Auf dem Weg zu einer Archivethik für das Informationszeitalter

Der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare im Kontext aktueller informationsethischer Entwicklungen

Elfriede Schalit

 


Grafik 1: Vom Archiv als Hort der Information zum Archiv als Teil der Infosphäre. Interpretation der Autorin nach Luciano Flordis RTP-Modell, besprochen in Kapitel 2 des vorliegenden Aufsatzes.

Einleitung

Thema des Aufsatzes[1] ist der Umgang mit ethischen Fragen in der gegenwärtigen Archivwissenschaft und -praxis. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert führten zu einem radikalen Bruch mit einer Archivtradition, die Archive und ihre Berufsleute als Hüter und Bewahrer der Zeugnisse mehr oder weniger geheimen Verwaltungshandelns versteht. Forderungen nach Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns sowie die rasanten technologischen Entwicklungen und neuen Machbarkeiten führten zu einem Verständnis des Archivs als kulturellem Gedächtnis und als Informationsdienstleister der Gesellschaft.[2] Die Aufgaben – und die Verantwortung – von Archivarinnen und Archivaren erweiterten sich dadurch drastisch zu einem komplexen und anspruchsvollen Berufsfeld.

Zu der Vielfalt an Themen, die mit diesem «Paradigmenwechsel» neu debattiert wurde, gehörten in der Schweiz seit den 1990er Jahren auch ethische Fragestellungen. Diese Debatten waren insbesondere darauf ausgerichtet, ethische Handlungsrichtlinien für Archivarinnen und Archivare zu etablieren und mündeten in die Einführung des Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare im Jahr 1998, welcher bis heute in unveränderter Form in Kraft ist.[3]

In der Philosophie sowie in den Bibliotheks- und Informationswissenschaften wiederum etablierten sich seit den 1980er Jahren disziplinübergreifende Debatten unter dem Begriff der «Informationsethik» oder «Ethics of Information». Diese standen unter dem Zeichen der neuen technologischen Machbarkeiten und involvierten Vertreterinnen und Vertreter aus Philosophie, Computerwissenschaften, Informationswissenschaften und weiteren Disziplinen. Bis heute versammeln sich unter dem Begriff der «Informationsethik» vielfältige Debatten unterschiedlicher theoretischer und praktischer Ausrichtung.

Obschon Archive mit ihren ethischen Fragestellungen thematisch innerhalb der Informationsethik zu verorten wären, sind sie in den Debatten der Informationsethik bis heute kaum präsent.[4] Der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare geht vom gesetzlichen und gesellschaftlichen Auftrag der Archive aus, ohne sich auf ethische Grundlagen aus der Philosophie zu beziehen. Ethische Fragen, etwa im Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen, werden in den archivwissenschaftlichen Debatten nur vereinzelt gestellt, den Rahmen geben auch hier gesetzlicher Auftrag, gesellschaftliche Forderungen sowie technische und organisatorische Machbarkeiten vor. Eine theoretische Ebene zur Ethik im Archivbereich, wie die Philosophie sie bietet, fehlt.[5]

Der vorliegende Artikel umreisst in einem ersten Kapitel die Entwicklung und Gegenwart der Archive in Bezug auf ethische Aspekte und befragt anschliessend den Kodex auf seine Nutzbarkeit und Aktualität für die ethische Reflexion und Praxis im heutigen Archiv hin. Hierbei stellt er in mehrfacher Hinsicht einen Aktualisierungs- und Erweiterungsbedarf des Kodex fest, der nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass der Kodex nun bereits seit über zwanzig Jahren in unveränderter Form besteht – gerade im digitalen Zeitalter eine halbe Ewigkeit.

Inwiefern die philosophische Informationsethik entgegen der gegenwärtig weitgehend getrennten Debatten einen Beitrag zu einer Erweiterung und Aktualisierung des Kodex leisten kann, bildet die anschliessende Fragestellung im zweiten Kapitel. Hierbei wird zunächst die Entwicklung der Informationsethik und deren Verankerung innerhalb der Ethik als philosophische Disziplin nachvollzogen. Anhand der Positionen von Rainer Kuhlen und Luciano Floridi werden dann konkrete inhaltliche Gemeinsamkeiten und Schnittstellen von Archivethik, respektive Kodex und Informationsethik identifiziert. Dabei fokussiert der Aufsatz insbesondere auf jene Aspekte, welche im ersten Kapitel als Erweiterungsbedarf des Kodex festgestellt wurden. Als Synthese verknüpft der Aufsatz im dritten Kapitel Kodex und Informationsethik. Dabei bietet er erste Vorschläge zu einer Integration der vorgestellten informationsethischen Grundlagenforschung Floridis und Kuhlens in den Kodex. Abschliessend werden die Ergebnisse des Aufsatzes in den Kontext einer noch weiter zu leistenden Forschung gestellt.

Archive im Informationszeitalter:
Neue Aufgaben – neue Verantwortung

Begriffe wie «Informationszeitalter», «Informationsgesellschaft» oder «Wissensgesellschaft», die sich rund um die gesellschaftlich und marktwirtschaftlich rasant zunehmende Bedeutung der Information etabliert haben, verweisen auf den allgemeinen Konsens eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels in enger Wechselwirkung mit den technischen Entwicklungen und ihren Möglichkeiten. Rund um den Begriff der «Information» als kleinstem gemeinsamem Nenner all dieser Entwicklungen haben sich neue Wissenschaften und Forschungsmethoden etabliert.[6]

Im Zuge der «informationellen Revolution»[7] und der «fortschreitenden telemediatisierten Lebensräume»[8] ist auch für die Archive ein Paradigmenwechsel eingetreten. Als Verwalter und Vermittler grosser Mengen an Information haben die Archive zunehmende Aufmerksamkeit erfahren; die Frage, welche Rolle das Archiv in der Gesellschaft einnimmt, wie es mit den ihm anvertrauten Informationen umgehen soll und in welcher Form/in welchem Ausmass es die moderne Technologie einbeziehen kann und muss, wurden an die Archive herangetragen.[9]

Die Erweiterung des Aufgaben- und Kompetenzbereichs von Archiven im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich einerseits durch das gesellschaftliche Verständnis eines transparenten, nachvollziehbaren und soweit als möglich öffentlichen Verwaltungshandelns als zentrales demokratisches Element. Anderseits löste die «Electronic Revolution»[10] mit ihren neuen Möglichkeiten, Prozessen und Bedingungen herkömmliche Grenzen auf.

Durch die Verlagerung der Information und Kommunikation auf elektronische Medien sahen sich Archive einer massiv zunehmenden Informationsmenge aus unterschiedlichsten Quellen und von unterschiedlicher Qualität gegenübergestellt, die sie zu bewerten, zu strukturieren und vor Manipulation zu schützen hatten. Traditionelle Modelle, wonach das Archiv erst bei der Übernahme von Unterlagen tätig wird, erwiesen sich angesichts dieser Herausforderungen als unzureichend: Die Kurzlebigkeit und Manipulierbarkeit elektronischer Formate erforderten ein früheres Eingreifen der Archive, um die Integrität und Authentizität der Unterlagen sicherzustellen. So erweiterte sich das Feld der Aktivitäten und Kompetenzen von Archiven immer mehr in Richtung der Schriftgutverwaltung oder des Records Managements.[11] Gefordert und umgesetzt wurde vielerorts ein Zusammenschluss von Archiv und Records Management. Auch Schweizer Archive übernahmen vermehrt Aufgaben im Records Management, respektive in der Schriftgutverwaltung.[12]

Mit der Erweiterung des Tätigkeitsfeldes und den geforderten neuen fachliche Kompetenzen zeichnete sich in der Praxis eine zunehmende Verantwortung ab. Dadurch, dass Archivarinnen und Archivare eine aktive Rolle einnehmen und die Information über ihre gesamte Lebensspanne hinweg «mitgestalten» – indem sie die Unterlagen bewerten, strukturieren, verzeichnen, sichern und vermitteln – tragen sie eine Verantwortung für die Überlieferungsbildung und das «Gedächtnis» einer Gesellschaft.[13]

Der «paradigm shift from being only the curators of historical documents to occupying the pivotal, strategic position of information manager in both the public and private sectors»[14] und die damit verbundenen praktischen und theoretischen Konsequenzen legten den Grundstein für die zunehmenden Debatten über die ethische Verantwortung des Archivs und ethische Grundsätze für das Handeln seiner Berufsleute.

Ethische Instrumente für die Berufspraxis: Kodizes und Debatten

Die oben dargestellten neuen Verantwortlichkeiten fordern normative und normierende Strukturen, welche das Handeln der Archivarinnen und Archivare im Sinne eines gesellschaftlichen Interesses leitet und einheitlich und transparent macht. Entwickelt wurden seit den 1990er Jahren Normen und Standards für die technische Ebene und die Verzeichnung sowie Archivgesetze, welche die Überlieferungsbildung regeln und den Archiven umfangreichere Kompetenzen sichern sollten. Auf beruflicher Ebene wiederum wurden ethische Handlungsgrundsätze etabliert. Ethische Regelungen betreffen Handlungen, welche eine gesellschaftliche Dimension involvieren und denen komplexe, oft pluralistische Wertestrukturen zu Grunde liegen, weshalb sie nicht in allgemein und jederzeit gültige Anleitungen gefasst werden können. Solche Richtlinien, auch Kodizes oder Berufsethiken genannt, werden insbesondere für Berufsgattungen erarbeitet, die in moralisch anspruchsvollen Bereichen tätig sind, etwa medizinisches Personal, Biologen oder Anwälte. Diese Berufsgattungen belegen eine Vertrauensstellung bei ihren Patienten oder Klienten und haben Zugang zu sensiblen Informationen.[15] Durch ihre Position können sie in moralische Dilemmata geraten, etwa, wenn ihre moralischen Pflichten gegenüber verschiedenen Interessengruppen untereinander konfligieren und sie eine Entscheidung zu Gunsten einer der Interessengruppen treffen müssen.[16]

Der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare:
Die Schweiz innerhalb einer weltweiten Bewegung

In den 1980er Jahren setzten weltweit Bestrebungen ein, ethische Richtlinien für Berufsleute im Informationsbereich zu erarbeiten, respektive zu überarbeiten.[17] Der Ethikkodex für Archivarinnen und Archivare des International Council on Archives ICA trat im Jahr 1996 in Kraft. Zahlreiche Mitgliederinstitutionen und
-organisationen weltweit übernahmen oder adaptierten ihn seither.
[18]

Die zeitgleich stattfindende schweizerische Debatte zur Einführung eines Ethikkodex für Archivarinnen und Archivare wurde vorangetrieben durch zwei politisch und gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse: Zum einen war dies der Fichen-Skandal, der 1992 die systematische Überwachung der schweizerischen Bevölkerung durch den Staat publik machte. Belegt und dokumentiert werden diese Überwachungen, weil 900'000 Akten – die Fichen – von oft jahrelang überwachten Personen durch Archive und Historiker vor der Vernichtung gesichert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten.[19] Zum anderen war dies die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit der Einsetzung der Bergier Kommission durch den Bundesrat im Jahr 1996. [20] Dass der Profit von Schweizer Banken mit dem Geld aus nachrichtenlosen jüdischen Vermögen sowie die Flüchtlingspolitik zur Zeit der Judenverfolgung nur aufgrund der erhaltenen Archivdokumente aufgearbeitet und belegt werden konnte, rückte die Bedeutung von Archiven als Orte der Rechenschaft, der kollektiven Erinnerung und sozialen Gerechtigkeit ins Bewusstsein der Allgemeinheit.[21]

Am 21. März 1997 fand in Bern die VSA-Arbeitstagung zum Thema «Die Bedeutung eines ’Code of Ethics’ für den Archivarsberuf» statt.[22] Diskutiert wurde die Übernahme des Ethikkodex des ICA als Ergänzung zu den bereits bestehenden rechtlichen Grundlagen und dem zu jener Zeit im Entwurfsstadium befindlichen Bundesgesetz über die Archivierung.[23] Die Annahme des Kodex folgte eineinhalb Jahre später an der Jahresversammlung des VSA.[24]

Als Ziel wurde formuliert, «dass der Kodex als moralisch verbindliche Grundlage die Selbständigkeit, die Reife, die Glaubwürdigkeit und den beruflichen Zusammenhalt der Archivarinnen und Archivaren in der Schweiz stärkt und zu einem Instrument ihrer Legitimität wird.»[25] Zudem sollte auf internationaler Ebene «eine internationale Normierung des Berufsverständnisses der Archivare und Archivarinnen» vorangebracht werden.[26]

Heute ist die Anerkennung des Ethikkodex für Archivarinnen und Archivare Voraussetzung für eine Mitgliedschaft beim VSA und in den einzelnen Institutionen auf unterschiedliche Weise präsent. Inhaltlich bietet er einen Orientierungsrahmen[27] und eine Ergänzung der gesetzlichen Ebene angesichts des Umstands, «dass die Archivierung sich in einem sehr komplexen Bereich bewegt, der nicht widerspruchsfrei ist, weil letztlich verschiedene und verschieden interpretierbare Grundrechte aufeinanderprallen.»[28]

Analyse des Kodex: Geltungsbereich, Inhalte, Aufbau

Der Kodex soll, wie weiter oben angesprochen wurde, sowohl repräsentative wie auch operative Funktionen erfüllen: Nach aussen hin stellt er gewissermassen ein «Gütesiegel» des Berufsstands dar, während er für die Berufsleute selbst Orientierungs- und Massstabscharakter hat und eine gemeinsame Identität schafft. [29] Schliesslich soll der Kodex aber auch als Instrumentarium im Berufsalltag dienen: So spricht das Vorwort von Verhaltensmasstäben, die der Kodex weitergibt, jedoch keine «spezifischen Lösungen». Die Website des VSA nennt die «Stärkung der Selbständigkeit und Reife,»[30] was auf eine Funktion des Kodex als Instrument für eine Entscheidungsfindung hindeutet, respektive für die Argumentation und Reflexion. Diese operative Funktion als eigentliche Kernfunktion und -legitimation eines Kodex wird in der nachfolgenden Analyse eingehender beleuchtet.[31]

Geltungsbereich/Zielgruppen

Angesichts des oben dargestellten Zusammenwachsens von Records Management und Archivwesen fällt auf, dass der Kodex noch vorwiegend auf die archivische Hälfte des Lebenszyklus’ verweist: Die Rede ist meist vom Gegenstand «Archivgut», «Archivmaterial» oder «Archivalien.» Hinweise auf den vorarchivischen Bereich finden sich in den Erläuterungen zum 5. Grundsatz. Archivarinnen und Archivare werden hier ethisch verpflichtet, sich auch im vorarchivischen Bereich einzubringen und die Zusammenarbeit zu suchen. Ihre (Mit-)Verantwortung setzt also bereits vor der Entstehung, respektive Übernahme von Unterlagen ein. Damit umfasst der Geltungsbereich des Kodex den «Lebenszyklus in seiner Gesamtheit,»[32] wobei der inhaltliche Schwerpunkt klar auf dem archivischen Teil des Zyklus liegt.

Als Zielgruppen, respektive Anwenderinnen und Anwender des Kodex werden im Vorwort zum Kodex Archivarinnen und Archivare als all jene Personen definiert, die «mit der Aufsicht, Betreuung, Bewahrung, Erhaltung und Verwaltung von Archiven befasst sind.» Damit sind jene eingeschlossen, die in einem Archiv angestellt sind und mit dem Archivgut in Kontakt kommen – oder zumindest kommen könnten. Mitarbeitende der abliefernden Stellen, darunter Records Manager, Informationsmanager und Informatikdienstleister sowie Archivbenutzerinnen und Benutzer gehören entsprechend nicht zu den Zielgruppen. Abhängig von der Interpretation der oben genannten Formulierung ist, inwiefern sich Entscheidungsträger auf strategischer und politischer Ebene an den Kodex gebunden fühlen müssen. Eher dagegen sprechen die Inhalte der Grundsätze, welche auf die praktische Archivarbeit ausgerichtet sind, was weiter unten noch ausgeführt wird.[33]

Angesprochen werden solche Entscheidungsträger wiederum in der Einleitung, wo «Institutionen, Archivverwaltungen und Verbände» aufgefordert werden, sich für die Übernahme, Verbreitung und Umsetzung des Kodex einzusetzen und Sanktionen für Widerhandlungen zu bestimmen.[34]

Inhalte der Grundsätze

In den 10 Grundsätzen werden zunächst (Grundsätze 1–5) die Grundlagen im Umgang mit dem Archivgut benannt mit Verweis auf die professionellen, institutionellen und rechtlichen Richtlinien. Der Erhalt der Unversehrtheit wird dabei als prioritär hervorgehoben:


Grundsätze im Umgang mit dem Archivgut

Schutz der Integrität (1), Bewahrung der Provenienz durch Bewertung, Auswahl und Aufbewahrung im Kontext (2), Schutz der Authentizität (3), Sicherung der Benutzbarkeit und Verständlichkeit (4), Schriftliche Dokumentation und Begründung der Bearbeitung (5), Einsatz für gute Verhältnisse in der Aktenführung und Ablage (5), Sicherstellung der Eignung moderner Informations- und Archivierungssysteme (5), Erhalt des archivischen Werts (3), sichere und bestmögliche physische Unterbringung (2), Berücksichtigung der professionellen, institutionellen und rechtlichen Richtlinien. Berücksichtigung legitimer Interessengruppen (1).

 

Es folgt der Hinweis auf die Berücksichtigung der verschiedenen legitimen Interessengruppen und den Widerstand gegenüber illegitimen Interessengruppen. Danach (Grundsätze 6-10) wird das Verhalten gegenüber den verschiedenen Interessengruppen präzisiert. Insgesamt sind im Kodex fünf Interessengruppen auszumachen, hinsichtlich derer das Verhalten von Archivarinnen und Archivaren reguliert wird:[35]

Verhalten gegenüber Direktbetroffenen

Respektierung der Datenschutz- und Persönlichkeitsrechte von Verfassern und Betroffenen (7).

Verhalten gegenüber Berufskolleginnen und –kollegen und Vertretenden nahestehender Berufsgattungen

Teilen der Erfahrungen und Forschungen (9), Förderung der Zusammenarbeit/ Vernetzung (10), Zusammenarbeit gegen Kriminalität, Zusammenarbeit zur Sicherung von Archivgut (2), Zusammenarbeit zur Rückführung verschleppten Archivguts (2), fachkundige Anleitung von Untergebenen und Auszubildenden (9), systematische Fortbildung, Weiterentwicklung (9), Zusammenarbeit in Respekt und Verständnis (10), Lösung von Konflikten auf Grundlage fachlicher und ethischer Richtlinien (10).

Verhalten gegenüber Anbietern

Bei Verhandlungen möglichst ausgewogene Entscheidungen anstreben (5), Entgegenwirkung unangemessener Nutzungsbeschränkungen, Bedingungen im Interesse der freien Nutzung (neu) verhandeln (6), keine berufsfremde Einmischung in Aufgaben und Pflichten erlauben (8), Vorsicht bei Angeboten von Dokumenten zweifelhaften Ursprungs (4), Kooperation bei der Verfolgung und Festnahme von Diebstahlverdächtigen (4).

Verhalten gegenüber Benutzenden

Einsatz für die weitest mögliche Benutzung (6), unparteiische Gewährung des Zugangs (6), Entscheidung über Veröffentlichung und Verschluss anhand der Gesetzgebung (7), unparteiische Beratung (6), Berücksichtigung wechselnder Forschungserfordernisse (4), Erstellung verschiedener Findmittel (6), Hilfsbereitschaft im Rahmen aller zumutbaren Anfragen (6), Erläuterung von Einschränkungen (6)

Verhalten gegenüber der Allgemeinheit

Handeln im Interesse der Allgemeinheit, keine Bevorzugung bestimmter Interessengruppen (8), keine Handlungen zum eigenen Vorteil, die anderen schaden (8), keine Tätigkeiten ausüben, die dem Vertrauen der Öffentlichkeit schaden (8), Schutz der nationalen Sicherheit (7), Erhaltung und Benutzung der dokumentarischen Überlieferung der Welt (durch Kooperation) (10).

 

Verteilt auf die Prinzipien und Erläuterungen wird auf verschiedene Situationen hingewiesen, welche zu Problemen führen können, etwa sich widersprechende Rechte legitimer Interessengruppen (1), der Druck von bestimmten Personen und (illegitimen) Interessengruppen, belastendes Material zu manipulieren (1), Angebot für Archivgut, welches in der eigenen Institution nicht optimal archiviert werden kann oder eigentlich Teil eines anderen Bestandes ist (2), interessante Angebote zweifelhaften Ursprungs/ aus illegalem Handel (4), persönliche Bereicherungsmöglichkeiten durch Archivalienhandel und -sammlung (8), Bevorteilung der eigenen Forschungstätigkeit durch privilegierten Zugang zu nicht freigegebenem Archivgut (8).

Damit bietet der Kodex neben den Prinzipien selbst auch Beispiele, die eine gewisse Bandbreite ethischer Problemstellungen im Archiv zeichnen.

Aufgrund des Entstehungszeitpunkts des Kodex findet sich in den Richtlinien kaum eine Bezugnahme auf technologische Entwicklungen und neue Medien. Die teilweise immensen Veränderungen der vergangenen 15 Jahre bleiben ausgeklammert und damit ein allfälliger ethischer Klärungsbedarf. In den einzelnen Richtlinien fehlen Themen wie der Ersatz von Papier-Originalen durch elektronische Unterlagen und generell das Verständnis des Originals (3), Fragen zu Datenschutz in elektronischen Medien (7), zur Zusammenarbeit mit Systementwicklern (5) oder zum Verhalten gegenüber Software- und IKT-Anbietern (5 oder 6).

Zudem fehlen ganze Themenkomplexe wie Internet oder Social Media obschon diese in den jüngeren Debatten präsent sind.[36] Auch die Frage, wie Archive sich zu wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erwartungen im Zusammenhang mit Big Data oder zum Problem des Digital Divide stellen, kann der Kodex nicht meistern.

Aufbau und Struktur

Der Kodex besteht aus einer Einleitung und 10 relativ konkreten Richtlinien. Konkretisiert werden die Richtlinien in den jeweils beigefügten Erläuterungen, welche verschiedene Aspekte und Beispiele nennen. Die Richtlinien sind hierarchisch weitgehend gleich gestellt und bilden zusammen mit den Erläuterungen eher thematische Gruppen denn inhaltlich-logisch voneinander ableitbare Prinzipien und Detailprinzipien. Ebenfalls horizontal ist keine Relation der Prinzipien untereinander festgelegt. Der Vorteil dieser Struktur liegt in der guten Lesbarkeit und der Möglichkeit, rasch konkrete Antworten zu finden.

Allerdings können die Prinzipien durch ihre praxisbezogenen Inhalte sowie die hierarchisch flache, lose Gruppierung früher oder später nur mehr einen Teil der auftretenden ethischen Fragen und Konflikte beantworten. Eine neue Frage fordert unter Umständen eine Ergänzung, was bei einer komplexen Thematik bald unübersichtlich wird. Auch kann bei konfligierenden Prinzipien, die untereinander nicht gewichtet sind, im konkreten Fall kaum eine Lösung gefunden werden. Die Richtlinien bieten zudem wenig Argumentationshilfe; die Regeln werden nicht hergeleitet und auch nicht begründet. Eine hierarchische Struktur bietet den Vorteil, dass Lösungsmöglichkeiten aus übergeordneten Prinzipien abgeleitet werden können und neue inhaltliche Fragen dadurch abgedeckt sind. Gleichzeitig ermöglichen Relationen unter den Prinzipien, Entscheidungen gegenüber Berufsleuten und Aussenstehenden argumentativ zu rechtfertigen.[37]

Auch als Instrument für strategische oder politische Entscheidungen lassen sich die Prinzipien in der bestehenden Form nur bedingt nutzen. Fragen zur ethischen Ausrichtung des Archivs in einem gesellschaftlichen Kontext erfordern stets eine Abstrahierung auf grundlegendere Prinzipien, etwa ein Recht auf freie Meinungsbildung. Eine solche Bezugnahme bieten die Prinzipien des Kodex jedoch gerade nicht. Somit sind strategische und politische Entscheidungsträger zwar nicht explizit als Zielgruppe des Kodex ausgeschlossen, ihr Bedarf wurde jedoch bei der formalen und inhaltlichen Ausgestaltung des Kodex kaum berücksichtigt.

Der Erweiterungsbedarf des Kodex:
Aktualisierung, Kontextualisierung, Funktionen

Der heutige Blick auf den Kodex von 1998, seinen Geltungsbereich, die Themen, Zielgruppen und seinen Aufbau zeigt, dass der Kodex nach wie vor einen Orientierungsrahmen für ethisches Handeln von Archivmitarbeitenden bieten kann. Ebenso zeigt die Analyse jedoch auch einen Anpassungs- und Erweiterungsbedarf.

Ein offensichtlicher Anpassungsbedarf besteht bei Inhalten der aufgeführten Richtlinien: Dem Kodex fehlt die aktuelle digitale Dimension. Digitale Geschäftsverwaltung, digitaler Zugang oder digitale Langzeitarchivierung etwa werden nur marginal angesprochen. Gar nicht erwähnt wird das Internet oder Social Media. In wichtigen Fragen zu Öffentlichkeit und Datenschutz, zu Sicherheit oder Zugänglichkeit kann der Kodex daher nicht zu Rate gezogen werden. Vorstösse wie die Erklärung des VSA und der Archivdirektorenkonferenz zur digitalen Archivierung[38] oder die Erklärung des VSA zu den Archiven in der Informationsgesellschaft anlässlich des UNO-Weltgipfels vom Dezember 2003 zur Informationsgesellschaft[39] könnten hier Ausgangspunkte für eine Aktualisierung bilden.

Auch was den Geltungsbereich des Kodex betrifft, wäre eine Überarbeitung zu begrüssen. Die Begrifflichkeit des «Archivguts» legt nahe, dass der Kodex sich auf den Umgang mit Unterlagen ab dem Zeitpunkt der Übergabe ans Archiv beschränkt. Auch wenn vereinzelt ein breiter Geltungsbereich angesprochen wird, so sind die Schwerpunkte und Begrifflichkeiten doch stark archivbetonend, was der heutigen Realität, wie sie zu Beginn des Aufsatzes geschildert wurde, nicht mehr entspricht.

In diesem Zuge ist auch die Definition der Zielgruppen zu überdenken; Die vielfältigen und breiten Einflüsse auf die Überlieferungsbildung und das «Archivgut», insbesondere auf digitale Unterlagen, erfordern eine Einbindung verwandter Berufsgruppen insbesondere der Records Manager, sei es als angesprochene Zielgruppe oder sei es durch Hinweise auf deren Kodizes, respektive auf Schnittstellen in ethischen Fragen.

Aus der Analyse ging hervor, dass die Funktionen des Kodex als Instrument für Entscheidungsfindung, Argumentation und Reflexion relativ beschränkt sind. Die zehn Richtlinien zählen das geforderte Verhalten oder die Einstellung von Archivarinnen und Archivaren in bestimmten Situationen, respektive bestimmten Personengruppen gegenüber auf, erlauben jedoch kaum eine Strukturierung und Bezugnahme der Richtlinien untereinander, respektive in einem Kontext übergeordneter Prinzipien oder gesellschaftlich etablierter Werte. Gerade in komplexen Situationen können solche Bezugnahmen und Hierarchisierungen jedoch essentiell sein für die Entscheidungsfindung. Wenn ethische Fragen aufkommen sind Archivarinnen und Archivare oft nicht allein; und häufig sind sie auch nicht unter ihresgleichen, sondern sie verhandeln mit Anbietern, Besuchern etc. Hierbei ist es wenig überzeugend, wenn sie das Gegenüber auf ein Prinzip verweisen, welches in ihrem Berufskodex steht; für den anderen gelten vielleicht andere Prinzipien – möglicherweise ebenfalls kodifiziert. Auch im Nachhinein ist eine getroffene ethische Entscheidung ist oftmals nicht selbsterklärend, zumindest wenn verschiedene legitime Interessengruppen im Spiel waren und es galt, diese gegeneinander abzuwägen. Dies betrifft ganz besonders die Führungsebene und Entscheidungsträger, die das Archiv innerhalb der Gesellschaft positionieren, Schwerpunkte und Strategien verhandeln.

Die Feststellung, dass der Kodex den aktuellen Bedürfnissen nicht mehr entspricht, bildet nun den Anstoss für einen Exkurs in die Philosophie. Dieser soll eine Brücke schlagen von der praktischen Ausrichtung des Kodex zur theoretischen Ebene der Informationsethik. Ziel ist es, den Kodex in Bezug auf diese Disziplin zu verorten sowie zu ermitteln, inwiefern Aspekte der inhaltlich sehr breit angelegten informationsethischen Grundlagenforschung Luciano Floridis und Rainer Kuhlens für eine Erweiterung des Kodex fruchtbar zu machen sind.

Informationsethik: eine junge, heterogene und
interdisziplinäre Bereichsethik

Eine starke Intensivierung ethischer Debatten lässt sich seit den 1980er Jahren – etwa zeitgleich mit den Debatten im Archivbereich – im gesamten Bereich von Information und Kommunikation feststellen; aufkommend mit der massenhaften Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien und der gesellschaftlichen Nutzung des Internets.

Der zunehmende und vielfältige Einfluss dieser neuen Technologien auf sämtliche Lebensbereiche und die vielen ungeklärten Fragen im Umgang mit (digitaler) Information wurden dabei als Gründe aufgeführt, über eine neue, separate Ethik spezifisch für diesen Themenbereich zu diskutieren. Bestehende Ethiken, so die Protagonisten der Debatte, müssten neu überdacht werden, da die ungeklärten Fragen aus einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel hervorgingen.[40] Robert Hauptmann, aus der Bibliothekswissenschaft stammend, betont den radikalen Wandel für die Informationsberufe.[41] Als «Informationelle Revolution» bezeichnet Luciano Floridi diesen Wandel, der sich durch die technologischen Innovationen ereignet hat und weiter ereignet, mit einer kaum mehr nachvollziehbaren Geschwindigkeit.[42]

Der Begriff der Informationsethik oder der Information Ethics selbst geht auf die zweite Hälfte der 1980er Jahre zurück und taucht in etwa zeitgleich in Beiträgen des amerikanischen Bibliothekswissenschaftlers Robert Hauptmann und des deutschen Philosophen Rafael Capurro erstmals auf.[43] Gegenstand der Informationsethik ist das Verhalten in «elektronischen, durch den Umgang mit Wissen und Information bestimmten Räumen.»[44] Damit ist die Informationsethik disziplinübergreifend. Die Archive als «Dienstleistungs- und Kompetenzzentren für nachhaltiges Informationsmanagement,»[45] deren aktuelle ethische Fragestellungen stark durchdrungen sind von den technologischen Innovationen der vergangenen Jahrzehnte, wie im ersten Kapitel dargelegt wurde, können sich dabei in ethischen Fragen ebenso durch die Informationsethik repräsentiert fühlen wie die Bibliotheken- und Informationszentren. Allerdings ist das Selbstverständnis von Bibliotheks- und Informationswissenschaften diesbezüglich weiter entwickelt als in der Archivwissenschaft.

Dass es sich bei der Informationsethik um eine sehr heterogene Teildisziplin mit unterschiedlichen Wurzeln und Bezugnahmen handelt, offenbaren bereits die Protagonisten der ersten Stunde: Hauptmann als Bibliothekswissenschaftler verortet die Informationsethik in der Informationswissenschaft und sucht nach Richtlinien für einen ethischen Umgang mit Informationen im Bereich der Informationswissenschaft und -praxis,[46] während der Philosoph Capurro Informationsethik als philosophische Teildisziplin der Ethik, respektive der angewandten Ethik etablieren möchte und sich an bestehenden philosophischen Ethiktheorien orientiert. Auch heute noch entwickeln sich die Debatten, welche unter dem Begriff der Informationsethik geführt werden, sehr heterogen.[47] Festgestellt werden kann sowohl eine inhaltliche Heterogenität, die sich aus der Vielfalt, Dynamik und Tragweite des Gegenstands ergibt und mit einer Interdisziplinarität einhergeht: Information in elektronischen Räumen und damit verbundene ethische Fragen betreffen die Informationsverwaltung eines Betriebes ebenso wie das Internet und soziale Netzwerke; technologische Fragen von Proprietät und Open Source oder publizistische Fragen zu Eigentum von Information versus Open Access sind gesamtgesellschaftlich relevant.[48] Zu dieser inhaltlichen, horizontalen Heterogenität kommt eine starke vertikale Heterogenität der Informationsethik durch die Interdisziplinarität und die unterschiedlichen Abstraktionsebenen zwischen Theorie und Praxis mit – zumindest vordergründig – unterschiedlichen Zielen. Die Kodizes für Berufsleute können entsprechend auf einer praktisch orientierten Ebene innerhalb der Informationsethik angesiedelt werden. Wie bereits für die Archivwelt angesprochen, bleibt trotz gemeinsamer Inhalte der Austausch zwischen theoretisch und praktisch orientierten Debatten oftmals gering.

Informationsethik in der Philosophie

Informationsethische Ansätze für Grundlagen, die «Schwierigkeiten antizipieren, Möglichkeiten identifizieren und Probleme, Konflikte und Dilemmata lösen,»[49] wie Floridi es fordert, gehen stets mehr oder weniger explizit auf ein ethisches Instrumentarium zurück, das der Domäne der philosophischen Disziplin der Ethik entstammt.[50] Die Ethik als klassische Disziplin der praktischen Philosophie[51] versteht sich als Wissenschaft vom moralischen Handeln[52] und stellt die Frage, was eine moralisch gute oder moralisch schlechte Handlung ist.[53] Handelnde Personen, Akteure stehen im Zentrum ethischer Reflexion,[54] welche davon ausgeht, dass Personen als vernünftig denkende soziale Wesen innerhalb einer Gemeinschaft handeln und sich an verschiedenen Interessen, Normen und moralischen Vorstellungen orientieren müssen.[55]

Zentral für die Ethik ist das methodische Vorgehen und die argumentative Begründung von Werturteilen.[56] Mehr oder weniger explizit wird dabei fast immer von gewissen obersten Prinzipien, respektive Universalprinzipien ausgegangen, aus denen sich detailliertere Prinzipien ableiten, respektive Maximen formulieren lassen. Wie die Argumentation zu verlaufen hat, auf welche (obersten) Prinzipien sie sich berufen kann und nach welchem Massstab Handlungen beurteilt werden, ist Gegenstand der unterschiedlichen ethischen Theorien.

Auf die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen und ethischen Fragestellungen im Zuge einer enormen Zunahme technologischer Innovation antworten die im 20. Jahrhundert ausgesprochen einflussreichen Theorien der Verantwortungsethik und der Diskursethik.[57] Die von Hans Jonas entwickelte Verantwortungsethik geht von der in enormem Tempo fortschreitenden technologischen Entwicklung aus mit ihren komplexen, teilweise weit in die Zukunft reichenden Folgen – nicht nur für den Menschen, sondern auch für Tiere, Pflanzen und unser gesamtes Ökosystem. Jonas fordert in seiner einflussreichen Schrift Das Prinzip Verantwortung von 1979 die Übernahme von Verantwortung auch für langfristige Folgen einer Handlung für Mensch und Umwelt. [58]

Die Diskursethik wiederum, welche von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel geprägt wurde, nimmt die immer zentraler werdende globale Vernetzung unterschiedlicher Gesellschaften und den zunehmenden Anspruch auf Kommunikation und Verhandlung von Entscheidungen zum Ausgangspunkt.[59] Sie setzt als Prinzip für die ethische Beurteilung einer Handlung das «Verfahren der moralischen Argumentation»: Ethische Normen müssen im Diskurs unter Zustimmung aller Betroffenen und unter Akzeptanz der Folgen daraus resultierender Handlungen erarbeitet werden.[60]

Die Protagonisten der nachfolgend vorgestellten informationsethischen Positionen, Luciano Floridi und Rainer Kuhlen, bewegen sich beide vor dem Hintergrund dieser dargestellten Entwicklungen. Sowohl Luciano Floridi als auch Rainer Kuhlen beziehen sich auf die Verantwortungsethik: Kuhlen mit seinem Ansatz der Informationsökonomie und Floridi mit seiner Erweiterung des Verständnisses moralischen Handelns und moralischer Verantwortung. Kuhlen versteht zudem die Diskursethik als Methode zur Etablierung moralischer Normen und adaptiert sie für den Informationsbereich.

Informationsethik bei Rainer Kuhlen und Luciano Floridi: Geltungsbereich, Akteure, Methodik und Prinzipien

Luciano Floridis Makroethik mit universalem Geltungsbereich

Die informationelle Revolution hat gemäss Floridi dazu geführt, dass wir heute in einer Infosphere oder Infosphäre leben; analog zum Begriff der Biosphäre für einen Raum, der Leben ermöglicht, bezeichnet die Infosphäre unsere Informationswelt und die Gesamtheit aller informationellen Entitäten darin. Dazu gehören Personen als Informationserzeuger und -verarbeiter, die Informations- und Kommunikationstechnologien sowie sämtliche «Dinge» – denn in der Infosphäre stellt jeder Gegenstand primär ein Informationsobjekt dar. [61]

Da die Infosphäre alle «Dinge» einschliesst, muss gemäss Floridi auch der Geltungsbereich der Informationsethik umfassend sein. Anstelle einzelner Informationsethiken für bestimmte Bereiche, Akteure, Technologien oder Handlungen – Mikroethiken nach Floridi – muss eine gemeinsame theoretische Basis für alle informationsethischen Themen entwickelt werden – eine Makroethik.

Die Entwicklung der Infosphäre und damit den Bedarf eines gemeinsamen theoretischen Fundaments der Informationsethik zeigt Floridi anhand eines Rückblicks auf die Entwicklung der Disziplin seit Ende der 1980er Jahre auf, wobei er auf drei Entwicklungsschritte der Informationsethik eingeht: Mit dem Ursprung der Informationsethik aus der Bibliotheks- und Informationswissenschaft in den 1980er und 1990er Jahren wurde Information insbesondere in ihrer Funktion als Ressource für ethisches Handeln untersucht: Die Tatsache, dass wir Information benötigen und nutzen, um ethische Entscheidungen zu treffen, macht die effiziente, zuverlässige und vollständige Verfügbarkeit von Information zu einem Thema ethischer Reflexion.[62] In einer zweiten Etappe etablierten sich zunehmend Fragestellungen, welche die ethischen Implikationen von Information als Produkt untersuchten: Ethisch relevant ist nicht nur, dass Information zur Verfügung gestellt wird, sondern auch in welcher Qualität: Information muss korrekt und verlässlich und ihre Urheberschaft nachvollzielbar sein. Verfälschung, Vorenthaltung oder Plagiat werden zu informationsethischen Themen.[63] Mit der Informationsgesellschaft rückten schliesslich in einem dritten Schritt Handlungen in die informationsethische Betrachtung, welche Informationsgewinnung, Informationszerstörung oder -manipulation anstreben, also ein Informationsziel aufweisen. Die Veröffentlichung privater oder geheimer Information, unerlaubter Zugriff und Hacking, Kontrolle, Zensur, freie Meinungsäusserung wurden als informationsethisch relevante Handlungen untersucht.[64]

Insbesondere mit diesem dritten Schritt erweitert sich das Feld der Akteure im Informationsumfeld radikal: Ethische Fragen im Zusammenhang mit Information sind nicht mehr nur Angelegenheit bestimmter Berufsleute, sondern betreffen alle. In einem Umfeld, in dem jeder Information erzeugen, weitergeben, beschaffen oder verändern kann, darf sich niemand den damit verbundenen ethischen Fragen verweigern: Jeder ist ein Agent im Umgang mit Information und muss sich mit ethischen Fragen befassen.

Der vierte Schritt, die Verknüpfung der Mikroethiken zu einer Makroethik, lässt sich Floridi zufolge dann vollziehen, wenn ein gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Sichtweisen gefunden wird.[65] Dieser besteht, wie Floridi darlegt, in dem oben erwähnten Verständnis, «that interprets reality – that is, any system – informationally.»[66] Damit bezieht sich die Informationsethik auf alle «Dinge», jede «Existenz».[67]

Die «Infosphäre» ist nicht mehr ausserhalb unseres täglichen Lebens lokalisierbar – etwa in Form einer Bibliothek – sondern umfasst tatsächlich unsere gesamte Umwelt, eingeschlossen uns selbst.[68]

Die vier Entwicklungsstadien der Informationsethik stellt Floridi anhand eines Modells dar, genannt «Resource/Target/Product»-Modell. Dabei bildet die Grafik links das Verständnis der drei beschriebenen Mikroethiken ab: Hier nimmt ein Agent bestimmte Handlungen in Bezug auf eine externe Infosphäre vor. Mit dem vierten Schritt hingegen, rechts dargestellt, werden Agent, Objekte, Handlungen und Technik innerhalb der Infosphäre zum Gegenstand und Gegenstandsbereich einer Makro-Informationsethik. Erst mit diesem universalen Verständnis kann die Informationsethik zum Instrument werden, die ethischen Herausforderungen, welche uns in der Infosphäre begegnen, zu klären und zu lösen.[69]


 

Grafik 1: Floridis RTP (Resource/Target/Product)-Modell illustriert die vier Entwicklungsschritte der Informationsethik.[70]

Akteure und Methodik in Rainer Kuhlens diskursethischem Ansatz

Während Floridis Bestreben einem gemeinsamen Fundament für die Informationsethik gilt, untersucht Rainer Kuhlens Ansatz die konkreten Bedingungen moralischen Handelns in der Gesellschaft. Ausgangspunkt ist dabei das Verständnis der Informations- oder Wissensgesellschaft, wie es seit dem neuen Jahrtausend durch Politik, Institutionen, Wissenschaft und Medien geprägt wird. Durch das Zusammenspiel verschiedener Interessen und Akteure entwickeln sich gemäss Kuhlen die Normen im Umgang mit Information und Wissen – auch die moralischen Normen. Da im Informationsbereich ausgesprochen unterschiedliche, oft im Widerspruch zueinander stehende Interessen wirksam sind, müssen Verhandlungen und Kompromisse eingegangen werden.[71]

Kuhlen unterscheidet zehn verschiedene Akteursgruppen im Umgang mit Wissen und Information und definiert ihre zentralen Interessen, welche sich wie folgt zusammenfassen lassen:[72]


 

Akteursgruppe

Zentrale Interessen

Urheber, Künstler

Verdienst, Rechte, geistiges Eigentum, Anerkennung, Austausch, Verbreitung der Publikationen

Wissenschaft, Technik

Anerkennung, Verbreitung der Ergebnisse, Vernetzung,
freier Zugang zu wissenschaftlichen Quellen

Ausbildung

Freier/kostengünstiger Zugang, gesicherte Qualität, Austausch

Freie-und-offene-Software-
Bewegung

Freie Zugänglichkeit von Softwareprodukten und Quellentexten,
Modifikation und Weitergabe

Staat

Gesetzeskonformität, Rechtsicherheit, Autorität

Kommerzielle Hersteller,
Verlage, Content Provider

Optimale Bedingungen für die kommerzielle Verwertung,
Rechtssicherheit, Ausrichtung an Endverbrauchermärkten

Nutzer, Verbraucher

Freier, schneller, günstiger Zugang, schnelles Finden, Qualität,
Kompatibilität von Produkten, leichte Bedienung, Privatsphäre,
freier Austausch und Handel

Telekommunikation, Service/ Access Provider

Umfangreiche kommerzielle Verwertung des Angebots,
Entwicklung und Verbreitung von Technologien

ICT-Industrie

Kommerzielle Verwertung, keine staatlichen Eingriffe

Bibliotheken, Vermittler

Zugang zu so viel Information wie möglich gewähren,
Qualitätssicherung, gute Nachweissysteme, Sicherung der
Rechte von Produzenten und Nutzern, transparente Urheber-,
Verwertungs- und Nutzungsrechte, Zusammenarbeit mit anderen
Institutionen, Langzeitarchivierung

 

Die Auflistung macht deutlich, dass insbesondere kommerzielle und nichtkommerzielle Interessen sich entgegenstehen, wie Deregulierung – Regulierung oder Proprietät – freier Zugang.

Kuhlen zufolge können zur Lösung von Interessenkonflikten zwischen oder innerhalb von Akteursgruppen oft keine Grundsätze ins Feld geführt werden, welche für alle Beteiligten akzeptierbar sind. Stattdessen ist es die Aufgabe der Informationsethik, «Transparenz in auftretende Interessenskonflikte zu bringen und von den jeweiligen Akteursgruppen zu verlangen, dass sie ihre Partikularinteressen soweit wie möglich an einen auszumachenden normativen Konsens der Öffentlichkeit anpassen.»[73] Damit ist Informationsethik «praktizierte Aufklärung.»[74] Die Methode hierfür ist der Diskurs, basierend auf den Grundsätzen der Diskursethik von Habermas und Apel. Wie Habermas führt Kuhlen für den informationsethischen Diskurs die Voraussetzung der Rationalität an: Interessen werden argumentativ begründet und verteidigt; es gelten die gleichen Rechte für alle Teilnehmenden und die Entscheidung fällt zu Gunsten des besten Arguments oder der besten Argumentationskette.»[75]

Informationsethische Prinzipien bei Kuhlen und Floridi

Die «praktizierte Aufklärung» besteht für Kuhlen nicht nur in der Bereitstellung von Instrumenten zur Konfliktlösung wie oben dargestellt, sondern ebenso in einer Reflexion und Analyse von Werten und einer inhaltlichen Mitgestaltung von Diskursen. Hierzu führt er vier «elementare ethische Grundwerte»[76] ins Feld, auf welche eine reflektierte und ausgeglichene Informationsethik zurückgeführt werden kann.[77] Diese «informationsethischen Leitziele»[78] sind Inklusivität, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Sie orientieren sich am aufklärerischen Prinzip der Freiheit, an Rawls Theorie der Gerechtigkeit sowie der Diskursethik und der Verantwortungsethik.[79] Die vier Prinzipien bilden ein gesellschaftlich und politisch abgestütztes ethisches Verständnis ab; so führt Kuhlen verschiedene Menschenrechtsvereinbarungen an, deren Prinzipien mit Kuhlens Leitzielen übereingehen.[80] Das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit[81] etwa lässt sich aus dem Prinzip der Selbstbestimmung ableiten, ebenso das Recht auf Schutz der persönlichen Daten, und die Privatheit oder die gleichberechtigte, umfassende Nutzbarkeit von Information und Informationsdiensten für alle.[82] Als Leitziele müssen diese Prinzipien immer wieder aktiv in den ethischen Diskurs zur Informationsgesellschaft eingebracht werden, um die Entwicklung der Normen der Informationsgesellschaft mitzugestalten.[83] Zentrales Anliegen ist für Kuhlen, abgeleitet von den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit, den Zugang zu Information und Wissen so frei wie möglich zu halten. Unter der Bezeichnung der «Wissensökologie»[84] leitet Kuhlen weitere Prinzipien ab, die dieses Anliegen konkretisieren.[85] Kuhlen selbst engagiert sich in verschiedenen ethischen Gremien, wo er auch seinen eigenen Ansatz der Wissensökologie erfolgreich einbringt.

Anders als Kuhlens informationsethische Prinzipien, welche als Leitziele für den konkreten Diskurs dienen sollen, versteht Floridi seine vier Basisprinzipien in erster Linie als theoretische Grundlage einer universalen Informationsethik. Wiederum als kleinsten gemeinsamen Nenner formuliert er vier Prinzipien, welche zu Erhalt, Pflege und Erweiterung von Information in der Infosphere beitragen. Die Prinzipien werden mittels des Begriffs der Entropie formuliert, welcher für die Verringerung oder Zerstörung von Information steht:[86]

«entropy ought not to be caused in the infosphere (null law);

entropy ought to be prevented in the infosphere;

entropy ought to be removed from the infosphere;

the flourishing of informational entities as well as of the whole infosphere ought to be promoted by preserving, cultivating and enriching their properties.»[87]

Erklären sollen diese Prinzipien «in very broad terms, what it means to live as a responsible and caring agent in the infosphere.»[88] Die Reihenfolge ihrer Auflistung bildet eine zunehmende ethische Relevanz ab: Während die Erfüllung des ersten Prinzips keine Veränderung des Ist-Zustands bewirkt – «null law» – steigt der moralische Wert einer Handlung bei Erfüllung des zweiten bis vierten Prinzips.

In ihrer abstrakten Formulierung sind die vier Prinzipien Floridis kaum geeignet für die konkrete Anwendung in einem informationsethischen Konflikt.[89] Eher beschreiben sie eine informationsethische Perspektive, anhand derer die in der Gesellschaft bestehenden pluralistischen moralischen Verhaltensweisen überprüft werden können. Floridis eigene Beispiele zu den Prinzipien legen nahe, dass er die Anwendung in Verbindung und Übereinstimmung mit einem gesellschaftlich etablierten ethischen Verständnis ansieht.[90] Ein solches Verständnis eröffnet wiederum die Möglichkeit, Floridis Prinzipien beispielsweise mit der Diskursethik zu verknüpfen, was in der Fachwelt bereits als «fruchtbare» Möglichkeit zur Weiterentwicklung von Floridis Ethik diskutiert wurde.[91]

Auf dem Weg zu einer Archivethik für Vision und Praxis

Von der Mikroethik zur Makroethik – wo steht der Kodex?

Der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare und der am Ende des ersten Kapitels formulierte Erweiterungsbedarf lässt sich innerhalb der Entwicklungsschritte der Informationsethik, wie Floridi sie von der Mikroethik zur Makroethik nachzeichnet, verorten.

Die drei Entwicklungsschritte der Mikroethiken gehen überein mit Beobachtungen, wie sie im ersten Teil dieser Arbeit aus der Archivwissenschaft geschildert wurden. Nachzeichnen lässt sich diese Entwicklung im Wandel der Wahrnehmung von Archiven und ihren Berufsleuten von einer ressourcenbasierten Sichtweise, in der Archivarinnen und Archivare die ihnen anvertraute Information insbesondere schützen, erhalten, sichern und zur Verfügung stellen müssen zu einer immer differenzierteren Wahrnehmung dieser Ressource selbst, ihrer Prozesse, Abhängigkeiten und Manipulierbarkeiten. Damit einher geht die Wahrnehmung der komplexen, anspruchsvollen und verantwortungsvollen Aufgabe der Berufsleute in Archiven. Der Kodex selbst umfasst Richtlinien zu allen drei Mikroethiken, also Richtlinien zur Sicherung und Zugänglichkeit von Information, Richtlinien, welche die Qualität von Information betreffen sowie Richtlinien zur Verhinderung von Manipulation und zur Beschaffung.

Floridis vierter Schritt zu einer Makroethik, welche informationsethische Regelungen in einen Gesamtkontext der Infosphäre überführt, könnte bezogen auf das Archiv bedeuten, dass das «Archivgut» als eine Zusammenstellung von «Information» aus der Infosphäre wahrgenommen wird; Es befindet sich nicht in einem linearen, der Aussenwelt gegenüber abgetrennten Zyklus, wo es von einer klar definierten Gruppe von Akteuren – den Archivarinnen und Archivaren – betreut wird. Vielmehr unterliegt es zahlreichen Einflussfaktoren, gesellschaftlichen und technischen, und seine Überlieferung, Sicherung und Qualität sind abhängig von vielen unterschiedlichen Akteuren. Die Positionierung des Archivs, die Kriterien der Überlieferungsbildung und die Vorgehensweisen der Sicherung, Erhaltung und Zugänglichmachung werden dabei immer wieder von aussen herausgefordert und verlangen von Seiten des Archivs eine teilweise Neuorientierung.

Dieser vierte Schritt wird im Kodex nur angedeutet, etwa in der Aufforderung zu Weiterbildung oder zur internationalen Vernetzung. Wiedererkennen lässt er sich in der Feststellung am Ende des ersten Kapitels im vorliegenden Aufsatz, dass eine Kontextualisierung der Themen und Prinzipien eine breitere Anwendbarkeit des Kodex ermöglichen würde. Die Wende von den Mikroethiken zu einer Makroethik im Informationsbereich wäre so zunächst als ein veränderter Anspruch an den Kodex identifizierbar. Floridis Ansatz der Makroethik könnte hier für die nähere Definition dieses Anspruchs, sowie zur Reflexion oder auch Antizipation weiterer Entwicklungen genutzt werden.

Geltungsbereich des Kodex im Kontext der Infosphäre

Geltungsbereich und Akteure von Floridis Makroethik sind, wie im zweiten Unterkapitel dargelegt wurde, global. Auch bei Kuhlen betrifft die Informationsethik sämtliche Bereiche von Wissen und Information sowie alle Personen. Der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare hingegen bezieht sich mit seinen Richtlinien nur auf einen kleinen Geltungsbereich; dieser jedoch liegt unverkennbar innerhalb der Infosphäre und stellt einen Ausschnitt dar mit Objekten und Akteuren. Der Beitrag, den die Informationsethik in Bezug auf Geltungsbereich und Zielgruppen des Kodex liefern kann, liegt daher vor allem darin, ein Verständnis zu fördern, welche den Geltungsbereich des Kodex als Teil der Infosphäre versteht. Die Abgrenzung eines Teilbereichs in diesem stark vernetzten und von vielerlei Überschneidungen und Abhängigkeiten geprägten Gesamtbereich funktioniert insbesondere dann, wenn innerhalb des Teilbereichs Verweise auf die Umgebung und die bestehenden Relationen gegeben werden. Erst dann lässt sich der Teilbereich als solcher identifizieren und verorten und die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen und ihren Protagonisten beschreiben.

Für den Geltungsbereich des Kodex bedeutet dies die Verortung des «Archivguts» in einer Infosphäre, wo jede und jeder Autor, Lektor, Leser, Nutzer ist, Entscheidungen über sensible Daten von sich selbst und anderen trifft und vieles mehr. Zudem sollte der Kodex das Verständnis von Archivarinnen und Archivaren als eine von vielen Akteursgruppen betonen, welche eingebunden ist in eine Infosphäre, in die unterschiedliche, zu verhandelnde Interessen eingebracht werden. Dies bedingt eine Erweiterung des Kodex, welche die beteiligten Interessengruppen nicht nur nennt und diese auffordert, die Zusammenarbeit gemäss den Grundsätzen zu gestalten, sondern auch ihre Rollen und Interessen aufzeigt und deren Verknüpfung mit den Grundsätzen für Archivmitarbeitende ermöglicht. Hier bietet Kuhlen mit seiner Auflistung und Charakterisierung der Akteursgruppen einen Anknüpfungspunkt.

Erweiterung und Gliederung der Prinzipien

Ein zentraler Aspekt der Makroethik, wie Floridi sie im vierten Entwicklungsschritt der Informationsethik darstellt, fehlt im Kodex gänzlich: Die Bezugnahme auf gemeinsame übergreifende Prinzipien in der Infosphäre. Die verschiedenen Richtlinien des Kodex werden nebeneinander gestellt, eine gegenseitige Bezugnahme oder die Bezugnahme auf übergreifende Prinzipien bleiben aus. Auch hierzu wurde im ersten Kapitel ein Bedarf formuliert und eine Strukturierung und Erweiterung der Richtlinien um übergreifende Prinzipien für die Funktion des Kodex als Instrument zur Reflexion, Argumentation und Entscheidungsfindung gefordert.

Die von Floridi formulierten vier Prinzipien, die als Basis einer Makroethik sämtlichem moralischen Handeln in der Infosphäre zu Grunde liegen, sind, wie schon weiter oben festgestellt wurde, eher als Formulierung eines kleinsten gemeinsamen Nenners zu verstehen denn als Grundlage oder Rechtfertigung für Entscheidungen. Als solcher Nenner können sie jedoch einen Bezugspunkt bilden, welcher unabhängig von Interessen und persönlichen Motiven der Handelnden gilt. In dieser basalen Funktion beschreiben sie auch die Aufgabe und Tätigkeit des Archivs und seiner Berufsleute und stellen es damit in einen gemeinsamen Raum moralischen Handelns, die Infosphäre. So verfolgen Archive das gleiche grundlegende Ziel wie andere Institutionen und Akteure im Informationsbereich: den Erhalt und die Vermehrung von Information. Wie sie dieses Ziel umsetzen, hängt von gesellschaftlichen Strukturen und wirtschaftlichen Interessen ab sowie den Aufgaben, die den einzelnen Akteuren darin zukommen.

Um von Floridis basalen Prinzipien zu Handlungsgrundsätzen zu gelangen, sind weitere Prinzipien erforderlich, welche diese Basis in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft interpretieren.[92]

Auf einer immer noch übergreifenden Ebene, jedoch Bezug nehmend auf die Bedingungen der Informationsgesellschaft, entwickelt Kuhlen seine vier Prinzipien der Inklusivität, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Hierbei handelt es sich um Prinzipien, von denen zahlreiche etablierte ethische Werte und Normen abgeleitet werden können, beispielsweise das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Schutz der persönlichen Daten und der Privatheit, sowie die gleichberechtigte Nutzung von Information. Etabliert wurden diese Werte unter anderem in der Willenserklärung des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft WSIS von 2001/2005, in Erklärungen der Menschenrechte oder mit UNESCO-Resolutionen. Von den ethischen Prinzipien, die Kuhlen in seiner Wissensökologie anführt, sind insbesondere die Folgenden für das Archiv zentral und teilweise als spezifischere Forderung auch im Kodex präsent: Der freie Zugriff auf Wissen und Information, das Diskriminierungsverbot – Überwindung der Digital Divides, Sicherung kultureller Vielfalt, Bewahrung von Kreativität und Innovation, Sicherung medialer Vielfalt, Kontrolle technischer Informationsassistenz durch Entwicklung von Informationskompetenz, Langzeitarchivierung und -sicherung von Wissen.[93]

Diese Ebene von Prinzipien für eine politische, institutionelle und gesellschaftliche Werteentwicklung und Entscheidungsfindung, wie sie Kuhlen mit den Prinzipien der Wissensökologie zeichnet, kann als ein Bindeglied verstanden werden, welches von den abstrakten Prinzipien Floridis und den vier übergeordneten Prinzipien der Inklusivität, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zur Ebene (berufs-)spezifischer Handlungsrichtlinien überführt, wie sie der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare bietet. Diese verbindende Ebene hat, wie im ersten Kapitel festgestellt wurde, als eine ergänzende, übergeordnete Ebene zu den Handlungsrichtlinien im Jahr 1998 nicht Eingang in den Kodex gefunden. Im Sinne des festgestellten Erweiterungsbedarfs des Kodex aus dem ersten Teil könnte eine solche Ebene den Kodex jedoch um drei wichtige Funktionen ergänzen: Als Instrument für die Reflexion und Theoriebildung, indem sie den Kodex innerhalb eines gesellschaftlichen Kontexts verortet. Dann für die Argumentation und Begründung von Entscheidungen auch gegenüber aussenstehenden Interessengruppen. Und schliesslich für die Entscheidungsfindung, da die übergeordneten Prinzipien eine Verknüpfung und damit ein Abwägen der einzelnen Grundsätze untereinander ermöglichen.

Diese Erweiterung der Funktionen ist insbesondere auch hinsichtlich des festgestellten Mangels des Kodex als Rüstzeug für eine Führungs- und Entscheidungsebene im Archiv von Bedeutung.

Die Einführung einer dritten Ebene von Grundprinzipien im Kodex, wie sie etwa die vier Prinzipien Kuhlens darstellen, könnte ebenfalls erwogen werden. Diese böten insbesondere für die Reflexion und die Argumentation die Möglichkeit eines von Inhalten losgelösten, übergreifenden Bezugrahmens – in Entsprechung zu Floridis viertem Schritt der Entwicklung der Informationswissenschaft hin zu einer Perspektive der Infosphäre.

Der Diskurs für Verhandlung und Mitgestaltung der Informationsethik

Wie bereits ausgeführt sind zahlreiche Interessengruppen, respektive Akteurgruppen, in den Umgang mit «Archivgut» involviert. Diese treten im Kodex als Zielgruppe (Archivarinnen und Archivare) und als Betroffene (jene, die mit der Zielgruppe Kontakte und Zusammenarbeiten pflegen) auf. Dabei sind die Vertreter der «Betroffenen» trotz dieser Abgrenzung zu den Handelnden als (Verhandlungs-) Partner in der Infosphäre zu verstehen, mit übereinstimmenden und abweichenden Zielen und Interessen.

Da, wie am Schluss des ersten Unterkapitels beschrieben wird, Archive und ihre Berufsleute im Austausch mit verschiedenen Interessengruppen agieren und hierbei oft keine Macht- oder Monopolsituation innehaben, können sie sich in Konfliktsituationen oder bei divergierenden Interessen nicht mit der Darlegung ihrer ethischen Richtlinien begnügen, sondern müssen argumentieren. Hierfür liefert eine Hierarchisierung von Prinzipien, wie sie bei Kuhlen und Floridi vorgenommen wird, eine wichtige Grundlage. Über die Art und Weise des Argumentierens können die Regeln der Diskursethik, wie sie im zweiten Kapitel vorgestellt wurden, Anhaltspunkte liefern. Dabei wäre nicht zuletzt Kuhlens Vorschlag für den Ablauf eines informationsethischen Diskurses als Instrument für die Praxis zu prüfen. Generell handelt es sich bei der Diskursethik um ein Instrumentarium, das sowohl für die Praxis der Archivmitarbeitenden als auch für eine strategische oder politische Entscheidungsebene eingesetzt werden kann.

Mit Kuhlens Verständnis, wonach die Diskurse der verschiedenen Akteursgruppen auch die Theoriebildung der Informationsethik prägen, ist zudem eine Präsenz der Akteursgruppe Archive in übergreifenden informationsethischen Diskursen gefordert. Eine solche Präsenz ermöglicht es den Archiven, ihre Interessen und Ziele einzubringen und die Informationsethik, wie sie zunehmend als Makroethik entwickelt wird, mitzugestalten.

Ergebnisse als Ausblick

Der Brückenschlag von der Archivpraxis, respektive vom Kodex ethischer Grundsätze zur Informationsethik Rainer Kuhlens und Luciano Floridis eröffnete vielfältige Möglichkeiten, den Kodex als Instrument für Reflexion, Argumentation und Entscheidungsfindung zu erweitern. Insbesondere was Aufbau, Funktionen und Verortung im informationsethischen Kontext betrifft, lassen sich die vorgestellten Ansätze für die praktisch ausgerichtete Ebene des Kodex nutzen. Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes konnten die Bezüge und Möglichkeiten vorerst nur auf einer theoretischen Ebene skizziert werden. Der konkrete Kontext von Archiv-, Bibliotheks- und Informations- respektive Dokumentationsinstitutionen oder gar die praktischen Bedingungen einer Aktualisierung des Kodex blieben unberücksichtigt.[94]

Entsprechend diesem sehr schmalen und punktuellen Brückenschlag bleibt der Ausblick auf eine Vielfalt weiterer und vertiefter Forschungsmöglichkeiten zur Ethik im Archiv. Im Hinblick auf eine Erweiterung oder Überarbeitung des Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare sind mehrere wichtige Fragestellungen anzugehen. Zu leisten ist etwa eine Verortung von Kodex und ethischen Debatten im Kontext der Kodizes und Debatten anderer Informationsinstitutionen.[95] Auch die Untersuchung des gesetzgebenden und politischen Umfelds von Archiv- und Informationsethik dürfte wesentlich sein. Ferner ist zu ermitteln, in welchen Institutionen der aktuelle Kodex verwendet wird und welchen Stellenwert er für die Archivmitarbeitenden einnimmt. Für die konkrete Aktualisierung oder Erweiterung muss der inhaltliche Bedarf im Rahmen archivwissenschaftlicher Forschung ermittelt werden und aktuelle technische sowie gesellschaftliche Entwicklungen einbeziehen.

Schritte in Richtung der Mitgestaltung informationsethischer Debatten könnten die breitere Betrachtung sowohl des Kontexts der Informationswissenschaft als auch des Kontexts der Informationsphilosophie aus der Perspektive des Archivs erbringen. Wünschenswert im Hinblick auf eine Archivethik ist auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Positionen Floridis und Kuhlens sowie weiteren Ansätzen der Informationsethik.

Anhang

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Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare
des VSA/ AAS

Vorwort

Ein Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare soll hohe Verhaltensmassstäbe für den Beruf des Archivars/der Archivarin setzen.

Er soll neue Angehörige des Berufsstandes mit diesen Massstäben vertraut machen, erfahrene Archivarinnen und Archivare an ihre berufliche Verantwortung erinnern und das Vertrauen der Öffentlichkeit in diesen Beruf stärken.

Die Bezeichnung «Archivar», «Archivarin» soll, soweit sie in diesem Kodex verwendet wird, alle Personen umfassen, die mit der Aufsicht, Betreuung, Bewahrung, Erhaltung und Verwaltung von Archiven befasst sind.

Institutionen, in denen Archivarinnen und Archivare beschäftigt sind, und Archivverwaltungen sollten zur Annahme von Grundsätzen und Verfahren ermutigt werden, die die Umsetzung dieses Kodex erleichtern.

Dieser Kodex soll Angehörigen des Berufsstandes einen ethischen Orientierungsrahmen und keine spezifischen Lösungen für bestimmte Probleme bieten.

Alle Grundsätze werden durch einen Kommentar ergänzt; Grundsätze und Kommentar gemeinsam bilden den Kodex als Ganzes.

Die Einführung des Kodex hängt von der Bereitschaft der Archiv-Institutionen und Archivarsverbände ab, ihn in die Praxis umzusetzen. Dieses mag in Form von Ausbildungsmassnahmen geschehen und durch die Schaffung von Instrumentarien, die es erlauben, sich daran in Zweifelsfällen zu orientieren, danach unehrenhaftes Verhalten aufzudecken oder, falls es für angemessen erachtet wird, auch Sanktionen aufzuerlegen.

Kodex

1. Archivarinnen und Archivare haben die Integrität von Archivgut zu schützen und auf diese Weise zu gewährleisten, dass es ein zuverlässiger Beweis der Vergangenheit bleibt.

Die wichtigste Aufgabe der Archivarinnen und Archivare besteht darin, die Unversehrtheit der von ihnen verwalteten und verwahrten Unterlagen zu erhalten. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe müssen sie die legitimen, aber manchmal auch widersprechenden Rechte und Interessen von früheren, gegenwärtigen und zukünftigen Dienstherren, Eigentümern, Betroffenen und Archivbenutzern berücksichtigen. Objektivität und Unparteilichkeit bestimmen das Mass ihrer Fachlichkeit. Sie müssen Druck von welcher Seite auch immer widerstehen, Beweismaterial zur Verschleierung oder Verdrehung von Tatsachen zu manipulieren.

2. Archivarinnen und Archivare haben Archivmaterial in seinem historischen, rechtlichen und administrativen Kontext zu bewerten, auszuwählen und aufzubewahren, um so das Provenienzprinzip zu bewahren und die ursprünglichen Zusammenhänge der Schriftstücke zu erhalten und zu verdeutlichen.

Archivarinnen und Archivare müssen in Übereinstimmung mit allgemein anerkannten Grundsätzen und Verfahren handeln. Archivarinnen und Archivare müssen ihre Aufgaben und Funktionen nach allgemein anerkannten Archivierungsgrundsätzen wahrnehmen in Hinblick auf die Bildung, Führung und Bewertung von Registraturen und Altakteien, einschliesslich der elektronischen und multimedialen Überlieferung, in Hinblick auf die Auswahl und Übernahme von Aktenmaterial in archivische Verwahrung, in Hinblick auf die Sicherung und Bestandserhaltung der ihnen anvertrauten Archive sowie hinsichtlich der Bestandsbildung, Verzeichnung, Publikation und allgemeinen Nutzung dieser Unterlagen. Archivarinnen und Archivare müssen Dokumente unparteiisch bewerten und sich dabei auf gründliche Kenntnisse der in ihrer Institution üblichen administrativen Erfordernisse oder ihrer Übernahmepolitik stützen. Sie müssen die zur Aufbewahrung ausgewählten Dokumente nach archivfachlichen Grundsätzen (nämlich dem Provenienzprinzip und dem Grundsatz der ursprünglichen Ordnung) und nach anerkannten Richtlinien so schnell, wie es ihre Mittel erlauben, ordnen und verzeichnen. Archivarinnen und Archivare haben sich bei der Übernahme von Dokumenten an den Zielen und Mitteln ihrer Institution zu orientieren. Sie dürfen keine Erwerbungen anstreben oder akzeptieren, wenn diese die Integrität oder Sicherheit der Dokumente gefährden würden; sie müssen vielmehr mit anderen Archivarinnen und Archivaren zusammenarbeiten, um die Aufbewahrung dieser Dokumente in dem am besten geeigneten und angemessenen Archiv sicherzustellen. Archivarinnen und Archivare sollen bei der Rückführung verschleppten Archivguts zusammenwirken.

3. Archivarinnen und Archivare haben die Authentizität der Schriftstücke während der Bearbeitung, Aufbewahrung und Benutzung zu schützen.

Archivarinnen und Archivare haben sicherzustellen, dass der archivische Wert von Schriftstücken, einschliesslich der elektronischen und multimedialen Überlieferung, weder bei der archivarischen Bewertung, Ordnung und Verzeichnung noch bei Konservierungsmassnahmen und der Benutzung beeinträchtigt wird. Wenn Stichprobenverfahren anzuwenden sind, darf die Auswahl nur aufgrund bewährter Methoden und gesicherter Kriterien erfolgen. Ein Ersatz von Originalen durch Mikroformen darf nur unter Berücksichtigung ihres juristischen, quellenkundlichen und informatorischen Werts geschehen. Wenn Geheimhaltungsbestimmungen unterliegende Dokumente vorübergehend aus einer Akte entfernt wurden, muss dies dem Benutzer/der Benutzerin mitgeteilt werden.

4. Archivarinnen und Archivare haben die fortwährende Benutzbarkeit und Verständlichkeit des Archivguts sicherzustellen.

Archivarinnen und Archivare haben aufzubewahrende oder zu vernichtende Unterlagen vorrangig daraufhin auszuwählen, dass die wesentlichen Zeugnisse von Aktivitäten derjenigen Personen oder Institutionen gesichert werden, bei denen die Dokumente erwuchsen und verwaltet wurden; sie müssen jedoch auch wechselnde Forschungserfordernisse bedenken. Archivarinnen und Archivare müssen sich darüber im Klaren sein, dass der Erwerb von Dokumenten zweifelhaften Ursprungs, so interessant sie auch sein mögen, einen illegalen Handel begünstigen könnte. Sie sollen zur Festnahme und strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die des Diebstahls von Archivdokumenten verdächtig sind, mit anderen Archivarinnen und Archivaren und mit Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten.

5. Archivarinnen und Archivare haben Aufzeichnungen über ihre Bearbeitung von Archivgut zu führen und müssen in der Lage sein, diese zu begründen.

Archivarinnen und Archivare haben sich von der Entstehung bis zur archivischen Nutzung von Unterlagen für gute Verhältnisse in der Aktenführung und -ablage einzusetzen und mit Aktenbildnern und Registratoren bei der Entwicklung neuer Standards und Informations- und Managementverfahren zusammenzuarbeiten. Sie haben sich nicht nur mit der Übernahme vorhandener Dokumente zu befassen, sondern ebenso sicherzustellen, dass moderne Informations- und Archivierungssysteme von Anfang an auch geeignete Verfahren enthalten, die der Bewahrung wertvoller Unterlagen angemessen sind. Bei Verhandlungen mit Vertretern der abgebenden Behörden oder den Eigentümern archivwürdiger Unterlagen haben Archivarinnen und Archivare abgewogene Entscheidungen anzustreben, die sich - soweit anwendbar - auf eine vollständige Berücksichtigung nachfolgender Faktoren gründen: Übertragungs-, Schenkungs- oder Verkaufsvollmachten, finanzielle Vereinbarungen und Begünstigungen, Bearbeitungspläne, Copyright und Zugangsbedingungen. Archivarinnen und Archivare haben einen ständigen schriftlichen Nachweis über Akzessionen, Aufbewahrungsverhältnisse und alle archivischen Arbeiten insgesamt zu führen.

6. Archivarinnen und Archivare haben sich für die weitest mögliche Benutzung von Archivalien einzusetzen und eine unparteiische Dienstleistung gegenüber allen Benutzern zu gewährleisten.

Archivarinnen und Archivare sollen sowohl allgemeine als auch besondere Findmittel für alle von ihnen verwahrten Unterlagen herstellen, je nach dem wie es für diese am besten angemessen ist. Sie haben allen Benutzerinnen und Benutzern unparteiischen Rat zu bieten und ihre verfügbaren Mittel für ein stets ausgewogenes Dienstleistungsangebot einzusetzen. Archivarinnen und Archivare sollen höflich und hilfsbereit auf alle zumutbaren Anfragen hinsichtlich ihrer Bestände antworten und die Benutzung des Archivs in möglichst grossem Umfang fördern, vorausgesetzt, dass dies mit den Grundsätzen ihrer Institutionen, mit der Erhaltung der Bestände, mit der Wahrung von rechtlichen Aspekten und des Datenschutzes sowie mit Schenkungsverträgen vereinbar ist. Sie haben möglichen Benutzerinnen und Benutzern geltende Einschränkungen zu erläutern und diese gleichmässig gerecht anzuwenden. Archivarinnen und Archivare haben unangemessenen Zugangs- und Nutzungsbeschränkungen entgegenzuwirken, dürfen jedoch klar umrissene Einschränkungen von begrenzter Dauer als Bedingung für den Erwerb von Dokumenten anregen und akzeptieren. Archivarinnen und Archivare haben alle zum Zeitpunkt der Übernahme getroffenen Vereinbarungen gewissenhaft einzuhalten und unvoreingenommen anzuwenden. Im Interesse eines liberalen Zugangs sollen sie die Bedingungen aber eventuellen Änderungen der Umstände entsprechend stets neu verhandeln.

7. Archivarinnen und Archivare haben sowohl die Zugänglichkeit als auch den Datenschutz ihrer Unterlagen zu respektieren und dabei im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung zu handeln.

Archivarinnen und Archivare haben darauf zu achten, dass sowohl korporative und persönliche Schutzrechte als auch die nationale Sicherheit gewährleistet werden, ohne dass eine Vernichtung von Informationen erfolgt. Dies gilt insbesondere für elektronische Aufzeichnungen, bei denen Aktualisierung und Löschung allgemein übliche Verfahren sind. Archivarinnen und Archivare haben Datenschutz und Persönlichkeitsrechte derjenigen zu respektieren, die Verfasser oder Betroffene von Unterlagen sind, insbesondere wenn diese Personen keinen Einfluss auf die Nutzung und weitere Verwendung des Materials haben.

8. Archivarinnen und Archivare haben das spezielle Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird, im Interesse der Allgemeinheit zu gebrauchen und alles zu unterlassen, ihre Stellung zum ungerechten Vorteil für sich oder andere zu nutzen.

Archivarinnen und Archivare müssen Tätigkeiten unterlassen, die ihrer beruflichen Integrität, Objektivität und Unparteilichkeit Abbruch tun könnten. Sie dürfen keinen finanziellen oder sonstigen persönlichen Vorteil aus einer Tätigkeit ziehen, wenn dadurch Institutionen, Benutzerinnen und Benutzern, Kolleginnen oder Kollegen Schaden zugefügt wird. Archivarinnen und Archivare dürfen aus Eigeninteresse weder Originaldokumente sammeln noch an irgendeiner Form des Archivalienhandels teilnehmen. Sie haben Aktivitäten zu vermeiden, die in der öffentlichen Meinung den Anschein eines Interessenkonflikts aufkommen lassen könnten. Archivarinnen und Archivare dürfen Bestände ihrer Institution für private Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen nutzen, vorausgesetzt, dass dies unter den gleichen Bedingungen erfolgt wie bei anderen Benutzerinnen und Benutzern derselben Bestände. Sie dürfen keine Informationen verwenden oder veröffentlichen, die aus der Arbeit mit Beständen stammen, die Zugangsbeschränkungen unterliegen. Sie haben darauf zu achten, dass ihre privaten Forschungs- oder Publikationsinteressen nicht mit der ordnungsgemässen Durchführung fachlicher oder dienstlicher Aufgaben kollidieren, für die sie eingestellt wurden. Bei der Benutzung von Aktenbeständen ihrer eigenen Institution dürfen Archivarinnen und Archivare ihre Kenntnisse über unveröffentlichte Forschungsergebnisse nur dann verwenden, wenn sie den betreffenden Wissenschaftler/die betreffende Wissenschaftlerin vorher über die von ihnen beabsichtigte Verwendung informiert haben. Archivarinnen und Archivare können die ihr Fachgebiet betreffenden Werke anderer rezensieren und kommentieren, einschliesslich der Arbeiten, die sich auf Dokumente ihrer Institutionen gründen. Archivarinnen und Archivare dürfen nicht zulassen, dass Berufsfremde sich in ihre Aufgaben und Pflichten einmischen.

9. Archivarinnen und Archivare haben stets die Entwicklung ihres beruflichen Könnens durch systematische und ständige Fort- und Weiterbildung ihrer Berufskenntnisse zu verfolgen und die Ergebnisse ihrer Forschungen und Erfahrungen mit anderen zu teilen.

Archivarinnen und Archivare sollen sich ständig um die Weiterentwicklung ihres Berufsverständnisses und Fachwissens bemühen, zur Erweiterung der Kenntnisse ihres Berufsstandes beitragen und sicherstellen, dass die Personen, für deren Ausbildung oder Tätigkeit sie verantwortlich sind, darauf vorbereitet werden, ihre Aufgaben fachkundig zu erledigen.

10. Archivarinnen und Archivare haben die Erhaltung und Benutzung der dokumentarischen Überlieferung der Welt in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen ihres Faches und anderer Berufe nachhaltig zu fördern.

Archivarinnen und Archivare sollen bestrebt sein, die Kooperation mit Berufskollegen zu fördern, Konflikte mit ihnen zu vermeiden und Schwierigkeiten unter Beachtung archivischer Regeln und berufsethischer Grundsätze zu lösen. Archivarinnen und Archivare sollen mit Kolleginnen und Kollegen verwandter Berufe auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt und Verständnis zusammenarbeiten.

 

Hg. vom Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare VSA: http://www.vsa-aas.org/de/beruf/kodex-ethischer-grundsaetze/ (Stand Juni 2015).




[1]    Der Aufsatz basiert auf der Masterarbeit «Von der Archivpraxis zur Philosophie und wieder zurück: Auf dem Weg zu einer Archivethik für das Informationszeitalter», eingereicht am 29. Juli 2014, Historisches Institut, Universität Bern, für den Studiengang Master of Advanced Studies in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften MAS ALIS, Universitäten Bern und Lausanne.

[2]    Siehe beispielsweise Graf 1997, S. 264.

[3]    Der Kodex wurde durch den Verband Schweizerischer Archivarinnen und Archivare VSA eingeführt.

[4]    Dies insbesondere im Gegensatz zu den Bibliotheken. Siehe beispielsweise Kuhlen/Semar/Strauch 2013, S. 8ff: Unter den Teilkapiteln zum fachlichen Kontext der Informationswissenschaft und der Diversität der Themen wird ausschliesslich auf den Bereich LIS (Library and Information Science) verwiesen; als betroffene Institutionen werden Bibliotheken, Informations- und Dokumentationszentren genannt. Keine der erwähnten Fachzeitschriften stammt aus dem Archivbereich.

[5]    Dies gilt insbesondere für die Situation in der Schweiz. Eine umfangreichere Theoretisierung bieten etwa die Debatten in Kanada, den USA und Australien.

[6]    Allen voran die Informations- und Computerwissenschaft. Neue Methoden für die Geisteswissenschaften werden unter dem Begriff der Digital Humanitities zusammengefasst.

[7]    Der Begriff «Information Revolution» wurde von Luciano Floridi geprägt.

[8]    Die Formulierung geht auf Rainer Kuhlen zurück, siehe beispielsweise Kuhlen 2004, S. 23.

[9]    Siehe beispielsweise Eastwood 2010, S.10:«In the second half oft he twentieth and into this century, deep and complex developments in scholarship, administration, information and communication technology, and society in general made a remarkable impact on archival institutions, the role they play in contemporary societies, and the expectations placed on them. These developments also promoted rethinking many traditional archival concepts, methods and practices.»

[10]    Siehe etwa McKemmish/Piggott/Reed/Upward 2005, S. 60.

[11]    Eastwood/McNeill 2010, Einleitung S. xi: «The challenge of preserving digital records and ensuring their trustworthiness over time has led archivists to reconsider the emphasis placed on the custodial care of historical records and to direct more attention tot he management of current records: to shift, in other words, from post hoc to anticipatory approaches to preservation.»

[12]    Dem Schweizerischen Bundesarchiv beispielsweise kommt seit den 1990er Jahren die Verantwortung für Vorgaben und Kontrollen der Aktenführung der Bundeverwaltung zu, gesetzlich geregelt in der Weisung über die Aktenführung der Bundesverwaltung WAF von 1999.

[13]    Jean-Pierre Wallot, der als Präsident des International Council on Archives ICA den internationalen Kodex mitentwickelte, betonte etwa die Verantwortung, welche Archivmitarbeitende als Schlüsselfiguren – wortwörtlich – für die kollektive Erinnerung innehaben: «As for archivists, they carry a heavy burden. They hold the keys to the collective memory. In this world of superficiality and instant everything, they must, more than ever before, develop the treasures of our houses of memory, enriching them and making them more available and more visible to as many people as possible.» Siehe auch Eastwood/McNeill, Einleitung S. xif und Hill 2011, S. 5: «We have witnessed a shift away from the view of the archivist as a passive observer and neutral custodian, to a position where we recognize that the archivist shapes the archive every bit as much as the creator, for example, in our collecting policies, appraisal actions and the language of our finding aids.»

[14]    ICA: Strategic Direction 20082018, siehe Website des International Council on Archives.

[15]    Siehe auch Morris 2010. Die meisten dieser Berufsgattungen verfügen über Ethikkodizes.

[16]    Siehe auch Roth-Lochner/Burgy/Grange 2005.

[17]    Der erste Ethikkodex für Archivare wurde 1955 in den USA durch die Society of American Archivists SAA eingeführt und 1992 überarbeitet. Aus: Coutaz 1997, S. 279.

[18]    Die Inkraftsetzung des Kodex fand an der Hauptversammlung des ICA in Peking statt. Die Informationen zum Kodex sowie der Kodex selbst in 23 Sprachen sind auf der Homepage des ICA zu finden unter: http://www.ica.org/5555/reference-documents/ica-code-of-ethics.html (Stand Juli 2014).

[19]    Siehe Coutaz 1997, S. 278f. Ein Bundesratsbeschluss hatte bereits die Vernichtung der Fichen angeordnet.

[20]    Siehe Coutaz 1997, S. 278f. und Graf 2001, S. 78.

[21]    Siehe auch Graf 1997, S. 267f und Graf 2001, S. 77–79: Graf nennt als die drei Schweizerischen «Gedächtniskrisen» den Fichen-Skandal, die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im 2.Weltkrieg sowie die Rolle der Schweiz während der Apartheid in Südafrika.

[22]    Gössi 1997, S. 259.

[23]    Das Bundesgesetz über die Archivierung trat 1998 in Kraft.

[24]    Website des VSA unter: http://www.vsa-aas.org/de/beruf/kodex-ethischer-grundsaetze/ (Stand Juli 2014).

[25]    Aus dem Begleittext zum Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare auf der Website des VSA, einzusehen unter: http://www.vsa-aas.org/de/beruf/kodex-ethischer-grundsaetze/print/ (Stand Juli 2014).

[26]    Siehe Graf 1997, S. 276.

[27]    Der Begriff ist dem Vorwort des Kodex entnommen, Siehe auch Kellerhals 2009, S. 101.

[28]    Kellerhals 2009, S. 102. Siehe hierzu auch Coutaz 1997, S. 285: «La principale urgence, en fait, tient dans le fait que les archivistes soient consideres comme partenaires essentiels de tout debat sur la memoire et sur le patrimoine d'un pays; quel meilleur point d'ancrage à cette position centrale que la proclamation d'un code de deontologie des archivistes?»

[29]    Coutaz 1997, S. 283f.

[30]    Website de VSA unter: http://www.vsa-aas.org/de/beruf/kodex-ethischer-grundsaetze/ (Stand Juni 2015).

[31]    Der gesamte Kodex ist im Anhang des Aufsatzes wiedergegeben.

[32]    Maissen 2010, S. 6.

[33]    Siehe auch Gorin 2003, S. 21. Als eines der Ziele eines weiterzuentwickelnden Kodex nennt er «définir et formuler précisément les principes directeurs des professions documentaires.»

[34]    Vorwort des Kodex, Paragraf 3. und 6.

[35]    Eine ähnliche Gliederung nehmen auch Gebolys/Tomaszcyk 2012, S. 29 in Bezug auf die ethischen Kodizes für Bibliothekarinnen und Bibliothekare vor: «There is no doubt that the reference areas of the codes should be as such: the ration of the librarian to the user [...]; the ration of the librarian to information and documents [...], the profession of librarian itself, their qualifications, relationship to other librarians and the relationship between society and the librarian and the library.»

[36]    In den Jahren 2000 und 2001 widmete Arbido beispielsweise je eine Ausgabe dem Thema Internet: Internet/Intranet 2000 (1.4.0); Chancen und Risiken des Internets/Chances et risques de l'Internet (1.3.1). Zum Thema Dienstleistung und Kommunikation wurden verschiedene Themenhefte publiziert: Virtuelle Portale/Portails virtuels (1.6.5); Die Wirtschaft der neuen Medien/L'économie des nouveaux médias (19.6.8); Lobbying für Informationsdienste/Le lobbying des services d'information (12.3.8); Kommunizieren wir!/Communiquons! (9.12.11). Social Media wurde bislang vor allem im Zusammenhang mit Bibliotheken behandelt: Social Media und Bibliotheken/Médias sociaux et bibliothèques (4.12.12). Arbido ist das gemeinsame Publikationsorgan der Verbände Bibliothek Information Schweiz BIS und Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare VSA. Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich. Sämtliche Ausgaben seit 2000 sind digital auf der Website einsehbar: http://www.arbido.ch/de/index.php.

[37]    Auch dieser Punkt findet sich bei Gorin 2003, S. 21 als Ziel für die Weiterentwicklung des Kodex: «Proposer un &lsaquoargumentaire détaillé très utile au niveau politique, pour la défense des professions documentaires.»

[38]    VSA 2003a.

[39]    VSA 2003b.

[40]    Siehe beispielsweise Kuhlen 2004, S. 36f.

[41]    Hauptmann 2002. Siehe auch Kostrewski/Oppenheim 1980.

[42]    «Information Revolution», beispielsweise in Floridi 2010a, S. 4.

[43]    Hoffmann 1988 und Capurro 1988.

[44]    Kuhlen 2004, S. 9.

[45]    Die Formulierung ist der Website des Schweizerischen Bundesarchivs entnommen unter www.bar.admin.ch (Stand Juni 2015).

[46]    Für die Informationsethik als gesamtes Forschungsfeld spielt die Informationswissenschaft und ihre Entwicklung eine zentrale Rolle. Einen Abriss der Entwicklung der Informationswissenschaft und ihrer Fragestellungen bietet Rainer Kuhlen in Kuhlen 2013, S. 12ff.

[47]    Siehe Floridi 2006, S. 21: «In recent years, ’Information Ethics’ (IE) has come to mean different things to different researchers working in a variety of disciplines, including computer ethics, business ethics, medical ethics, computer science, the philosophy of information, social epistemology and library and information science. Perhaps this Babel was always going to be inevitable, given the novelty of the field and the multifarious nature of the concept of information itself.»

[48]    Die inhaltliche Ausrichtung orientiert sich weitgehend an den Themen der Informationswissenschaft, respektive der Bibliothekswissenschaft, welche ihrerseits interdisziplinär ausgerichtet ist. Siehe hierzu Kuhlen, 2013, S. 5ff sowie S. 13f.

[49]    Floridi 2013, Vorwort S. xiii, im originalen Wortlaut:«anticipate difficulties, identify opportunities and resolve problems, conflicts and dilemmas.»

[50]    Siehe auch Kuhlen 2004, S. 37.

[51]    Der praktischen Philosophie werden generell die Disziplinen Ethik, Politische Philosophie und Rechtsphilosophie zugeordnet, welche sich mit Werturteilen zu menschlichem Handeln befassen und teilweise normativ sind.

[52]    Pieper 2000, S. 17.

[53]    Die Begriffe Moral und Ethik, respektive moralisch und ethisch, liegen in ihrer Bedeutung nahe zusammen und werden nicht immer einheitlich verwendet. In der vorliegenden Arbeit beziehe ich mich auf die in der Philosophie gängige Unterscheidung, wonach der Begriff der Ethik für die philosophische Untersuchung des Themengebiets steht, während mit Moral der eigentliche Untersuchungsgegenstand bezeichnet ist (siehe beispielsweises Metzler 1999, S. 159). «Moral beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden (Metzler 1999, S. 379).»

[54]    Vgl. Pieper 2000.

[55]    Siehe Kuhlen, 2004, S. 43.

[56]    Pieper 2000, S. 11.

[57]    Vgl. Kuhlen, 2004, S. 43 ff.

[58]    Jonas 1979, S. 5 und 7.

[59]    Siehe auch: Kuhlen 2004, S. 55.

[60]    In: Habermas 1991; vgl. auch Kuhlen 2004, S. 55f.

[61]    «Re-Ontologizing», in Analogie zu Re-Engineering: Die Existenz oder Seinsweise (=Ontologie) eines Gegenstands wird verändert. Siehe auch Floridi 2010a, S. 6.

[62]    Floridi 2013, S. 21.

[63]    Floridi 2013, S. 23.

[64]    Floridi 2013, S. 24 f.

[65]    «Gemeinsamer Nenner» bildet hier die etwas saloppe Umschreibung der «Level of Abstraction» bei Floridi. Als Level of Abstraction LoA bezeichnet Floridi den Gesichtspunkt, von dem eine Betrachtungsweise oder Argumentation ausgeht. Einzelne Agenten argumentieren stets gemäss einem LoA. Ferner weist auch jede Theorie einen solchen LoA auf, wenn auch häufig nicht explizit erwähnt. Siehe etwa Floridi 2006, S. 28: «By making explicit the ontological commitment of a theory, it is clear that the method of abstraction plays an absolutely crucial role in ethics. For example, different theories may adopt androcentric, anthropocentric, biocentric or ontocentric LoAs, even if this is often left implicit.»

[66]    Floridi 2006, S. 28.

[67]    Siehe Floridi 2010b, S. 113: «In information ethics, the ethical discourse concerns any entity, understood informationally, that is, not only all persons, their cultivation, wellbeing, and social interactions, not only animals, plants and their proper natural life, but also anything that exists, from paintings and books to stars and stones; anything that may or will exist, like future generations; and anything that was but is no more, like our ancestors or old civilizations.»

[68]    Siehe auch Floridi 2006, S. 31.

[69]    Floridi 2013, S. 19.

[70]    Beispielsweise in Floridi 2006, S. 22-24. Grafische Gestaltung der Autorin.

[71]    Kuhlen 2004, S. 60f.

[72]    Für eine ausführliche Darstellung siehe Kuhlen 2004, S. 60-66.

[73]    Kuhlen, 2004, S. 67.

[74]    Ebd.

[75]    Kuhlen 2004, S. 68. Anzumerken ist hier allerdings, dass die Frage nach den «besten» Argumenten einen neuerlichen Diskurs entfachen kann; so lange jedenfalls, wie die Überzeugungskraft der Argumente an Inhalte gebunden ist und nicht durch zuvor festgelegte formale und objektiv ermittelbare Kriterien entschieden wird. In Kuhlen 2004, S. 68f präsentiert Kuhlen einen Vorschlag für einen idealen informationsethischen Diskurs.

[76]    Kuhlen 2004, S. 58.

[77]    Siehe Kuhlen 2004, S. 60.

[78]    Kuhlen 2004, S. 11.

[79]    Kuhlen 2004, S. 58f.

[80]    Darunter die Willenserklärung des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft WSIS, von 2001/2005 oder die Resolution der deutschen UNESCO-Kommission. Siehe Kuhlen, 2004, S. 302.

[81]    Kuhlen 2004, S. 175.

[82]    Kuhlen 2004, S. 150.

[83]    Kuhlen 2004, z.B. S. 16 und S. 79f.

[84]    Unter Wissensökologie versteht Kuhlen den für die Bedingungen von Wissen und Information ökologischen Umgang mit diesen Ressourcen im Sinne der Nachhaltigkeit. Siehe beispielsweise Kuhlen 2004, S. 263ff.

[85]    Diese sind: freier Zugriff auf Wissen und Information, Diskriminierungsverbot – Überwindung der Digital Divides, Sicherung der Commons/gemeinsamen Güter, Sicherung kultureller Vielfalt, Bewahrung von Kreativität und Innovation, Sicherung medialer Vielfalt, Kommunikationsfreiheit, Kontrolle technischer Informationsassistenz durch Entwicklung von Informationskompetenz, Langzeitarchivierung und -sicherung von Wissen, Sicherung von Freiräumen privater Entwicklung. Siehe Kuhlen 2004, S. 302–307.

[86]    Der Begriff der Entropie ist aus der Physik und Mathematik entlehnt, wobei Floridis Verständnis hiervon abweicht. Entropie wird bei Floridi auch nah zum Begriff des Schlechten/Bösen (Evil) verwendet oder sogar gleichgesetzt, siehe Floridi/Sanders 1999.

[87]    Floridi 2006, S. 32.

[88]    Floridi 2013, S. 71.

[89]    In einer konkreten Konfliktsituation kann es beispielsweise zu einer gleichzeitigen Zunahme und Abnahme von Information kommen: So mag die Restauration einer mittelalterlichen Handschrift deren Lesbarkeit verbessern, die Leuchtkraft der Farben wieder herstellen etc.; gleichzeitig gehen Informationen verloren, welche die Spuren des Zerfall hinterlassen, etwa über die Lagerorte der Handschrift und ihre Benutzung. Eine ähnliche Kritik an Floridis Prinzipien findet sich auch bei McKinlay 2013.

[90]    Siehe beispielsweise Floridi 2013, S. 80 und die Kritik von McKinlay 2013, S. 2f.

[91]    Ess 2009, S. 165. Ess führt an, dass sich Floridi selbst einer solchen Verknüpfung nicht abgeneigt zeigt und bezieht sich dabei auf Bernd Carsten Stahl: «Floridi further acknowledges that Stahl’s suggestions for strengthening IE [Information Ethics] by way of further comparison with and development through DE [Discourse Ethics] might be very fruitful indeed.»

[92]    Die gesellschaftliche Dimension seines Ansatzes wird Floridi voraussichtlich mit dem noch in Arbeit befindlichen Werk The Politics of Information präsentieren. Siehe dazu Floridis Website unter: http://www.philosophyofinformation.net/research (Stand Juni 2015).

[93]    Die Aktualität und Bedeutung dieser Themen für die Archive kann in der Schweiz insbesondere auch über die Debatten in der Zeitschrift Arbido verfolgt werden.

[94]    Beispielweise müsste die Unterscheidung zwischen einer Anpassung des Kodex selbst und einer Ergänzung im Rahmen zusätzlicher Dokumente und Hilfsmittel erwogen werden. Hier bildet eine mögliche Grenzziehung das Kriterium der Verbindlichkeit: Der Kodex stellt qua definitionem ein verbindliches Instrument dar, während einige der Erweiterungsvorschläge keine solche Verbindlichkeit geltend machen, sondern beispielsweise kontextualisierende Funktionen einnehmen durch eine pluralistischen Darstellung von Werten und Debatten.

[95]    Hier kann auf Gebolys/Tomaszczyk 2012 verwiesen werden, wo eine weltweite Zusammenstellung und Interpretation der Kodizes von Bibliotheken vorgenommen wurde.