlose Kopierbarkeit elektronischer Unterlagen dürfen nicht dazu führen, dass Rollen und Verantwortlichkeiten der Amtsstellen und des Staatsarchivs nicht mehr klar voneinander abgegrenzt oder Redundanzen in Kauf genommen werden – entsprechend wird bei der Endarchivierung bzw. Übernahme durch das Staatsarchiv auch deren Löschung bei der Dienststelle verlangt.74

Den eben beschriebenen Leitlinien entspricht auch die Tatsache, dass die in der Archivverordnung von 1998 noch vorgesehene (allerdings bereits seit den späten 1980ern praktizierte)75 sogenannte «Aufbewahrung im Auftrag»76 heute nicht mehr zu den Sicherungsstrategien des Staatsarchivs Zürich gehört. Die in § 13 der Archivverordnung des Kantons Zürich festgehaltene Bestimmung, die u.a. dabei helfen sollte, Platzprobleme bei den Dienststellen aufzufangen, lässt sich gewissermassen auch als eine Art «Verwaltungsdepositum» beschreiben:

Absatz 1: Das Staatsarchiv kann im Einvernehmen mit einem öffentlichen Organ Akten aufbewahren, für die noch keine Anbietungspflicht besteht und über deren Archivwürdigkeit noch nicht entschieden worden ist.
Absatz 2: Bis zur Übernahme in das Archivgut des Staatsarchivs bleibt das öffentliche Organ für den Datenschutz verantwortlich. Dem Staatsarchiv ist nur eine Bearbeitung im Hinblick auf künftige Archivierung erlaubt.

Sowohl hinsichtlich der «Laufzeit» (späte 1980er bis in die frühern 2000er-Jahre) als auch des räumlichen Entlastungsgedankens ist die «Aufbewahrung im Auftrag» durchaus mit der Zwischenarchivpraxis des Staatsarchivs St. Gallen vergleichbar. Während zumindest in St. Gallen das «Ende des Zwischenarchivs» v.a. auch durch die von den Dienststellen auf das Staatsarchiv abgewälzten Platzprobleme letztlich unumgänglich geworden ist, macht die Zürcher Archivverordnung klar, dass mit einer umfassenden Aufbewahrungspraxis in Archiven auch ganz prinzipielle Fragen und Probleme verbunden sind (Aufbewahrung noch nicht anbietepflichtiger bzw. sich noch in Gebrauch des öffentlichen Organs befindlicher Unterlagen – auch daher Unmöglichkeit der archivischen Bewertung geschweige denn der geregelten Zugänglichmachung gemäss Archivgesetz). Mehr oder weniger analog zu den St. Galler Zwischenarchiven wird mit der «Aufbewahrung im Auftrag» das archivische Vorfeld nicht etwa in die Verwaltung ausgedehnt, sondern zu einem Bestandteil des Endarchivs. Damit wird das Staatsarchiv, plakativ ausgedrückt, zumindest teilweise zu einer blossen räumlichen Erweiterung der Registratur – es kommt zu einer Bindung von Ressourcen, die nur mehr der Aufbewahrung im Dienste der Verwaltung anstatt der Erfüllung des archivischen Kernauftrags (Bewertung, Erschliessung, Bewahrung, Vermittlung) zugutekommen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die «Aufbewahrung im Auftrag», obwohl nach wie vor Teil der rechtsgültigen Archivverordnung, heute im Staatsarchiv Zürich nicht mehr praktiziert wird (dies auch angesichts der Tatsache, dass die dadurch «angehäuften» Zwischenarchive nach wie vor nicht vollständig abgearbeitet werden konnten)77.

Während also sowohl im Staatsarchiv Zürich als auch im Staatsarchiv St. Gallen die «alte», analoge Zwischenarchivpraxis zugunsten einer klaren Fokussierung auf das eigentliche Archivgut abgelöst wurde, werden die damit verbundenen allgemeinen Probleme vor dem Hintergrund der Frage nach der langfristigen Aufbewahrung elektronischer Verwaltungsunterlagen wohl zumindest teilweise erneut diskutiert werden (müssen). Im Kanton Zürich werden die Dienststellen zumindest grundsätzlich für die erhöhten konservatorischen Anforderungen digitaler Daten sensibilisiert – die Idee einer zentralen digitalen «ruhenden Ablage» (sprich: abgeschlossene digitale Geschäftsdossiers in der Aufbewahrungsfrist) ist dabei zumindest «andiskutiert», allerdings zum jetzigen Zeitpunkt zugunsten der elektronischen Archivierung zurückgestellt worden.78

Trotz der starken Gewichtung des Lebenszyklus bei der Überlieferungsbildung kommt es aber auch im Staatsarchiv Zürich (gewissermassen als Spiegelbild der längerfristigen Aufbewahrung von Verwaltungsgut bei einer Dienststelle) in gewissen Fällen zu Abweichungen, sprich: zur Übernahme von Verwaltungsunterlagen, die in der einen oder anderen Form noch in Gebrauch sind oder deren Aufbewahrungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Bei der Entscheidfindung steht dabei v.a. die Frage im Zentrum, als wie gross im jeweiligen Fall das potentielle Risiko dauerhafter Informationsverluste eingeschätzt werden kann (während etwa Überlegungen zur Zugänglichkeit mit Verweis auf das Öffentlichkeitsprinzip zumindest nicht zuvorderst eine Rolle spielen). Dies gilt gerade im Falle von Dienststellen mit einem lediglich kurzfristigen Interesse an einem Rückgriff auf abgeschlossene Unterlagen, das die gesetzlich vorgesehene Aufbewahrungsfrist von 10 Jahren79 deutlich unterschreitet (z.B. im Bereich Kommunikation sowie generell projekt- und kampagnenorientierte öffentliche Organe wie Fachstellen). Verschärft wird diese Problematik noch zusätzlich in denjenigen Fällen, wo die eingesetzten Informationssysteme nicht auf die längerfristige Erhaltung «alter» Informationen ausgelegt sind (regelmässig mutierende Datenbanken ohne Historisierungsfunktion). Hier werden durch regelmässige «Abstriche» im Interesse der archivischen Sicherung auch Redundanzen in Kauf genommen.80

Wallis

Die Entwicklung der archivischen Sicherung im Staatsarchiv Wallis weist einige interessante Parallelen zur Situation im Kanton St. Gallen auf. So wurden in beiden Kantonsarchiven zeitweise umfangreiche (analoge) Zwischenarchive von Dienststellen übernommen. Während diese Sicherungsstrategie im Staatsarchiv St. Gallen seit dem durch die Magazinsituation erzwungenen Ablieferungsstopp 2003 konsequent durch eine prospektive Bewertung auf Dienststelleneben abgelöst wurde, markiert im Kanton Wallis spätestens die Einführung des Handbuchs «Records Management»81 die endgültige Abkehr von der früheren Zwischenarchivpraxis. Besonders vor dem Hintergrund des Umzugs des Staatsarchivs ab 2016 wurden vorgängig sämtliche noch vorhandenen Zwischenarchive aufgelöst und (nach-)bewertet, darunter auch u.a. in den 50er und 60er-Jahren übernommene und lediglich summarisch erschlossene Ablieferungen mit langen Aufbewahrungsfristen (z.B. Ausländerdossiers) oder generell nicht archivwürdige Dokumente wie etwa Buchhaltungsunterlagen. Seitdem gilt im Staatsarchiv Wallis, ebenso wie im Kanton St. Gallen, der Grundsatz der prospektiven Bewertung (in Verbindung mit der Erhebung des Aufgabenprofils und der Erstellung eines darauf basierenden Aktenplans) mit der Übernahme lediglich archivwürdigen Materials. Stand April 2024 lagen für den grössten Teil der Dienststellen (ca. 75%) solche Profile vor. Für die Erfüllung der sich aus der längerfristigen Aufbewahrung bestimmter Unterlagen ergebenden Raumbedürfnisse sind heute die Dienststellen in Zusammenarbeit mit der kantonalen Immobilienverwaltung zuständig.

Die Entwicklung hin zur heutigen Sicherungspraxis setzte im Kanton Wallis verstärkt mit dem Beginn der 2000er-Jahre ein, wobei besonders die wachsende Problematik des Umgangs mit elektronischen Unterlagen mit dem Ziel einer Stärkung des vorarchivischen Engagements verknüpft wurde. So stellt etwa der Jahresbericht82 2002 fest:

La révolution technologique de l’information […] implique de profondes mutations, non seulement dans les méthodes et les moyens d’archivage, mais aussi au niveau de l’organisation de l’administration et du préarchivage. Deux problèmes principaux se posent aux archivistes: celui de la récupération des informations et des documents sous forme électronique (c’est là qu’intervient tout l’aspect du préarchivage) et celui de la conservation à long terme de ces mêmes documents. Pour répondre à toutes ces exigences, les activités archivistiques doivent être maintenant impérativement déplacées au début du processus de production documentaire.83

Auf der Ebene der praktischen Umsetzung stellt der Jahresbericht 2002 u.a. einen Mangel an archivinformatisch qualifiziertem Personal fest, der dazu führe, dass das Staatsarchiv in keinster Weise auf die Archivierung elektronischer Daten vorbereitet sei, die mangels originaler Softwareumgebung nach der Ablieferung teilweise nicht einmal mehr lesbar seien:

Pourtant, cette année déjà, un petit nombre de services nous ont fourni des documents sur support numérique (CD-ROM), et il se trouve que nous ne sommes pas en mesure de lire ces données, faute d’avoir les programmes à disposition! Cet exemple montre l’urgence de la situation et la nécessité de prendre des décisions rapides quant à notre comportement face à ce problème.84

Im Jahr 2011 konnte schliesslich das vom kantonalen Informatikdienst und dem Staatsarchiv Wallis in Zusammenarbeit mit den Firmen Scope und Docuteam entwickelte Langzeitarchiv in Betrieb genommen werden.85 Im selben Zeitraum wird auch die Übernahmepraxis des Staatsarchivs neu geregelt: so hält der Jahresbericht 2008 fest, dass

[c]haque versement aux Archives de l’Etat du Valais fait désormais l’objet d’une évaluation stricte. Au terme de leur durée d’utilité administrative ou légale, seuls sont acceptés et conservés à long terme les documents qui assurent la sécurité du droit et une gestion administrative continue et rationnelle ou qui possèdent une valeur historique, politique ou culturelle intrinsèque.86

Eine aktuell noch ungelöste Frage bezüglich der Sicherungspraxis stellt sich v.a. in Zusammenhang mit der seit 2014 vorangetriebenen Einführung der elektronischen Aktenführung in der kantonalen Verwaltung.87 Das Konzept des Staatsarchivs Wallis sieht vor, dass abgeschlossene Dossiers nicht länger als 10 Jahre (für einen Grossteil der Unterlagen ist dies die maximale Aufbewahrungsfrist) im GEVER-System verbleiben. Auch die für gewisse Tätigkeitsbereiche geltenden längeren Aufbewahrungsfristen (z.B. im Bereich Immobilienverwaltung) sind an sich kein Problem, wenn die entsprechenden Unterlagen als archivwürdig gelten (der Bewertungsentscheid ist jeweils an der entsprechenden Aktenplanposition im GEVER hinterlegt). In diesem Fall «übersteuert» die dauerhafte Archivierung die entsprechenden Aufbewahrungsfristen – die ursprünglichen Verwaltungsunterlagen können also bereits «vor der Zeit» von Registratur- in Archivgut «umgewandelt» werden.88 Bei Bedarf ist die Zugänglichkeit für die Dienststellen in beiden Fällen über einen an der früheren Position des Dossiers im GEVER-System hinterlegten Link zum Digitalen Langzeitarchiv gewährleistet. Ein Problem stellen hingegen als nicht archivwürdig bewertete Unterlagen dar, deren Aufbewahrungsfrist über die standardmässigen 10 Jahre hinausgeht. Da das Digitale Langzeitarchiv aktuell aufgrund einer Schreibblockade keine einfachen nachträglichen Änderungen der AIPs oder gar die Löschung der ingestierten Daten erlaubt89, müsste für solche Unterlagen allenfalls eine alternative Struktur aufgebaut werden, die sich als «elektronisches Zwischenarchiv» bezeichnen liesse und eine klare Trennung der «Sphären» von Aufbewahrung und Archivierung erlauben würde. Ob eine solche Parallelstruktur zum Digitalen Langzeitarchiv aufgebaut werden soll, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch eine offene Frage – bis zur Ausarbeitung einer entsprechenden Lösung werden die betreffenden Unterlagen (entgegen dem oben beschriebenen Konzept) oder auch digitale Kopien von bereits an das Staatsarchiv abgelieferten Papierakten nach wie vor im GEVER-System oder auf speziellen Servern des kantonalen Informatikdienstes aufbewahrt.90

Fazit

In den untersuchten Archiven besteht ein breiter Konsens darüber, dass die geregelte Überlieferung moderner Verwaltungsunterlagen aufgrund der schieren Menge des zu bearbeitenden Materials sowie der erhöhten Anforderungen an die archivische Sicherung elektronischer Unterlagen eines dezidierten Engagements der Archive auch «jenseits der Schwelle» in Richtung der Verwaltung bedarf. Diese generelle Entwicklung im Bereich der archivischen Sicherung wurde seit den 1980er-Jahren auch von Archivtheorien begleitet, die unter dem Oberbegriff «Postkustodialismus» forderten, dass Archive ihre Rolle nicht mehr ausschliesslich als, überspitzt formuliert, hinter der schützenden Archivschwelle verbarrikadierte «custodians» der historischen Überlieferung definieren, sondern sich etwa auch der Frage öffnen sollten, welche Chancen, Risiken und Herausforderungen mit der technologischen Entwicklung verbunden sein könnten. Im sogenannten «Records-Continuum-Konzept» wurde diese Denkweise konkret auf den Bereich der Unterlagen bzw. Records angewandt, die nicht als am Ende eines linearen «Lebenszyklus» in einem Archiv endgelagerte «tote Materie», sondern als mehrdimensionale «logical units» verstanden werden sollten, die in einem stetigen Prozess der Benutzung und Erneuerung begriffen seien.

Bezüglich der Frage nach dem Verhältnis der postkustodialen Denkweise zur heutigen Schweizer Archivpraxis unterscheiden sich die Erkenntnisse dieses Artikels nicht wesentlich von denjenigen von Schlichte, Nebiker (beide 2010) und (aus australischer Perspektive) Frings-Hessami (2022). Genauer: Bei allen Unterschieden, die im Einzelnen zwischen den Sicherungsstrategien der untersuchten Archive festgestellt werden können, stehen dabei in der Regel keine grundsätzlichen «theoretischen Differenzen» im Vordergrund – so nehmen etwa sowohl das eher proaktiv agierende Staatsarchiv St. Gallen als auch das eher auf einer klaren Trennung zwischen Archiv und Verwaltung achtende Staatsarchiv Zürich ausdrücklich auf das Lebenszyklusmodell Bezug. Bei allen möglichen «blinden Flecken» des Modells, etwa bezüglich der Abbildung prospektiver Bewertungsstrategien, wird der Lebenszyklus heute in der Praxis keineswegs als das starre Korsett verstanden, als das ein oberflächlicher Vergleich mit dem Records-Continuum-Konzept ihn erscheinen lassen könnte. Das Archivgesetz des Kantons St. Gallen z.B. versteht die einzelnen Bestandteile des Zyklus ausdrücklich als miteinander in Beziehung stehend, und bei der langfristigen Sicherung von aus archivischer Sicht «schnelllebigen» Informationssystemen wie Steuerregistern werden etwa in Zürich und St. Gallen im Vergleich mit den gesetzlichen Aufbewahrungsfristen häufigere «Abstriche» aus den entsprechenden Datenbanken übernommen, auch wenn damit Redundanzen in Kauf genommen werden müssen.

Es stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage, ob ein «Labeling» von Archiven gemäss spezifischer Theorien überhaupt möglich oder sinnvoll ist oder diese nicht eher als allgemeine Bezugsrahmen für das zweifellos immer wieder nötige Nachdenken über die eigene Praxis dienen können. So dürfte die Bezeichnung «postkustodial», zumindest im Sinne des ursprünglichen Verständnisses von Ham, heutzutage in der einen oder anderen Weise auf sämtliche untersuchten Archive zutreffen – freilich mit Einschränkungen bei den besonders in den 1990er-Jahren entwickelten postkustodialen Ansätzen für den Umgang mit elektronischen Unterlagen. Ebenso haben die vertieften, grundsätzlichen Überlegungen zur Bedeutung von Archiven überhaupt (grob zusammengefasst: führt der zunehmende Bedeutungsverlust des Archivs als physischer Ort der Aktenverwahrung auch zu einer Neubewertung der Rolle des Archivs als Institution?) keineswegs dazu geführt, dass die Schwelle des Archivs in der Schweiz entwertet oder gar verschwunden wäre (im Sinne einer flächendeckenden Ausbreitung «nonkustodialen» Denkens): Das Archiv als Ort des dauerhaften, generationenübergreifenden Zugangs zu einer authentischen, integralen Überlieferung sowie als «Steuerzentrale» eines transparent geregelten Prozesses der Überlieferungsbildung wird im Zeitalter einer zunehmenden Fragmentierung der Informationslandschaft sicherlich eine Rolle zu spielen haben.

Obwohl das Verständnis des jeweiligen Kantonsarchivs als Endarchiv der Verwaltung sowie als oberstes Fachorgan für Archivierung und Aktenführung in allen untersuchten Kantonen mehr oder weniger etabliert ist, wird gerade in den Bereichen Denkmalpflege und Archäologie oftmals davon abgewichen – auch wenn sich die diesbezüglichen Arrangements im Einzelnen voneinander unterscheiden können. So existiert etwa sowohl in den Kantonen Basel-Stadt und St. Gallen zum jetzigen Zeitpunkt eine weitestgehende faktische «Eigenarchivierung» bzw. längerfristige selbständige Aufbewahrung. Während diese in St. Gallen auf einer schriftlich festgehaltenen Archivierungsvereinbarung beruht, ist die Frage in Basel-Stadt hingegen bis heute ungeklärt geblieben. Gerade im Falle der dortigen Denkmalpflege, die de facto als Archiv funktioniert, zeigt sich dabei auch die Gefahr, dass sich in diesem ungeregelten «Niemandsland» mit der Zeit divergierende archivrechtliche Interpretationen herausbilden können, welche die Kommunikation mit dem Staatsarchiv erschweren. Ein bezeichnendes Gegenbeispiel ist etwa der Rahmenvertrag zwischen dem Staatsarchiv St. Gallen und der HSG, der grossen Wert darauf legt, das im Kanton St. Gallen ungewohnte Arrangement eines «Universitätsarchivs» in die rechtlichen Rahmenbedingungen einzubetten und dabei klar zwischen dem «Archiv» als Endarchiv und der «Archivfachstelle» als eigentlichem «Zwischenarchiv» zu unterscheiden. M.E. scheint die Praxis im Kanton St. Gallen (Kombination aus einem begrifflich und konzeptuell eng gefassten Gesetz mit pragmatischen, dann jedoch klar geregelten Lösungen im Einzelfall) zumindest in diesem Fall vergleichsweise weniger Reibungsfläche bzw. Interpretationsspielraum zu bieten als der baselstädtische Versuch, auch solche Ausnahmefälle auf Gesetzes- und Verordnungsstufe zu regeln.

Keines der untersuchten Archive versteht sich (noch) ausdrücklich auch als Ort der vorübergehenden Aufbewahrung unbewerteten Registraturguts («Zwischenarchive», «Aufbewahrung im Auftrag»). Gleichzeitig ist noch nicht abschliessend klar, welche Rolle ihnen bezüglich der in Zukunft drängender werdenden Frage der Langzeitaufbewahrung elektronischer Unterlagen zukommen wird. Während mit dem im Kanton Basel-Stadt geplanten, von der Staatskanzlei und dem Staatsarchiv gemeinsam entwickelten, elektronischen Zwischenarchiv der Weg in Richtung einer zentral angebotenen, die jeweiligen Archive mit einbeziehenden Lösung beschritten wurde, ist der Versuch einer vorübergehenden Aufbewahrung solcher Unterlagen im eigentlichen elektronischen Langzeitarchiv im Staatsarchiv Wallis zumindest vorläufig an technischen Hürden gescheitert, wobei die weitere Entwicklung auch hier noch offen ist. In Basel-Stadt ist allerdings deutlich die sehr begrüssenswerte Bestrebung erkennbar, die aufgrund der technischen Anforderungen wünschbare Involvierung der Archive dennoch nicht als Weg zurück zu früheren Praktiken der Zwischenarchivierung «unter digitalen Vorzeichen» zu verstehen – zumal dadurch die Gefahr getrennter Verantwortlichkeiten für die sichere Aufbewahrung einerseits und den Datenschutz andererseits bestünde (Datenhoheit).

Bibliographie

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Schlichte, Annkristin, „Das Modell des Life Cycles – Überlegungen zur Theorie und praktischen Umsetzung in der vorarchivischen Arbeit des thurgauischen Staatsarchivs“, (2), 2010, S. 20–24.
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Weisbrod, Dirk, „Was ist ein persönliches Archiv? – Überlegungen zu einer Positionierung des Phänomens innerhalb des Archivbegriffs“, Archivar 69 (2), 2016, S. 142–146.

Anmerkungen

2Eine eigentliche deutsche Übersetzung des Begriffs existiert nicht – in der vorliegenden Arbeit wird v.a. die «eingedeutschte» Schreibweise verwendet, wie sie etwa auch Dirk Weisbrod verwendet. Vgl. Weisbrod, Dirk, „Was ist ein persönliches Archiv? – Überlegungen zu einer Positionierung des Phänomens innerhalb des Archivbegriffs“, Archivar 69 (2), 2016, S. 142–146. ↩︎
3Den Begriff der archivischen Sicherung versteht die Arbeit in Anlehnung an die umfassende Verwendung im Gesetz über Aktenführung und Archivierung des Kantons St. Gallen (2011) als den gesamten Lebenszyklus von der Aktenführung bis zur Archivierung bzw. Vernichtung umfassend. ↩︎
4 So trägt das st. gallische Gesetz über die Arbeit des Staatsarchivs und der Gemeindearchive von 2011 bezeichnenderweise den Titel «Gesetz über Aktenführung und Archivierung» (sGS 147.1). ↩︎
5Im Vergleich zur Masterarbeit wurden insbesondere die teils ausführlichen Besprechungen der Verwendung des Archivbegriffs in den jeweiligen kantonalen Rechtsgrundlagen sowie längere Abschnitte zur historischen Entwicklung in den Kantonen St. Gallen und Wallis gestrichen. ↩︎
11Vgl. den Standard eCH-0164. ↩︎
16 Aufgrund der Anonymisierung von Frings-Hessamis Auskunftpersonen (insgesamt 8, 3 davon aus der kantonalen Verwaltung, 4 auf dem «municipality level» und 1 Person aus dem Staatsarchiv) lässt sich leider nicht mehr feststellen, auf welcher Staatsebene die Befragten tätig sind bzw. ob es sich um Mitarbeitende eines End- oder eines «Amtsarchivs» handelt (auch wenn diese Unterscheidung aus der australischen Perspektive vielleicht weniger relevant ist – so bezeichnet Frings-Hessami auch ihre Auskunftspersonen in den «departements» konsequent als «archivists») (Frings-Hessami, „Continuum, continuity, continuum actions“, art. cit., S. 119]. ↩︎
17 Vgl. Pérotin, Yves, „Administration and the ‚Three Ages‘ of Archives“, The American Archivist 29 (3), 1966, S. 363–369. Online: <https://doi.org/10.17723/aarc.29.3.j6162758673p3740>. und Frings-Hessami, „Continuum, continuity, continuum actions“, art. cit., S. 116. Das Records Continuum Model hingegen werde in der französischsprachigen Literatur im Allgemeinen kaum rezipiert oder z.B. lediglich als Variante des Lebenszyklusmodells verstanden (S. 116-118). ↩︎
19Auch hier wäre wieder ein Verweis auf das niederländische Konzept «Archiving by Design» möglich. ↩︎
22 StASG, ARR 001 Akten zu den Beschlüssen der Regierung: RRB 1984-0963 (Sitzung 26. Juni 1984). ↩︎
23 StASG, A 152 Departement für Inneres und Militär, Amt für Kultur, Staatsarchiv: Akten, Berichte (im Folgenden: Akten und Berichte StASG): Bericht des Staatsarchivs an das Departement des Innern vom 17. August 1990 («Das Staatsarchiv benötigt ein Zwischenarchiv») (A 152/43): S. 2. ↩︎
24 Akten und Berichte StASG: Raum- und Baubegehren 1992 (A 152/43): S. 1. ↩︎
25 Akten und Berichte StASG: Interne Organisation für das Zwischenarchiv des Staatsarchivs vom 17. März 1998 (A 152/43): S. 1. ↩︎
26 Akten und Berichte StASG: Raum- und Baubegehren 1992 (A 152/43): S. 1. ↩︎
27 Gespräch mit Regula Zürcher vom 23.05.2024. ↩︎
28 Weiterhin war das Bestreben, die Bewertungspraxis gesamthaft neu zu konzipieren, auch vom Bundesarchiv inspiriert, dessen erstes Bewertungskonzept 2003 entstand (Gespräch mit Regula Zürcher vom 23.05.2024). ↩︎
29Gesetz über Aktenführung und Archivierung, Botschaft und Entwurf der Regierung vom 10. August 2010, https://www.ratsinfo.sg.ch/gremium/468/geschaefte/64#documents, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024 (im Folgenden: Botschaft GAA SG): S. 3. ↩︎
30 Botschaft GAA SG: S. 16. Vgl. auch Strategie des Staatsarchivs des Kantons St. Gallen, Version 2.0 vom 24.12.2020, https://www.sg.ch/kultur/staatsarchiv/uber-uns/portraet.html, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024: S. 20. ↩︎
31 sGS 147.11 Verordnung über Aktenführung und Archivierung (VAA) vom 19.03.2019 (Stand 01.06.2019), https://www.gesetzessammlung.sg.ch/app/de/texts_of_law/147.11, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024: Art. 15 Abs. 2. ↩︎
32 Bewertungsmodell Kantonale Denkmalpflege (Amt für Kultur), Version vom 29.05.2019: S. 16. Bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit sind dem Staatsarchiv keine Unterlagen abgeliefert worden – die einzige Ausnahme stellt ein Teil der Bildersammlung der Denkmalpflege dar, der aus konservatorischen Gründen abgeliefert und im Staatsarchiv digitalisiert wurde. ↩︎
33 Ebd.: S. 20. ↩︎
34 Gespräche mit Martin Lüthi vom 20.03. und 24.06.2024. Das betreffende Bewertungsmodell bzw. die Archivierungsvereinbarung lagen zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Arbeit nur im Entwurf vor und sind noch nicht finalisiert. Die grundsätzliche Stossrichtung betreffend Bewertung und vorläufigem Verbleib bei der Dienststelle wird davon allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach nicht tangiert werden. ↩︎
35 Gespräch mit Martin Lüthi vom 24.06.2024. ↩︎
36 Eine mit dem «Universitätsarchiv» der HSG vergleichbare Vereinbarung könnte in Zukunft vielleicht auch mit der Fachhochschule OST denkbar sein (Gespräch mit Martin Jäger vom 26.06.2024). ↩︎
37 Gespräch mit Regula Zürcher vom 27.05.2024. ↩︎
38 Rahmenvertrag zwischen der Universität St. Gallen (HSG) und dem Staatsarchiv des Kantons St. Gallen hinsichtlich der Archivfachstelle der Universität (Universitätsarchiv) von 2019. ↩︎
39 So z.B. die auch im Digitalen Lesesaal des Staatsarchivs einsehbaren Digitalisate der Matrikelbücher der Jahre 1899-1943 (HSG 313). Unklar ist der Status eines in früheren Jahren ohne Wissen des Staatsarchivs gebildeten, umfassenderen «digitalen Parallelarchivs» (die Originale befinden sich teilweise im Staatsarchiv, teilweise noch an der HSG), das aktuell noch auf den Servern der Universität aufbewahrt wird – die Frage, ob diese Digitalisate ebenfalls beim Staatsarchiv langzeitarchiviert werden sollen, ist noch offen (Gespräch mit Martin Lüthi vom 24.06.2024). ↩︎
40 Im Kanton Basel-Stadt ist die Idee für ein ähnliches Projekt mit allfälliger Übernahme der analogen Unterlagen der Denkmalpflege durch das Staatsarchiv u.a. aufgrund des erwarteten Aufwandes nicht weiterverfolgt worden (Mail von Yvonne Sandoz vom 24.06.2024). ↩︎
41 Gespräch mit Martin Lüthi vom 24.06.2024. ↩︎
42 Gespräch mit Martin Lüthi vom 20.03.2024. Entsprechende Bestimmungen sind auch Bestandteil der Bewertungsmodelle bzw. Archivierungsvereinbarungen. ↩︎
43 Gespräch mit Martin Jäger vom 26.06.2024. ↩︎
44 SG 153.600 Gesetz über das Archivwesen (Archivgesetz) vom 11. September 1996 (Stand 1. Januar 2012), https://www.gesetzessammlung.bs.ch/app/de/texts_of_law/153.600, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024 (im Folgenden: Archivgesetz BS): § 5 Abs. 6. Die Formulierung entspricht fast wortwörtlich derjenigen in § 13 der Archivverordnung des Kantons Zürich (1998). ↩︎
45 Ratschlag und Entwurf zu einem Gesetz über das Archivwesen (Archivgesetz) vom 9. Juli 1996 (im Folgenden: Ratschlag Archivgesetz BS): S. 23. ↩︎
47 Vgl. u.a. die Jahresberichte des Staatsarchivs Basel-Stadt 2021 und 2022. ↩︎
48 Archivgesetz BS: § 6 Abs. 4. ↩︎
49 Ratschlag Archivgesetz BS: S. 24. ↩︎
50 Ebd. Vielleicht lassen sich in diesem «use case» noch Spuren der in radikalen Auslegungen des «post-custodialism» vertretenen Ansicht vertreten, dass die Archivierung elektronischer Unterlagen von staatlichen Zentralarchiven aus technischen Gründen gar nicht zu bewältigen sei und daher in der ursprünglichen Hard- und Softwareumgebung bei den aktenbildenden Dienststellen zu erfolgen habe (vgl. auch Duranti, „Archives as place“, art. cit., S. 250.) ↩︎
51 Ratschlag Archivgesetz BS: S. 24. Damit sind v.a. «öffentlich-rechtliche[ ] Körperschaften und Anstalten des Kantons und der Gemeinden» (§ 2 Abs. 1 lit. c) sowie Private mit öffentlichen Aufgaben, «falls sie Personendaten bearbeiten und dabei dem Informations- und Datenschutzgesetz unterstellt sind» (Ebd.), gemeint. ↩︎
53 Weitere Beispiele werden im Artikel von Lea Heil behandelt. ↩︎
54 Der erste Jahresbericht der Bodenforschung für das Jahr 1962 formuliert als Teil des Arbeitsprogramms der archäologischen Dienststelle ausdrücklich den Auftrag zum «Aufbau eines zentralen Archives zur Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt mit Akten-, Plan- und Photosammlung, Übernahme oder Kopieren der bei anderen Stellen archivierten Dokumente zu den archäologischen Erhebungen früherer Jahre» (Jahresbericht der Bodenforschung Base-Stadt 1962: S. XVIII; Hinweis von Till Scholz). ↩︎
55 StABS, ED-REG 12b Administratives Archiv, https://dls.staatsarchiv.bs.ch/records/192034, zuletzt aufgerufen am 13.07.2024. ↩︎
56StABS, ED-REG 12c Dokumentation: Unterlagen zu den Ausgrabungen, https://dls.staatsarchiv.bs.ch/records/192092, zuletzt aufgerufen am 13.07.2024 (im Folgenden: Grabungsdokumentation BS). ↩︎
57 Die elektronischen Unterlagen werden nicht in einem dedizierten Langzeitarchiv, sondern in der «normalen» IT-Architektur des Kantons aufbewahrt. Das Projekt eines elektronischen Zwischenarchivs wird von der Bodenforschung im Auge behalten (Mail von Till Scholz vom 18.07.2024) – auch wenn aufgrund der öffentlich zugänglichen Beschreibungen des Projekts zumindest offen ist, ob die Bodenforschung dereinst zur «Zielgruppe» dieses elektronischen Zwischenarchivs gehören wird. ↩︎
58 Grabungsdokumentation Bodenforschung BS. ↩︎
61 Archivgesetz BS: § 6 Abs. 4. ↩︎
62SG 153.610 Verordnung über die Registraturen und das Archivieren (Registratur- und Archivierungsverordnung) vom 13.10.1998, in Kraft seit: 01.11.1998, https://www.gesetzessammlung.bs.ch/app/de/texts_of_law/153.610, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024 : § 18 Abs. 3 lit. a. ↩︎
63 Das folgende gemäss Mail von Till Scholz vom 18.07.2024. ↩︎
64 sGS 147.11 Verordnung über Aktenführung und Archivierung (VAA) vom 19.03.2019 (Stand 01.06.2019), https://www.gesetzessammlung.sg.ch/app/de/texts_of_law/147.11, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024: Art. 15 Abs. 2. ↩︎
65 Schriftlich geregelt ist das Verhältnis zwischen Staatsarchiv und archäologischer Dienststelle etwa in den Kantonen Basel-Land und Aargau (Mail von Lea Heil vom 19.06.2024 betreffend Sitzung des Archivaustauschs Nordwestschweiz vom 18.06.2024). Mitglieder der 2023 von der Denkmalpflege Basel-Stadt initiierten informellen Arbeitsgruppe «Archivaustausch Nordwestschweiz» sind aktuell die Kantonsarchäologien Basel-Stadt, Basel-Land und Aargau, die Römerstadt Augusta Raurica, die Münsterbauhütte Basel, die Denkmalpflege Basel-Stadt und die Dienststelle Städtebau und Architektur des Bau- und Verkehrsdepartements Basel-Stadt (schriftliche Notiz Yvonne Sandoz vom 21.05.2024). ↩︎
66 Sandoz, Yvonne, „Verwaltung, Aufbewahrung und Archivierung von Baudokumentationen: Das Beispiel Basler Denkmalpflege“, Informationswissenschaft: Theorie, Methode und Praxis 2 (1), 2012, S. 114. Online: <https://doi.org/10.18755/iw.2012.9>. Eine Klärung des Verhältnisses zwischen Staatsarchiv und Denkmalpflege mittels einer schriftlichen Vereinbarung ist bis heute nicht erfolgt (schriftliche Notiz Yvonne Sandoz vom 21.05.2024). ↩︎
67 So der Bestand StABS, Erziehung B 86 Denkmalpflege und Heimatschutz, Stadt- und Münstermuseum und der Fonds StABS, ED-REG 27 Denkmalpflege. ↩︎
68 Telefonat mit Yvonne Sandoz vom 13.06.2024. Dies auch in teilweisem Gegensatz zur Übernahme des in Schlichte, Annkristin, „Das Modell des Life Cycles – Überlegungen zur Theorie und praktischen Umsetzung in der vorarchivischen Arbeit des thurgauischen Staatsarchivs“, (2), 2010, S. 20–24. beschriebenen Modells zweier unterschiedlicher Lebenszyklen bei Sandoz, „Verwaltung, Aufbewahrung und Archivierung von Baudokumentationen“, art. cit., S. 114–117.: Dreiphasen-Modell für die gemäss Vereinbarung von 1994 bei der Denkmalpflege verbleibende Baudokumentation mit (gewissermassen «vorläufiger») Endarchivierung bzw. langfristiger Aufbewahrung bei der Dienststelle (Büro > Altregistratur > Amtsarchiv > Staatsarchiv im Falle einer Kündigung der Vereinbarung oder einer Auflösung der Dienststelle) sowie Zweiphasen-Modell für alle übrigen Unterlagen mit Endarchivierung beim Staatsarchiv (Aufbewahrung bei der Dienststelle > Staatsarchiv). Andererseits merkt Ebd., S. 115, Anm. 49. ebenfalls an, dass eine vorzeitige Bewertung der Baudokumentation nicht ohne Einverständnis des Staatsarchivs erfolgen dürfe. Entsprechend dem heute wieder breiteren Verständnis der Eigenarchivierung gilt dieser Grundsatz für sämtliche im «Amtsarchiv» der Denkmalpflege aufbewahrten Unterlagen – konkret: in Fällen, wo die Bewertung der Dienststelle von derjenigen des Staatsarchivs abweicht, entscheidet sich die Denkmalpflege im Zweifelsfall gegen die Vernichtung (Telefonat mit Yvonne Sandoz vom 13.06.2024). ↩︎
69 Telefonat mit Yvonne Sandoz vom 13.06.2024. ↩︎
70 Schriftliche Notiz Yvonne Sandoz vom 21.05.2024; vgl. dazu etwa auch den Standard eCH-0164. Pierre Mentha in seiner unveröffentlichten Masterarbeit von 2019 (S. 11, 13 und 59) aus Sicht der Denkmalpflege des Kantons Bern. ↩︎
71 Das zu Beginn der 2010er-Jahre lancierte Projekt beinhaltet u.a. den mittlerweile vollzogenen Wechsel von ScopeDossier nach CMI Axioma für die elektronische Geschäftsverwaltung sowie die für einen weiteren Release geplante, jedoch noch nicht erfolgte Inbetriebnahme eines digitalen Lesesaales (schriftliche Notiz Yvonne Sandoz vom 21.05.2024). ↩︎
72 Ebd. Das stellt auch im Vergleich mit den anderen für die vorliegende Arbeit untersuchten Beispielen eine Besonderheit dar. Im Kanton Graubünden «teilen» sich die Kantonsbibliothek, der Archäologische Dienst und das Staatsarchiv ein Digitales Langzeitarchiv (gemeinsame Nutzung der Speicherinfrastruktur, wobei die Datenhoheit allerdings bei den jeweiligen Dienststellen verbleibt und damit auch kein gegenseitiger Zugriff möglich ist) – denkbar wäre ein Einbezug der Denkmalpflege als viertem Mandanten in dieses System (Telefonat mit Flurina Camenisch vom 04.06.2024). Im Kanton Wallis existieren auf Ebene einzelner Dienststellen «elektronische Zwischenarchive» bzw. vom kantonalen Informatikdienst zur Verfügung gestellte Langzeitspeicher, bei denen es sich allerdings nicht um Digitale Langzeitarchive im Sinne des Staatsarchivs handelt (Mail von Fabienne Lutz-Studer vom 28.06.2024). ↩︎
73 Weisung des Regierungsrates zum Archivgesetz vom 16. Februar 1994, Zürcher Amtsblatt 1994: Textteil, S. 605-616: S. 608. ↩︎
74 Ein Beispiel für die konsequente Umsetzung dieses Prinzips auch im analogen Bereich stellen die Subventionsakten der Abteilung Meliorationen des ehemaligen Meliorations- und Vermessungsamts dar. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich bei den dem Staatsarchiv Zürich abgelieferten Dossiers um eine Doppelablage handelte, die darüber hinaus bei der Dienststelle nach wie vor in Gebrauch war. Aufgrund der ernsthaften Implikationen für die Vollständigkeit und damit auch Zuverlässigkeit der Überlieferung beim StAZH entschied man sich in diesem Fall für eine integrale Kassation des «Archivguts» - die originale Ablage befindet sich nach wie vor bei der Dienststelle und soll erst zu einem späteren Zeitpunkt übernommen werden (StAZH, [O 476] Subventionsakten Nr. 434 ff., 1943-2007; Telefonat mit Thomas Neukom vom 12.03.2024). ↩︎
75 Mail von Thomas Neukom vom 03.07.2024. ↩︎
76170.61 Archivverordnung vom 9. Dezember 1998, http://www.zhlex.zh.ch/Erlass.html?Open&Ordnr=170.61, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024: § 13. ↩︎
77 Mail Thomas Neukom vom 03.07.2024. ↩︎
78 Mail von Thomas Neukom vom 17.06.2024. ↩︎
79 170.6 Archivgesetz vom 24. September 1995, http://www.zhlex.zh.ch/Erlass.html?Open&Ordnr=170.6, zuletzt aufgerufen am 29.07.2024: § 8 Abs. 1. ↩︎
80 Beispiele dafür sind etwa das Immobilienregister (jährlicher Auszug) oder das Steueramt. Einen Spezialfall (v.a. im Gegensatz zur Nachkassation der Subventionsakten der Abteilung Melioration) stellen die fast über 100 Jahre geführten analogen Firmenbücher (Folianten) des Handelsregisteramts dar. Obwohl die darin enthaltenen Daten zwecks weiterer Bearbeitung durch die Dienststelle in ein elektronisches Informationssystem überführt wurden (und daher eine über die Zeit wachsende Diskrepanz zwischen dem Informationsstand im Staatsarchiv und der Dienststelle besteht), entschied sich das Staatsarchiv Zürich, u.a. auch aus gewissermassen «verwaltungshistorischen» Gründen, dennoch für eine integrale Übernahme dieses analogen Registers (StAZH, Z 616 Hauptregister, 1883-1975, Telefonat mit Thomas Neukom vom 12.03.2024). ↩︎
81 Französische Fassung 2011 fertiggestellt, Veröffentlichung deutschen Version 2014. ↩︎
82Die im Folgenden zitierten Jahresberichte sind abrufbar unter https://www.vs.ch/de/web/culture/rapports-annuels, zuletzt aufgerufen am 30.07.2024. ↩︎
83 Jahresbericht 2002: S. 15 [Hervorhebungen des Verfassers]. ↩︎
84 Jahresbericht 2002: S. 15f. [meine Hervorhebungen]. ↩︎
85 Jahresbericht 2011: S. 17. ↩︎
86 Jahresbericht 2008: S. 13. ↩︎
87Dieser Abschnitt basiert auf dem schriftlichen Austausch mit der Staatsarchivarin Fabienne Lutz-Studer (Mails vom 21.06. und 28.06.2024). Seit der Fertigstellung der Arbeit haben das Staatsarchiv und der kantonale Informatikdienst vereinbart, dass das Elektronische Langzeitarchiv in Zukunft keine Schreibblockaden mehr enthalten wird (Mail vom 11.01.2025). ↩︎
88 Dies entspricht auch dem im Standard eCH-0164 beschriebenen «Triagemodell». ↩︎
89 Aus diesem Grund verhandelt das Staatsarchiv mit dem kantonalen Informatikdienst über die Möglichkeit, regelmässige Wartungsfenster («Slots») öffnen zu können, die eine umfassende Bewirtschaftung der AIP’s erlauben. ↩︎
90 Damit ist die Situation vergleichbar mit derjenigen in St. Gallen, wo solche Unterlagen bis zur Implementierung einer Lösung für deren Langzeitaufbewahrung ebenfalls im ursprünglichen «Entstehungskontext» (GEVER, Fachapplikationen, File-Server) aufbewahrt werden. Damit bestehen zwar Sicherungen gegen deren unmittelbaren Verlust (Backups), allerdings werden, anders als in einem Digitalen Langzeitarchiv, z.B. keine Formate konvertiert (Preservation Planning). ↩︎