Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat verheerende Auswirkungen auf die kulturelle Infrastruktur des Landes, darunter Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen. ABD-Institutionen sind gezielten Angriffen, Plünderungen und Zerstörungen ausgesetzt. Dieser Artikel analysiert die Herausforderungen und Schutzmassnahmen, mit denen diese Einrichtungen im Krieg konfrontiert sind. Ausgehend von statistischen Daten und dokumentierten Beispielen wird aufgezeigt, wie gezielte Zerstörung von Kulturgut Teil der Kriegsstrategie ist. Die Reaktion der ABD-Institutionen erfolgt entlang drei Hauptstrategien: Evakuation von Beständen, Sicherung vor Ort und Digitalisierung. Der Beitrag diskutiert die Grenzen klassischer Notfallpläne angesichts der Komplexität militärischer Konflikte und hebt die Bedeutung internationaler Unterstützung hervor. Ziel ist es, die Resilienz kultureller Einrichtungen im Katastrophenfall zu stärken und Perspektiven für zukünftige Krisenszenarien aufzuzeigen.
La guerre d'agression russe contre l'Ukraine a eu un effet dévastateur sur l'infrastructure culturelle du pays, parmi lesquelles les archives, les bibliothèques et les centres de documentation. Les institutions ABD sont exposées à des attaques ciblées, des pillages et des destructions. Cet article analyse les défis et les mesures de protection auxquels ces institutions sont confrontées en temps de guerre. À partir de données statistiques et d'exemples documentés, il montre comment la destruction ciblée de biens culturels fait partie de la stratégie de guerre. La réaction des institutions ABD se fait selon trois stratégies principales : l'évacuation des collections, la sécurisation sur place et la numérisation. L'article discute des limites des plans d'urgence classiques face à la complexité des conflits militaires et souligne l'importance du soutien international. L'objectif est de renforcer la résilience des institutions culturelles en cas de catastrophe et de présenter des perspectives pour de futurs scénarios de crise.
The Russian war of aggression against Ukraine has had a devastating impact on the country's cultural infrastructure, including archives, libraries and documentation centres. Memory institutions have been subject to targeted attacks, looting and destruction. The article analyses the challenges faced by these institutions and the protective measures taken during the war. Based on statistical data and documented examples, it shows how targeted destruction of cultural heritage is part of the war strategy. The response of memory institutions comprises three main strategies: evacuation of collections, on-site protection and digitisation. The article discusses the limits of traditional emergency plans when confronted with the complexity of military conflicts and emphasises the importance of international support. The aim is to strengthen the resilience of memory institutions in situations of a disaster and to highlight perspectives for future crisis scenarios.
Der grossflächige Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine hat katastrophale Folgen für die betroffene Bevölkerung. Neben den menschlichen Verlusten ist der materielle Schaden von ungeheurem Ausmass. Davon betroffen sind auch die Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen und andere Gedächtnisinstitutionen in der Ukraine. Neben den Schäden an Gebäuden und Beständen, die aufgrund eines zufälligen Einschlags der teilweise unpräzisen Lenkfeuerwaffen entstehen, gibt es berechtigten Verdacht einer gezielten Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses der Ukraine aus der Luft und am Boden. Die Dynamik des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine entwickelt sich unvorhergesehbar, und Veränderungen treten schnell ein, was eine grosse Herausforderung für die Menschen ist, die von der Gewalt betroffen sind. Und auch die Angestellten und Leiter*innen kultureller Einrichtungen müssen sich mit den Gefahren auseinandersetzen. Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Interventionsmöglichkeiten der ABD-Institutionen der Ukraine im Falle eines befürchteten oder bereits eingetroffenen Schadenfalls, ausgelöst durch den Krieg.
Eine militärische Bedrohung ist ein Notfall der grösstmöglichen Tragweite, wobei die Sicherheitslage und der Charakter des Konflikts einen entscheidenden Einfluss auf den Katastrophenplan zur Schadensbegrenzung haben. Angesichts der unkontrollierbaren Zerstörung der soziokulturellen Landschaft auf ukrainischem Boden und der Parallelität der Gefahren stellt sich die berechtigte Frage, inwiefern ein Notfallplan auf Papier geeignet ist für die Bewältigung einer solcher Ausnahmesituation. Die praktischere Grundsatzfrage lautet, welche Schutzmassnahmen in einem Angriffskrieg angewendet werden können, um Bestände vor der Vernichtung zu retten.
Anhand statistischer Angaben ukrainischer Einrichtungen nationaler Relevanz wird in diesem Artikel aufgezeigt, welche Schutzmassnahmen ABD-Institutionen im Krieg ergreifen. Ein direkter Kontakt in die Ukraine war aufgrund der beschränkten Ressourcen leider nicht möglich. Dieser Mangel wird dadurch kompensiert, dass möglichst viele Quellen aus der Ukraine und von ukrainischen Verantwortlichen genutzt werden.1
Der Verlust von unersetzlichem Kulturerbe während bewaffneten Konflikten tritt in den letzten Jahren vermehrt auf und ist kein Kollateralschaden des Kampfgeschehens mehr, sondern wird zur verbreiteten Praxis in militärischen Konflikten.2 Die Eroberung von Kulturgütern soll symbolischen Charakter haben und den Feind mental schwächen oder soll der ökonomischen Bereicherung dienen. Die Bestände von Archiven hingegen zeichnen sich aus durch ihren hohen Informationswert, der für die einheimische Bevölkerung essenziell ist für die Beziehung zum Staat als Leistungserbringer.3
Die Staatlichkeit der Ukraine ist eine verhältnismässig junge Tatsache. Das allein als unvollkommene Genese der Ukraine zu verstehen oder darin gar eine Zugehörigkeit zu anderen Kulturräumen erkennen zu wollen, ist ein fataler geschichtsrevisionistischer Trugschluss. Bücherregale der Bibliotheken, Dokumentenbestände und andere Unterlagen von Archiven oder Ausstellungsexponate in Museen bezeugen die jahrhundertealte ukrainische Geschichte und liefern ein Verständnis der einzigartigen ukrainischen Kultur. Die Anerkennung dieser Eigenständigkeit von Staaten ist eine wichtige Basis des Friedens und der Kooperation. Die Russische Föderation ist ein Land, das innerhalb der letzten Jahrzehnte mehrfach ihre Interessen in benachbarten Staaten durchgesetzt hat, nicht zuletzt in der Ukraine im Jahr 2014. Im grossflächigen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zeigte sich ein neuer Grad der Skrupellosigkeit und der hybriden Kriegsführung. Russland entzieht der Ukraine das Recht auf staatliche Souveränität und negiert die Eigenständigkeit ihrer Kultur. In diesem Zusammenhang ist es eine gezielte Kriegsstrategie, Geschichte umzudeuten und kulturelles Erbe der Ukraine zu vernichten.
Museumsexponate von nationaler Bedeutung werden zum Ziel, wie beispielsweise Gemälde des Künstlers Arkhip Kuindzhi im Museum seiner Geburtsstadt Mariupol’.4 Auch Bibliotheksbestände bleiben nicht unverschont, wie sich in der wissenschaftlichen Bezirksbibliothek Cherson gezeigt hat, wo zerstört und geplündert wurde. Es liegt die Vermutung nahe, dass die vermissten Exemplare Bibliotheken und Museen der russisch-besetzen Gebiete, oder russische Kultureinrichtungen bereichert haben.5
Bestände des ukrainischen Staatsarchivs enthalten Exemplare von geheimen Dokumenten der sowjetischen Staatsmacht, die im Laufe der Dekommunisierung in der Ukraine seit 2014 öffentlich gemacht wurden. Die meisten dieser Dokumente unterliegen in der Russischen Föderation dem Staatsgeheimnis, womit die Entwendung oder Vernichtung der Dokumente durch russisches Militärpersonal erklärt werden kann, wie es in einer Filiale des Staatsarchivs in der Stadt Volnovakha passiert ist.6
Das Schicksal dieser Bestände wird möglicherweise für immer unbekannt bleiben, so wie es den Beständen der Museen im Donbas erging, die 2014 geplündert wurden. Nachdem Teile des Donbas von ukrainischen Streitkräften zurückerobert wurden und die Museen ihre reguläre Tätigkeit wieder aufnahmen, erlebten die Angestellten 2022 ein regelrechtes Déjà-vu.7
Insgesamt 1582 Objekte des kulturellen Erbes der Ukraine sind beschädigt, 160 davon sind vollständig zerstört.8 40 Prozent des beschädigten Kulturerbes machen Bibliotheken aus.9 Insgesamt 42 öffentliche Bibliotheken verloren ihren ganzen Bestand, 89 Bibliotheksgebäude wurden komplett zerstört.10 Diese Zahl kann nur eine Annäherung bleiben, da die Umstände der Datenerhebung gefährlich sind und es ausserdem unmöglich ist, den Zustand der Institutionen auf besetztem Gebiet in der Ostukraine oder der Krim einzuschätzen.
Das ordnungsgemässe Funktionieren von ABD-Institutionen setzt eine Normalität und Planbarkeit des Alltags voraus. Gleichzeitig ist diese Normalität nicht selbstverständlich, denn Gefahren für Archivgut, Bücher und Exponate lauern vielerorts. Mängel an Gebäuden, Störungen an technischen Anlagen oder schädliches menschliches Verhalten können zu unerwünschten Resultaten führen. Auf Auswirkungen militärischer Auseinandersetzungen wird in der Literatur selten explizit eingegangen. Der Grund dafür kann darin gesehen werden, dass der Forschungsbereich der Notfallplanung sich geografisch meist auf europäische sowie nordamerikanische Kontexte konzentriert, wo militärische Auseinandersetzungen faktisch nicht mehr geschehen. Wenn Krieg als Risiko einer Institution angesehen wird, dann muss es gemeinsam mit Naturkatastrophen auf die höchste Gefahrenstufe gesetzt werden.11 Andrea Giovannini betont die Relevanz eines Evakuierungsplans für Einrichtungen mit Kulturgütern, die zur militärischen Zielscheibe werden können, da die Bestände unwiderruflich verloren gehen können.12 Claudia Engler kritisiert die Unzulänglichkeiten der Notfallpläne in der Praxis: «Die klassischen Katastrophenpläne weisen aber auch Mängel auf, da sie sich meist ausschliesslich auf elementare Schadensereignisse und die konservatorisch-restauratorische Schadensbewältigung beschränken.»13 Genau die Verkettung unerwünschter Effekte macht die Handlungsabfolge gemäss Notfallplänen so schwierig, da vieles gleichzeitig passieren müsste.
Die häufigste und offensichtlichste Gefahr, die für ABD-Institutionen von militärischen Auseinandersetzungen ausgehen, sind physische Schäden an Gebäuden oder deren Zerstörung durch Schusswechsel oder Einschläge schwerer Munition. Es ergibt sich ausserdem grosse Gefahr durch Brände, die entweder durch Munitionstreffer oder durch Ausbreitung von Brandherden ausserhalb der Gebäude entstehen. Schäden an der Energieinfrastruktur kann Klimageräte ausfallen lassen, was ungünstige Lagerungsbedingungen entstehen lässt. Die Reallokation staatlicher Ressourcen im Krieg führt zwangsweise zu kleinerem Budget für das Funktionieren der ABD-Institutionen und zur Redimensionierung der Belegschaft.
Die Gleichzeitigkeit verschiedener Schadensereignisse und deren schweres Ausmass bei militärischen Auseinandersetzungen ist bezeichnend. Krieg hat ausserdem grossen Einfluss auf die Belegschaft. Militärdienstpflichtige Männer werden einberufen, andere Mitarbeitende fliehen, wiederum andere können getötet werden. Eine Risikoanalyse ist nicht immer sinnvoll, denn es können selten Massnahmen getroffen werden, um Risiken abzuwenden, die eine angreifende Armee verursacht. Ausserdem hat sich mit der Sprengung des Kachovka-Staudamms gezeigt, dass durch mutwillige Zerstörung völlig unerwartete Schäden entstehen können.
Die Schutzmassnahmen werden in Abhängigkeit von der unmittelbaren Gefahr für Personal und Bestand getroffen, was ethisch schwierige Entscheidungen abverlangt. Es können drei Hauptmassnahmen identifiziert werden, die im Folgenden beschrieben werden: die Evakuation an sichere Orte, die Sicherung des Bestands vor Ort oder die Digitalisierung.
Bereits als sich Hinweise und Meldungen zu einem möglichen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine verdichteten, hat das Staatsarchiv der Ukraine an assoziierte Archive die Empfehlung abgegeben, sichere Standorte für Evakuationen zu finden. Eine Liste mit möglichen temporären Standorten lieferte das ukrainische Verteidigungsministerium mit einiger Verspätung im Frühsommer 2022, da vorher kein einziger geografischer Ort in der Ukraine als sicher definiert werden konnte.14 Bereits früher informierte der Staatliche Notfalldienst über die Planung, Vorbereitung und Implementierung der Evakuierung kulturellen Erbes aus Bibliotheken an geschützte Orte. Wenn die Sicherheit der Angestellten gewährleistet war, so sollten die Bestände verpackt und mit Hilfe der territorialen Sicherheitskräfte in Sicherheit gebracht werden. Dabei sollten zwingend Inventare erstellt werden, die alle Bewegungen des Bestands dokumentierten.15
Konkrete Informationen bezüglich der Evakuation der Archivbestände sind geheim und werden nicht öffentlich geteilt. Diese Massnahme dient dem Schutz der Bestände und des Personals.16
Blue Shield ist eine NGO, die sich dem Schutz kulturellen Erbes vor Konflikten und Katastrophen verschrieben hat. In der Ukraine gab es vor dem Krieg noch kein Nationalkomitee des Blue Shield, obwohl der länderübergreifende Kontakt schon lange hergestellt war.17 In Deutschland hat sich nach dem Kriegsausbruch eine Hilfsgruppe gebildet, die zusammen mit der Deutschen Nationalbibliothek ukrainische Institutionen bei der Sicherung gefährdeter Bestände unterstützt. Hier beteiligt sich auch Blue Shield Deutschland. Die Gruppe wird geleitet von Olaf Hamann von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. Er koordiniert die Hilfegesuche ukrainischer Bibliotheken und die Hilfsangebote deutscher Bibliotheken an ukrainische Kolleg*innen.18 Für die Evakuierung von Beständen ist es wichtig, Objekte vorgängig zu priorisieren, um bei Abbruch der Aktion zumindest die wichtigsten Objekte gerettet zu haben.19 Bei der Bewertung der Prioritäten sind die Hilfsorganisationen auf vertrauenswürdige Angaben der Mitarbeitenden der Einrichtungen angewiesen. Gemäss dem Leiter der Hilfsaktion, Hamann, gibt es viele Herausforderungen bei der Evakuierung der Bestände. Einerseits gibt es grosse bürokratische Hürden beim Transport von Hilfsgütern über Landesgrenzen. Andererseits stellen sich viele Praxisfragen, wie beispielsweise nach den benötigten Transportgefässen und -gebinden. Unter anderem stellte die Organisation ALIPH Verpackungsmaterial zur Verfügung und finanzierte den Ausbau sicherer Lagerräume in der Ukraine.20 Mit all diesen Hilfsangeboten und der Bereitschaft der ukrainischen Behörden, sichere Transportrouten zu gewährleisten, konnte ein nicht unerheblicher Teil der Bestände innert weniger Wochen nach Kriegsausbruch evakuiert werden.
Ist die Evakuation nicht möglich, weil Strassen oder andere Infrastruktur unpassierbar geworden sind, oder weil weder Personal noch Fahrzeuge zur Verfügung stehen, so kann die bestmögliche Sicherung der Einrichtung vorgenommen werden. Es gilt die Bestände möglichst gut in den Räumlichkeiten der Institution zu konservieren. Der staatliche Notfalldienst der Ukraine verordnete nach abgeschlossener Evakuation der als schützenswert erachteten Bestände der Bibliotheken eine Sicherung der Gebäude gegen Angriffe aus der Luft und vom Boden. In Orten wie Chernihiv, Kharkiv und der Region Donbas ging man direkt zu Sicherung der Gebäude über, da aktive Kampfhandlungen einen langen Arbeitseinsatz zwecks Evakuation zu gefährlich machten. Ausserdem wurden Bestände aus ihren bisherigen Lagerungsorten umdisponiert und möglichst gut versteckt.21
Keller sind die sichersten Orte bei Gefahr eines Beschusses mit Feuerwaffen. Aufgrund der Architektur der Gebäude sind Archivbestände meist besser geschützt vor Schäden durch Feuerwaffen als Bibliotheken. Auch wenn die Gebäudefassaden durch Beschuss Schaden nehmen, wie es in Kharkiv oder Mikolajiv der Fall war, so bleiben die Bestände unversehrt, wenn in Kellern eingelagert wurde.22 Sandsäcke vor Türen, Fenstern und Schächten können gegen Wasser und Feuer schützen.
Die Fenster können mit dunklen Vorhängen abgedunkelt werden, damit es schwieriger wird, die Einrichtungen aus der Luft zu identifizieren. Das Anbringen von Klebestreifen auf Fensterglas kann die Zerstreuung der Scherben im Fall eines Einschlags minimieren. Diese Technik wird als günstige und einfache Schutzmassnahme landesweit angewendet. Grundsätzlich erforderten die Umstände eine gewisse Kreativität, um die Gebäude mit den vorhandenen Materialien zu sichern. Hier waren nicht so sehr eine Ausbildung in den spezifischen Berufen erforderlich, sondern eher handwerkliches Geschick. Bei der Sicherung der Gebäude waren viele Zivilpersonen beteiligt, die sich als Freiwillige gemeldet hatten und die Aktionen begleiteten.23
Professionelle Dienstleistungen sind jedoch weiterhin unentbehrlich. Um vor Ort Hilfe für die kriegsversehrten Bestände zu leisten, haben betroffene Einrichtungen Unterstützung von internationalen Organisationen erhalten. So hat die International Alliance for Protection of Heritage in Conflict Areas (ALIPH) mit Sitz in Genf fünf sogenannte heritage ambulances finanziert, die im beweglichen Einsatz alle Werkzeuge enthalten, die Konservator*innen für Notmassnahmen an Beständen benötigen.24 Gleichzeitig lieferte ALIPH Brandschutzausrüstung für den Fall eines Brandes nach Einschlägen und Generatoren zur Gewährleistung der notwendigen klimatischen Bedingungen während Stromunterbrüchen.25 Die UNESCO setzt ihre Expert*innen in der Ukraine ein, um Personal der ABD-Institutionen zu schulen in der Sicherung von Gebäuden und der Verbesserung des Feuerschutzes.26
Auch nach bereits erfolgter Beschädigung an Beständen, Infrastruktur oder Gebäuden wird die Konservierung weitergeführt, sobald wieder unter sicheren Bedingungen gearbeitet werden kann. Zu diesem Zeitpunkt ist es ausserdem wichtig, eine Dokumentation darüber zu erstellen, welche Verluste zu verzeichnen sind. Zu diesem Zweck hat das Ministerium für Kultur und Informationspolitik eine landesweite Internetplattform erstellt, wo Angaben über Schäden oder Verluste gemacht und diese fotografisch belegt werden können.27 Ausserdem machen sich Expert*innen der UNESCO vor Ort ein Bild der Lage und erfassen Schäden am Kulturerbe.28
Die ersten zwei bisher erläuterten Schutzmassnahmen dienen dem physischen Bestand. Im militärischen Konfliktfall muss aber damit gerechnet werden, dass die Zerstörung dieser Bestände möglich ist. Mit einer vorsorglichen Digitalisierung kann die Information des Originals erhalten bleiben, selbst wenn das Original zerstört, beschädigt oder entwendet wurde. Gemäss dem Leiter des Staatsarchivs der Ukraine, intensivierte sich die Digitalisierung physischer Bestände seit dem Kriegsausbruch 2022 erheblich.29 Eine wichtige Unterscheidung betrifft den Ort und Zeitpunkt der Digitalisierung. Entweder erfolgt der Prozess in der Einrichtung selbst, bevor der militärische Konflikt diese physisch erreicht, oder aber die Digitalisierung erfolgt am neuen sicheren Evakuationsort. Für die aufwändige Digitalisierung physischer Bestände spendeten Hilfsorganisationen Digitalisierungsinfrastruktur an über 35 Bibliotheken und boten unbegrenzten kostenlosen Cloud-Speicher an für die digitalen Daten.30 So unterstützt die UNESCO beispielsweise Kultureinrichtungen bei der Digitalisierung ihrer Bestände. Zum aktuellen Zeitpunkt liegt der Schwerpunkt bei dem Museum der bildenden Künste in Odessa. Die verschiedenen Bemühungen in der Digitalisierung werden gemeinsam koordiniert, und es gibt einen intensiven Wissensaustausch. Als Produkt einer gemeinsamen Strategie wird die gemeinsame Plattform National Digital Library of Ukraine (NDLU) entwickelt, welche von der UNESCO gefördert wird.31
Ukrainische ABD-Institutionen waren schon vor dem Kriegsausbruch aktiv in der Digitalisierung ihrer physischen Bestände und kooperierten in diesem Feld mit internationalen Organisationen und nationalen Verbänden. Hingegen genoss der Schutz der vorhandenen digitalen Daten nicht die gleiche Aufmerksamkeit. Die ukrainische Regierung war sich der Gefahr des Missbrauchs von Records bewusst, weshalb sie schon vor dem Einmarsch Russlands darauf vorbereitet war, die Serverdaten zu transferieren oder zu zerstören.32 Auch im Staatsarchiv wurden präventive Massnahmen gegen die Vernichtung getroffen, indem Kopien digitaler Daten über mehrere Orte verteilt gelagert wurden.33 Für den Schutz des digitalen kulturellen Erbes wurde die Organisation Saving Ukrainian Heritage Online (SUCHO) von einem Team internationaler Wissenschaftler*innen ins Leben gerufen. Hauptsächlich unterstützt SUCHO das Backup digitaler Daten ukrainischer Kulturinstitutionen, deren Server und Speichermedien durch Stromausfälle oder direkte Angriffe beschädigt und zerstört werden können. Daneben legt SUCHO ein Internetarchiv an und unterstützt Webhosts ausserhalb der Ukraine, die nicht mehr für die Speichergebühren aufkommen können.34 Während die Daten anfänglich auf privaten Computern der Aktivist*innen gespeichert wurden, entwickelte sich schnell Bedarf für erhöhte Kapazitäten. In Zusammenarbeit mit Amazon Web Services kann der benötigte Speicherplatz kostenlos genutzt werden; so wurden mittlerweile mehr als 5000 Webseiten archiviert (Stand Juni 2022). SUCHO konnte dazu beitragen, dass viele Institutionen, wie beispielsweise das Nationale Chernobyl-Museum oder das Staatsarchiv in Kharkiv, Daten ihrer Webseiten konservieren konnten, bevor sie durch russische Truppen entwendet oder vernichtet wurden.35
Die Gleichzeitigkeit der Gefahren macht militärische Konflikte kompliziert für ABD-Institutionen. Die allgemeine Lage muss kontinuierlich überwacht werden, da Kampfhandlungen unberechenbare Wendungen nehmen können. Sobald ein militärischer Überfall passiert ist, kann die Belegschaft darauf sensibilisiert werden, dass Gefahr für die Einrichtung entstehen kann. Die Tragweite und der Umfang können aber unmöglich vorausgesagt werden. Die «einfachste» Massnahme wäre eine Evakuation des kompletten Bestands, was in den seltensten Fällen möglich ist. Die Sicherung des Gebäudes und der Bestände kann nach der Evakuation des priorisierten Inventars erfolgen oder wenn es bereits zu spät ist für die Bergung. Die Digitalisierung erfordert viel Zeit und Ressourcen, was die Durchführung entweder stark vorgelagert erfordert oder erst nach der Evakuation möglich macht. Die «planbare Unplanbarkeit» zeichnet Kriege aus – es ist zu erwarten, dass eine Gefährdung eintritt, das Ausmass der Gefahr kann aber erheblich variieren. Der Notfallplan als festgeschriebener Handlungsplan ist insofern unzureichend für das gewählte Fallbeispiel, da es unmöglich ist, alle möglichen Entwicklungen im Krieg vorauszusehen. Die Erfahrungen ukrainischer Institutionen können weltweit einen Einblick in die Herausforderungen eines Katastrophenfalls geben, weshalb ein gegenseitiger Austausch sinnvoll wäre. Internationale Hilfsangebote spielen eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Archiven, Bibliotheken, Museen und weiteren Institutionen in der Ukraine. Der ukrainische Staat konzentriert sich auf die Rettung von Objekten, die als kulturelles Erbe klassifiziert werden, was die Relevanz internationaler Organisationen für kleinere Einrichtungen nochmals verstärkt.36