Einleitung Teil I:
Professionelles Selbstverständnis im Wandel

Gaby Knoch-Mund

Das professionelle Selbstverständnis von Archivarinnen und Archivaren, Bibliothekarinnen und Bibliokaren sowie von spezialisierten Mitarbeitenden in Dokumentationsstellen wird infrage gestellt durch die rasante Entwicklung der Informationstechnologien, durch neues Nutzungsverhalten von Kunden und Besuchern sowie durch die Vielzahl von Zugangsmöglichkeiten zum Rohstoff oder verarbeiteten Information. Durch die Digitalisierung des Lebens und Arbeitens angestossene Veränderungsprozesse und entsprechend nachgeführte oder neu geschaffene Gesetze bilden gleichsam den Rahmen für Orientierung und Orientierungslosigkeit. In diesem Kontext sind institutionelle Politiken zu revidieren und technische Aspekte der Digitalisierung mit hergebrachten Konzepten der Archiv- und Bibliothekswissenschaft in Einklang zu bringen. Um nicht als Technikgetriebene die Arbeit in Einzelschritte ohne Blick auf die grossen Prozesse, die Grundlagen und längerfristig gültigen Prinzipien des Berufs aufzuteilen und jegliche Entwicklung verspätet nachzuvollziehen, braucht es auch die Reflexion über die eigene Tätigkeit und das Berufsverständnis. Diesen Schritt zurück zu gehen und den Blick auf ein Ganzes zu wagen, haben mehrere Absolventen und Absolventinnen des MAS ALIS 2012-2014 unternommen. Darum seien ihre Arbeiten hier vorgestellt. Philipp Oggier untersucht Records Management-Schulungen im archivischen und vorarchivischen Bereich, Sara Marty fragt nach der Fortdauer des Berufs der Dokumentalistin/des Dokumentalisten und Elfriede Schalit stellt das Verhältnis von Archiv und Information in den grossen Kontext der Informationsethik, exemplarisch untersucht am Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare. Alle drei Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage «Wer wir sind» und «Was wir tun». Die Antworten sind differenziert und zeigen, dass auch innerhalb eines zunehmend von Normen und Standards geprägten Berufs Platz für individuelles Handeln bleibt, dass die Übernahme von Verantwortung überlegt geschieht und gut und universitär ausgebildete Fachleute auch in der Schweiz mit eigenständiger Forschung zur Entwicklung der Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft beitragen.

Archivethik im Informationszeitalter

Die Masterarbeit und der hier präsentierte Artikel von Elfriede Schalit unterziehen archiv-ethische Konzepte der letzten 20 Jahre einer genauen Überprüfung. Galt 1996 die Einführung eines Ethikkodex für Archivare durch den International Council of Archives als grosse Errungenschaft, als Basis für die Arbeit über Landes- und politische Grenzen hinweg in einer Welt, die das Denken in politischen Blöcken zu überwinden schien, so wird heute verantwortungsbewusstes und ethisches Handeln in der Schweiz eher durch den unklaren Umgang mit elektronischen Ressourcen bestimmt. Die Autorin nimmt sich die Freiheit einer philosophischen Herangehensweise und überprüft den «Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare [der Schweiz] im Kontext aktueller informationsethischer Entwicklungen. Schalits Untersuchung beginnt mit einer Analyse ethischer Instrumente für Archive, sie analysiert den Ethikkodex für die Schweiz von 1997 Schritt für Schritt und stellt einen beträchtlichen «Erweiterungsbedarf» fest: «Aktualisierung, Kontextualisierung» und eine Erweiterung der «Funktionen» ist vonnöten. Der Kodex ist praktische Handlungsanweisung, Berufsethik, und basiert auf den politischen und gesellschaftlichen Aufgaben der Archive, welche auch in der Schweiz den Diskurs der 90er Jahre über die Funktion von Archiv und Geschichte bestimmte. Der Kodex bietet aber wenig Auseinandersetzung mit Debatten über Ethik in der Philosophie. Folgende Punkte fehlen gemäss Schalit im aktuellen Ethikkodex: Geltung im vorarchivischen Bereich mit Ausweitung der Zielgruppen auf Entscheidungsträger in der Verwaltung, Records- und Informationmanager. Es gibt noch keine Überlegungen zum Einfluss neuer Medien und Technologien, dem Ersatz von Informationsträgern, dem Umgang mit IKT- und Software-Anbietern, der Rolle von Internet und Social Media, dem Einfluss von Big Data und dem gesellschaftlichen Problem des Digital Divide. Schalit bemängelt nicht nur die fehlende Anwendbarkeit des Ethikkodex auf neue Fragestellungen, sondern auch dessen grundsätzlichen, an pragmatischer Handlung orientierten Aufbau. Wegen einer fehlenden Hierarchisierung der Themen, sei es nicht möglich, zu generalisieren, zu abstrahieren oder Lösungen abzuleiten. Auch wenn «der Kodex nach wie vor einen Orientierungsrahmen für ethisches Handeln von Archivmitarbeitenden bieten kann», braucht es nun eine Veränderung, denn «dem Kodex fehlt die aktuelle digitale Dimension». Als Ausgangspunkt für Anpassungen schlägt sie den Einbezug von Dokumenten des VSA zur digitalen Archivierung und zum Verhältnis von Archiv und Informationsgesellschaft vor. Da zu berücksichtigen ist, dass Archivare fast nie allein vor ethischen Fragestellungen stehen und andere Berufsgruppen oder Entscheidungsträger sich an anderen Grundprinzipien orientieren, schlägt sie als Bezugspunkt die Philosophie vor. Sie macht dies auf überzeugende Weise. Praktische Berufsethik soll sich an theoretischer Informationsethik orientieren. Schalit bezeichnet diese im zweiten Kapitel als «junge, heterogene und interdisziplinäre Bereichsethik», entstanden seit den 80ern des 20. Jahrhunderts. Sie stellt die Position des Bibliothekswissenschafters Robert Hauptmann dem philosophischen Standpunkt des Ethikers Rafael Capurro gegenüber und versöhnt die Haltungen am Beispiel des Ethikers Luciano Floridi und der Aufgaben einer Informationsethik: «Schwierigkeiten antizipieren, Möglichkeiten identifizieren und Probleme, Konflikte und Dilemmata lösen». Moralisches Handeln zwischen Verantwortungs- und Diskursethik orientiere sich an Normen und obersten Prinzipien, die argumentativ begründet in Handlungsmaximen umgesetzt werden können. Die Arbeiten von Rainer Kuhlen und Luciano Floridi stehen im Zentrum ihrer Analyse. Schalit präsentiert die vier Stadien nach Floridi in der Infosphäre und stellt den Diskursethischen Ansatz nach Kuhlen vor, der nach den Grundlagen moralischen Handelns in der Wissensgesellschaft fragt. Obwohl sie dem grösseren Aktualitätsbezug Kuhlens den Vorzug gibt, fordert die Autorin gemeinsame Prinzipien in der Infosphäre auf einer Makroebene. Ergänzt werden sie durch Kuhlens «vier Prinzipien der Inklusivität, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit», Elemente aus der sogenannten Wissensökologie. Informationsethik kann sich so zu einem Diskurs unter Einbezug der Archive entwickeln.

Kulturwandel am Arbeitsplatz

Unter diesem Titel präsentiert Philipp Oggier seine Masterarbeit und den hier besprochenen Artikel zu den Veränderungen, welche durch die Einführung von elektronischen Records Management Systemen in der Verwaltung herbeigeführt und durch Records Management-Schulungen der Mitarbeitenden begleitet werden sollen. Change Management ist mehr als ein Schlagwort, gescheiterte Projekte und Innovationen wegen Widerstands der ausführenden Mitarbeitenden lassen sich zahlreich aufzählen. Ausbildung und Schulung sollen den Wandel erleichtern, der auf mehreren Ebenen stattfindet: neue Strategien im Umgang mit Daten und Dokumenten, neue Prozesse bei der Konzipierung von Informationssystemen sowie bei der Erstellung und Speicherung von Datenobjekten, die alle tiefgreifende Veränderungen des Arbeitsalltags der Mitarbeitenden provozieren. «Akzeptanz» wird an den Anfang von Veränderungsprozessen gestellt und gilt als Vorbedingung für einen erfolgreichen Kulturwandel. Oggier untersucht in seiner Arbeit solche Prozesse in der Verwaltung. Er stellt Records Management Schulungen vor, die unterschiedlich gestaltet sind, und ergänzt sie durch Literaturanalyse zu den Themenbereichen Management – Betriebsführung und Records Management – Geschäftsverwaltung in Verwaltung und Archiv mit dem Ziel, daraus Empfehlungen für die Praxis abzuleiten. Methodisch hält er sich an einen selbst entwickelten Fragekatalog, den er auf Forschungsliteratur und acht Experten aus der Praxis hin anwendet.

Wichtigstes Merkmal der veränderten Arbeitsweise ist das Teilen der Information gegenüber «information hiding». Aus der Literatur entnimmt Oggier die einzelnen Prozessschritte von den Ursachen des Veränderungsprozesses bis zur Etablierung neuer Arbeitsschritte nach Abschluss des Projekts. Unterschiedlich sind die Positionen in der Literatur, die ernsthaft danach fragen, ob der Mensch oder die Maschine der «härtere Faktor» für das Gelingen sei. Oggier unterstützt mit seinem Plädoyer für eine gute Schulung die sogenannt weichen Faktoren, stellt Motivation der Mitarbeitenden und gute Kommunikation in den Vordergrund. Darum ist Change Management notwendig schon in der Konzept- und nicht erst in der Einführungsphase. Die Schulung der Mitarbeitenden kann als Ausbildung (education) und Schulung (training) verstanden werden und umfasst – wie jede Aus- und Fortbildung – Ziele, Methoden, Inhalte, Evaluation. Sie sei nach Gillian Oliver und Fiorella Foscarini besonders erfolgreich, wenn dadurch Arbeitserleichterung erwächst, die auch in anderem, privaten Kontext umgesetzt werden kann.

Den Hauptteil seiner Untersuchung widmet Oggier Ausbildungsangeboten in Schweizer Archiven, die sehr unterschiedlich sind. Im Grundsatz geht es aber um Beratung der Kunden in Verwaltung und Archiv und die Schulung der Mitarbeitenden. Unterschiedlich ist die Haltung der Befragten zum zeitlichen Umfang der Trainings, der Rolle von sogenannten Super-usern und dem Einsatz externer Coachings. Schulung richtet sich ans Management, an RM-Verantwortliche und Mitarbeitende, findet als RM-Schulung oder als Arbeitsplatztraining mit ERMS-Systemen statt. Der Autor fordert die Archivverantwortlichen zu einer aktiveren Rolle auf, um Records Management-Prozesse am Anfang des Lebenszyklus von Unterlagen in der Verwaltung selbst zu etablieren und sich nicht durch andere Berufsgruppen verdrängen zu lassen.

Berufsbild im Wandel

Verdrängungsprozesse sind die Reaktion auf Berufsfelder, welche ungenügend auf Veränderungen reagieren. Sara Marty setzt mit ihrer Arbeit einen Kontrapunkt und stellt fest, dass Berufsbezeichnung und Selbstverständnis im Wandel begriffen sind, dass dieser aber nicht mit einem Verschwinden der Dokumentationsstellen einhergeht. Sie stellt sich die Frage, wie dem heterogenen Berufsfeld Kontur verliehen werden kann. Erstaunlich hoch ist die Liste der mit Dokumentation befassten Dokumentationsinstitutionen in der deutschen und der französischsprachigen Schweiz, die sie aus einer Auswertung der Diskussionsliste von swiss-lib zusammenstellt. Standardisierte Interviews sollen weitere Angaben zum Beruf des Dokumentalisten geben. Fachinformation oder Dokumentation, die den Nutzer einbezieht, Sammeln und Aktivität sind die semantischen Näherungen an den heute oft pauschal benutzten Titel I+D (Information und Dokumentation). Das organisierte Zusammenstellen der Information geschieht in der Organisation, vom centre de documentation bis zum neudeutschen Knowledge Center, welche die Aufgaben des Aufbewahrens, der Bearbeitung und der Verbreitung von Information erfüllen. Zu klären ist, wie sich der «informationelle Mehrwert», den eine Dokumentationsstelle erarbeitet, von den Aufgaben einer Bibliothek und teilweise auch eines Archivs unterscheidet. Darum hat sich die Autorin auch dazu entschlossen, die Zuordnung an vier Kriterien zu überprüfen: «1) drei Funktionen: Sammeln und/oder Nachweisen, Bearbeiten, Verbreiten, 2) aktive, nutzerorientierte Rolle mit Mehrwertcharakter, 3) Bezeichnung, 4) Selbstaffirmation».

Die Ausbildung zum «Dokumentalist, Dokumentar oder documentaliste hat sich als Erstausbildung bis auf Fachhochschulstufe durchgesetzt. Knapp 240 Fachinstitutionen beschäftigen sich in der Schweiz mit Dokumentation, ein Schwerpunkt liegt in der Romandie, teilweise im edukativen Bereich des Kantons Genf. Doch haben Reformen in der Lehrerausbildung mit der Etablierung an Pädagogischen Hochschulen auch in der Deutschschweiz zu neuen Dokumentationseinrichtungen geführt. Bewährt hat sich die Verbindung von Berufsberatung mit angegliedertem Informationszentrum. Schon älter ist die Nähe zu Wissenschaft und Forschung sowie zur Industrie – besonders zur Uhrenindustrie, ebenso zu internationalen Organisationen. Im Umbruch befinden sich die Dokumentationsstellen an Medienhäusern, die selbst einen grossen Wandel und eine zunehmende Konzentration erfahren haben. Doch Marty stellt in ihrer Analyse der Mitglieder des früheren Schweizerischen Verbands für Dokumentation SVD und ihrer aktuellen Liste nicht ein Dokumentationssterben fest, sondern «die grundlegenden Umschichtungen innerhalb der Dokumentationslandschaft», welche zu einer Integration der Dokumentationsstelle in die Unternehmensorganisation geführt hätten und durch «den Strukturwandel in der Wirtschaft» begründet seien.

In Interviews nach einem Fragekatalog fragt Marty nach dem beruflichen Selbstverständnis. Hier ist das Verschwinden der Berufsbezeichnung Dokumentalist festzustellen, es werden zumeist die geläufigeren Begriffe Archivar und Bibliothekarin gebraucht, obwohl das Arbeitsfeld der Dokumentation zuzuordnen wäre. Gemäss Marty mangelt es an Selbstvertrauen, dadurch kann der Bedarf an Information nur schlecht vermittelt werden, sodass in grossen Bibliotheken Bibliothekare diese Aufgaben übernommen haben. Neue Perspektiven bieten eine Tätigkeit im Bereich des strategisch in eine Organisation eingebundenen Wissensmanagements, mediale Vermittlung bis zu – ebenfalls im Umbruch befindlichen - journalistischen Aufgaben.

Marty ruft die Informationsfachleute dazu auf, sich neu zu positionieren als «wertgenerierende Arbeitskräfte innerhalb des Wirtschaftssystems». Dem stehen Konvergenztendenzen im Ausbildungs- und Tätigkeitsbereich der Informationsberufe in Archiv und Bibliothek entgegen. Provokativ ist der Ansatz, die Berufsverbände BIS und VSA zu fusionieren und die Berufsbezeichnung Dokumentalist fallen zu lassen. Vorbehalten ist eine Analyse im Mikrokosmos Genf und in der italienischen Schweiz. Nicht zuletzt geht es auch um eine Genderfrage. Alle Berufe mit hohem Frauenanteil erfahren eine Statusminderung.

Die Themen von Schalit, Oggier und Marty stellen professionelles Selbstverständnis im Wandel dar. Der Wandel ist teilweise von der Technik getrieben, es sind Reaktionen auf wirtschaftliche Entwicklungen und Konzentrationsbestrebungen, auf neue Ausbildungsgänge und neu zu entwickelnde Ausbildungen. Das Weiterbildungsprogramm in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft hat sich etabliert als Grundlage für eine führende Tätigkeit im Informationsbereich, die auf die Herausforderungen der Gesellschaft reagiert und Perspektiven eröffnet. Der Aufsatz von Schalit zur Informationsethik zeigt aber, dass wir unser Handeln rechtfertigen müssen, dass Verantwortung übernehmen ethisch begründet sein muss, dass professionelle Entwicklung nicht unabhängig von einer Berufsethik geschehen sollte, die Moral, Verantwortung und Nachhaltigkeit als Informationsethik verbindet.