Die vorarchivische Intervention zwischen Aufwand und Ertrag

Die kantonale Verwaltung Thurgau acht Jahre nach der flächendeckenden Einführung von Registraturplänen

Ernst Guggisberg

Der vorliegende Artikel rückt eine für das Staatsarchiv Thurgau in strategischer und organisatorischer Hinsicht entscheidende Umbruchphase ins Zentrum:[1] Was 1997 mit dem Aufbau einer vorarchivischen Beratung begann, mündete zwischen 2004 und 2006 in die verwaltungsdeckende Einführung von Registraturplänen und eines konzernweiten elektronischen Records Management Systems (ERMS). Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Bestandsbildung des Staatsarchivs Thurgau setzen sich täglich mit den Möglichkeiten und Grenzen beider Instrumente auseinander, darunter fallen Registraturplananpassungen, die Durchführung von Hybridablieferungen, beschleunigte Modi für die Bearbeitung von Zwischenarchivbeständen sowie die organisatorische Begleitung der kantonalen Verwaltung aus dem Hybridzeitalter ins rein elektronische. Inwiefern macht sich die grösste bisherige vorarchivische Intervention heute bemerkbar und wie kann das Staatsarchiv auf die verwaltungsseitige physische und elektronische Vorgangsbearbeitung lenkend Einfluss nehmen, so dass letztlich eine konzise elektronische Überlieferungsbildung resultiert?

Das Staatsarchiv Thurgau und die vorarchivische Tätigkeit der Abteilung Bestandsbildung

Die Abteilung Bestandsbildung des Staatsarchivs Thurgau wurde 1997 geschaffen,[2] um «die kantonalen Dienststellen bei der Lösung ihrer vielgestaltigen Registratur- und Archivprobleme aktiv zu unterstützen.»[3] Damals besassen nur vereinzelte Dienststellen Registraturpläne, die im Zuge der wirkungsorientierten Verwaltungsführung in den 1990er Jahren geschaffen wurden, und die elektronische Datenverarbeitung war disparat.[4] Zeitgleich führte der Staatsarchivar als neue Hauptabteilung in der Archivtektonik das Akzessionsarchiv ein und vollzog somit den strategischen Wechsel von Teil- hin zu Gesamtablieferungen. Im Jahr 2000 beschaffte das Staatsarchiv die Archivsoftware «scopeArchiv», die seither das Hauptinstrument für die Erschliessung und Vermittlung des Archivguts darstellt. Zusammen mit weiteren Trägerarchiven unterhält das Staatsarchiv das Schweizerische Archivportal «archivesonline».[5] Bis 2004 wurde die Abteilung Bestandsbildung personell ausgebaut, im selben Jahr trat das Staatsarchiv Thurgau der Verwaltungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit den Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein bezüglich Errichtung und Betrieb einer Koordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen (KOST) bei.[6]

Ab 2004 wurde auf die Ablösung des seit 1995 im Betrieb stehenden verwaltungsübergreifenden «integrierten Büroinformationssystems (iBIS)» Namens «LinkWorks» hingearbeitet.[7] Dieses überliess den Mitarbeitenden grosse Freiheit in der Strukturierung ihrer Ablage, genügte den Anforderungen an eine revisionssichere elektronische Archivierung hingegen nicht. Im Rahmen des «Informatikprojekts iBIS+» wurde zwischen 2005 und Ostern 2006 für jede Dienststelle ein Registraturplan erarbeitet, wobei ein erster Teil mit den analogen Anforderungen an Personal, Finanzen, Informatik und Archivierung und ein zweiter Teil mit den individuellen Kerngeschäften der Ämter in gegenseitiger Absprache erstellt wurde.[8] Die Registraturpläne bilden das Raster für die elektronische Vorgangsbearbeitung, die im gleichzeitig angeschafften ERMS «Fabasoft eGov-Suite» Ausdruck fand. Das Staatsarchiv ist zusammen mit dem Amt für Informatik, dem Personalamt und der Finanzverwaltung als sogenanntes Querschnittsamt ausgewiesen worden und erhielt Einsitz in die massgebenden Informatikgremien. Das Staatsarchiv zählt 15 Mitarbeitende (darunter mehrere Teilzeitstellen) und hat zwei direkte Ansprechpartner im Amt für Informatik.

In der kantonalen Verwaltung wurden im Zuge dieses Projekts rund 22000 Aktenreihen identifiziert und durch die Archivarinnen und Archivare bewertet (integral, Auswahl, vernichten). An Ostern 2006 löste das ERMS schliesslich das bisherige «LinkWorks» ab. Mit der Einführung dieser Ordnungssysteme, des ERMS, der personellen Dotierung und der steten Speisung der Archivdatenbank wurden die heute noch grundlegenden Voraussetzungen für die effiziente vorarchivische Beratung der Abteilung Bestandsbildung geschaffen.[9]

Die vorarchivische Intervention im Verständnis des life cycle Modells

Methodisch ist der Abteilung Bestandsbildung der Lebenszyklus von Unterlagen zugrunde gelegt (vgl. Grafik 1). Mit der Einführung des ERMS und den darin abgebildeten Registraturplänen rückte das Staatsarchiv näher an die Verwaltungsbehörden heran: Den Anforderungen einer dynamischen Verwaltung an eine passende Ablage wird Rechnung getragen, indem Registraturplananpassungen wöchentlich möglich sind. Bei Änderungswünschen kontaktieren die in jedem Amt eigens bezeichneten Registraturplanverantwortlichen die zuständigen Mitarbeitenden im Staatsarchiv, die die Anpassung auf Kohärenz zum bisherigen Registraturplan, Aussagekraft des Titels und Vergabe einer prospektiven Bewertung überprüfen und sie anschliessend zur technischen Umsetzung ans Amt für Informatik weiterleiten.[10] Folglich wirkt die Archivarin oder der Archivar bei der Erstellung und Aktualisierung der Registratur in der ersten Phase des Lebenszyklus entscheidungsführend mit und das Wissen über die laufende Registratur in den Ämtern ist immer aktuell – die Registraturpläne wurden zu Kommunikationsmitteln.[11]

 


Grafik 1: Lebenszyklus von Schriftgut in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Aufbewahrungsort[12]

Die physischen und elektronischen Unterlagen verbleiben während der aktiven Phase in der Dienststelle, im ERMS und in den Fachapplikationen sowie physisch in den Registraturen, bis sie nach Geschäftsende oder bei nicht mehr täglichem Gebrauch in der semi-aktiven Phase im ERMS abgeschlossen und physisch ins Amtsarchiv überführt werden. Letztere sind ebenfalls nach dem Registraturplan aufgebaut bzw. es wird bei einer Ablieferungsvorbereitung auf die kongruente Beschriftung zwischen elektronischer und physischer Ablage beharrt. Nach Ablauf der Mindestaufbewahrungsfrist von üblicherweise zehn Jahren wird eine durch das Staatsarchiv begleitete Ablieferung durchgeführt. Bei physischen Aussonderungen wird das Augenmerk auf die einheitliche und konzise Beschriftung der Aktenreihen nach Registraturplan gelegt, bei elektronischen auf die Titelgebung der Dossiers und Unterlagen. Die prospektive Bewertung seitens des Staatsarchivs wird auf Stufe Aktenreihe angesetzt, so dass bei einer Ablieferung keine situativen Einzelentscheide auf der hierarchisch folgenden Dossierstufe gefällt werden müssen. Akzeptiert werden im Staatsarchiv lediglich Gesamtablieferungen.[13] Nach der Begleitung während der Ablieferungsvorbereitung werden die Akten dem Staatsarchiv übergeben und auf Grundlage des Registraturplans erschlossen und nach den Datenschutzbestimmungen zugänglich gemacht, somit schliesst sich die dritte und letzte Phase des Lebenszyklus von Unterlagen an.[14]

Ständige Aufgabenfelder der vorarchivischen Beratung im Staatsarchiv Thurgau sind somit die Pflege der Registraturpläne in Absprache mit den Ämtern und in Koordination mit dem Amt für Informatik, Dienstleistungen im Bereich der Organisationsberatung, Begleitung während der Genese von Gesamtablieferungen und Magazinierung derselben sowie die Durchführung von Erschliessungsprojekten. Die vorarchivische Beratung nimmt somit mit relativ wenig Aufwand bei allen drei Phasen des Lebenszyklus Einfluss auf die Registratur-, sprich die spätere Fondsgliederung der nachmaligen Bestände. Das Hauptziel der 2006 eingeführten Registraturpläne war die intellektuelle – medienunabhängige – Ordnung der Registraturen, die die physische und elektronische Aktenproduktion kanalisieren sollte. Die Intervention der Registraturpläne bildet die statische Ebene (die Aktenreihen) ab, und gibt für die dynamische Ebene – das Tagesgeschäft in Dossierstrukturen – lediglich Vorgaben.

Datenhaltung und elektronische Langzeitarchivierung
im Staatsarchiv Thurgau

Das Staatsarchiv und das Amt für Informatik, das die Informatikmittel zentral steuert, verwalten 120 aktive Registraturpläne mit rund 23’000 aktiven und 5’500 abgeschlossenen Aktenreihen (vgl. Tabelle 1). Von den noch aktiven sind je 36% als integral oder als nicht überlieferungswürdig, bewertet und bei 27% wird ein Sampling angestrebt.[15] Zwischen 2007 und 2013 wurden an den 115 Registraturplänen rund 9’200 Anpassungen vorgenommen. Die meisten Änderungswünsche kamen von den sogenannten Querschnittsämtern Amt für Informatik, Personalamt, Finanzverwaltung und dem Staatsarchiv sowie der Staatskanzlei und der Finanzkontrolle. Am häufigsten trat der Wunsch nach neuen Reihen auf (rund 4’500 Mal), anschliessend die Umbenennung von bereits bestehenden Reihen (2’000 Mal) und das Stornieren (960 Mal), Löschen (660 Mal) oder Umnummerieren (390 Mal) von Aktenreihen. Zugriffsänderungen fanden 440 Mal statt, Anpassungen von Dossiertypen rund 50 Mal. Im ERMS befinden sich insgesamt 175’000 aktive Dossiers, worunter 86’000 noch in Bearbeitung und rund 89’000 bereits abgeschlossen sind. Auf die Dossierstufe folgen die Unterlagen, deren sind insgesamt rund 850’000 aktiv, während bereits 435’500 abgeschlossen sind. Im ERMS befinden sich über 5’280’000 Inhaltsobjekte, die bislang 4,1 Terabytes Daten (inkl. Versionierungen) umfassen.[16] Freilich existieren auch ausserhalb des ERMS Datenpools, so etwa in Fachanwendungen oder auch – nach wie vor – auf den Amtslaufwerken.

 

 

 

 

Tabellen 1-3: Übersicht über Anzahl Reihenanpassungen, Listen- und Inhaltsobjekte mit Stand 7.2014

Während zwei richtungsweisende Prämissen für die künftige elektronische Langzeitarchivierung bereits im Einsatz sind (Registraturpläne und ERMS), müssen noch andere organisatorische Anpassungen in Angriff genommen werden: Auf Verwaltungsseite muss mit Hilfe des Staatsarchivs die Hybridablage überwunden und auf eine reine elektronische Produktion hingewirkt werden, was konkret den Einsatz von Scanning voraussetzt. Ausserdem müssen die Dossiers und Unterlagen im Sinne des Staatsarchivs regelkonform eröffnet, unterhalten, betitelt und zeitnah abgeschlossen sowie das ERMS als Konzernprodukt konsequent eingesetzt werden. Zentrales Anliegen des Staatsarchivs ist der künftige Einsatz von Registratorinnen und Registratoren, die als direkt ansprechbare und auszubildende Gruppe eine einheitliche Linie in die Dokumentenführung bringen können.[17] Ihnen würde die Dossiereröffnung, Betitelung und der Dossierabschluss ins Aufgabenheft übertragen, so dass schliesslich zum Zeitpunkt der Übergabe ein einheitliches und konzises Datengerüst besteht. Das Staatsarchiv beabsichtigt, elektronische Dateien aus Fabasoft und via Archivierungsschnittstelle eCH-160 direkt aus Fachanwendungen zu übernehmen.[18] Geschäftsrelevante E-Mails sind via Schnittstelle ins ERMS zu übertragen, aus Laufwerken wird keine Datenübernahme stattfinden.

Methodisch orientiert sich das Staatsarchiv Thurgau am ISO-Referenzmodell Open Archival Information System, kurz OAIS.[19] Das Referenzmodell bietet allerdings keine konkrete Anleitung zur betriebsorganisatorischen oder technischen Implementierung. Das Staatsarchiv Thurgau begegnet der Herausforderung an eine künftige elektronische Verwaltung in zweierlei Hinsicht: Repository und fehlende Systemkomponenten wurden bis Ende 2014 beschafft und mit dem bestehenden Archivinformationssystem verbunden, so dass nun die benötigte Infrastruktur zur Übernahme, Haltung und Bereitstellung elektronischer Zugänge vorhanden sind. Im Sinne einer spezifisch angepassten vorarchivischen Organisationsberatung begleitet das Staatsarchiv die Dienststellen eng und nach einer Priorisierung ins rein elektronische Zeitalter. Dabei müssen Verfahren für den elektronischen Posteingang, innerbetriebliche Kommunikationsregeln und – schlicht – Erfahrungswerte geschaffen werden, um die Dienststellen organisatorisch an eine rein elektronische Produktion zu führen. Nicht zuletzt den stark begrenzten Personalkapazitäten geschuldet, werden in einem ersten Schritt die Regierungskanzlei, in einem zweiten Schritt ein Pilot-Generalsekretariat und in einem dritten Schritt die verbleibenden vier Generalsekretariate vom Hybridzeitalter ins rein elektronische begleitet. Anschliessend soll mit den einzelnen Ämtern analog verfahren werden. Als Zeithorizont wurde bei den Generalsekretariaten die rein elektronische Produktion auf 2016/2017 angesetzt. Für Ämter, die infolge der Priorisierung nicht vorrangig betreut werden können, hat das Staatsarchiv zur Überbrückung einen Mindestanforderungskatalog zur Orientierung erstellt.

Standortkritik der vorarchivischen Intervention

Mit der Gründung einer vorarchivischen Beratung im Staatsarchiv Thurgau und deren bislang grösstes und nachhaltigstes Projekt – der Einführung von Registraturplänen und eines ERMS – wurden (mitunter) drei strategische Hauptziele verfolgt: 1. Jede Dienststelle erhält ein individuelles Ablageschema, worin die verschiedenen Aktenreihen ausgewiesen und prospektiv bewertet werden. Diese Registraturpläne bleiben keine theoretische Grösse, sondern werden in Form des ERMS benutzt.
2. Die Ablieferungen erfolgen nicht mehr unstrukturiert und nach Gutdünken der Dienststellen im Sinn von «überflüssigen und nicht mehr benötigten Akten» oder «der Keller ist voll», sondern in regelmässigen Abständen nach kommunizierten und umgesetzten Qualitätsansprüchen des Staatsarchivs. 3. Ein Teil der Erschliessungsleistung muss in die Dienststellen verlagert werden, um so innerbetriebliche Ressourcen im Staatsarchiv freizuschalten.

Mit dem «iBIS+»-Projekt konnte das Staatsarchiv Thurgau zwischen 2005 und 2006 das erste Hauptziel für die Zentralverwaltung und seither stufenweise auch für die dezentrale Verwaltung erreichen. Sämtliche Aktenreihen sind prospektiv bewertet. Dass die Registraturpläne keine statischen Konstrukte sind, sondern sich den Bedürfnissen – die in der Regel von den Dienststellen selbst geäussert werden – anpassen, bezeugen die zwischen 2007 und 2013 umgesetzten Änderungen. Die Auseinandersetzung der Dienststellen mit den Registraturplänen kann aber nicht mit dem vorbehaltlosen Umgang mit dem ERMS oder der in jeder Dienststelle gleichförmigen Arbeit mit demselben gleichgesetzt werden.

In einigen Dienststellen werden hauptsächlich die zentralen Querschnittspositionen in Fabasoft genutzt, während das Tagesgeschäft in Fachapplikationen erfolgt. (Wenige) andere erledigen ihre Aufgaben in Office Produkten, speichern ihre Daten auf den Laufwerken ab und importieren lediglich – Aufbewahrungswürdiges – in Fabasoft. Diese «Umgehungsstrategien» führen dazu, dass in diesen Fällen das ERMS zu einem «Archivierungstool» verkommt und somit als Konzernprodukt und integraler Bestandteil der Archiv- und Informatikstrategie falsch eingesetzt wird. Eine elektronische Archivierung und eine den Compliance-Anforderungen genügende Überlieferungsbildung aus solchen Ämtern wird zur Herausforderung.

In den meisten Fällen werden Ablieferungen direkt durch das Staatsarchiv via klar beschriebene vorarchivische Projekte definiert und in frühzeitiger Absprache mit den Departementsvorstehern und Amtsleiterinnen in Angriff genommen. Indem Ablieferungsvorbereitungen durch die Abteilung Bestandsbildung begleitet werden, kommen üblicherweise keine unstrukturierten Akzessionen ins Staatsarchiv – eine Ausnahme bilden die Privatarchive. Verwaltungsschriftgut wird entweder nach älteren Registraturplangenerationen vor Einführung von Fabasoft oder nach retrospektiver Ordnung nach der Registraturplangeneration 2006 geordnet. In das Staatsarchiv gelangen nur «integral» oder als «Auswahl» bewertete Unterlagen, es übernimmt keine Aktenvernichtung für die Dienststellen und auch keine Zwischenarchivfunktion.

Die Qualität der Dossiertitel bildet ein neues Anliegen hinsichtlich der Vorverlagerung von Erschliessungsleistung in die Verwaltung. Bei analogen Beständen konnten Standards betreffend mechanischer Arbeiten mehrheitlich durchgesetzt werden. Das Aussondern von Dubletten, das Umkopieren von nicht alterungsbeständigen Trägern auf beständige, das Entfernen von Metall und Plastik erfolgt jeweils in der Zeitspanne der Ablieferungsvorbereitung und konnte bislang nicht in den Geschäftsalltag der Dienststellen integriert werden. Somit wird die Ablieferungsvorbereitung unter Berücksichtigung sämtlicher Qualitätsansprüche des Staatsarchivs zur betrieblichen Herausforderung für die abliefernden Stellen.

Die seit Einführung des ERMS stets von Seiten der vorarchivischen Beratung kommunizierte und akzentuierte Bedeutung aussagefähiger Titel wurde mit der ersten Hybridablieferung bilanziert:[20] Abkürzungen, Inkonsistenzen und bedeutungsneutrale Begriffe wie «Allgemeines», «Verschiedenes» oder «Organisatorisches» führen vor Augen, dass die archivischen Ansprüche an die Metadaten vor dem Hintergrund der individuellen Dossiererstellung der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter noch nicht durchgehend berücksichtigt worden sind. Die Metadaten dieser dynamischen Registraturebene (werden über kurz oder lang direkt in die Archivdatenbank einfliessen und die bisherigen Qualitätsansprüche an die archivische Erschliessung relativieren. Da im Kanton Thurgau die gesamte Verwaltung mit demselben ERMS arbeitet, sind sämtliche Prozesse systemimmanent und somit auch vollumfänglich dokumentiert und nachvollziehbar, was der späteren Benutzerschaft noch mehr Transparenz in die Entstehung der Dossiers bringt und deren Evidenzwert unterstreicht. Bei traditionellen Papierablieferungen werden die Dossiertitel durch Archivarinnen und Archivare gesetzt und die bisherigen Standards werden eingehalten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Strukturvorgabe in Form von Registraturplänen eine wichtige Erschliessungshilfe darstellt und dem Staatsarchiv als getätigte Investition als Zeitersparnis zu Gute kommen.[21] Dennoch können die strategischen Ziele als angemessen umgesetzt bewertet werden.

Harte Kriterien zur Überprüfung des Verhältnisses zwischen vorarchivischer Intervention und Amortisation sind nur schwer auszumachen: Rein hypothetischer Natur bleiben die Fragen, wo die Verwaltung des Kantons Thurgau ohne Registraturpläne und flächendeckendes ERMS stünde bzw. wie das Staatsarchiv Thurgau auf ein derartiges Umfeld reagieren würde oder wie viel Arbeitszeit tatsächlich durch die strukturierte Fabasoft-Ablage bei den einzelnen Kantonsangestellten eingespart werden kann. Strukturierte Ablieferungen vereinfachen die innerbetrieblichen Abläufe des Staatsarchivs bedeutend. Die Akzessionen sind nach der konservatorischen Kontrolle und der Magazinierung für die abliefernden Stellen oder die Benutzerschaft, sprich nach ein bis zwei Tagen, aufgrund des Registraturplans konsultierbar, zeitraubende Bestandsaufnahmen im Haus fallen weg, Positiv- oder Negativlisten ebenfalls. Um die Investition in Form der Registraturpläne und des ERMS allerdings in vollem Umfang auszukosten, müsste das Staatsarchiv im Hinblick auf Hybrid- und elektronische Ablieferungen bewerkstelligen, dass die Dossiertitel ohne Anpassungen in die Archivdatenbank übernommen werden könnten, Schutzfristenkategorien durch die Ämter selbst auszufüllen wären und der physische Teil von Hybridablieferungen direkt mit alterungsbeständigem Verpackungsmaterial abgeliefert würde. Dies setzt aber beiderseits technische, organisatorische und personelle Ressourcen nach einer klar definierten Strategie voraus.

Die vorarchivische Intervention muss im Bereich der begleitenden organisatorischen Massnahmen von Dienststellen in der Übergangsphase vom Hybrid- ins rein elektronische Zeitalter intensiviert werden: Dabei muss es der Abteilung Bestandsbildung gelingen, ihre Qualitätsansprüche insbesondere bei der elektronischen Vorgangsbearbeitung noch besser in die Verwaltungsstellen hinauszutragen, denn die von den Dienststellen vergebenen Metadaten werden zwangsläufig die Qualität des Archivinformationssystems definieren.




[1]    Der vorliegende Artikel ist eine gekürzte Version des in der «Archivalischen Zeitschrift» (Band 95, 2015) abgedruckten Textes: «Die Einflussnahme des Staatsarchivs Thurgau auf die physische und elektronische Vorgangsbearbeitung in der kantonalen Verwaltung: vorarchivische Intervention zwischen Aufwand und Ertrag». Der Autor möchte seinen beiden Vorgesetzten, Abteilungsleiterin Hedi Bruggisser und Staatsarchivar André Salathé, für die kritische Durchsicht des Typoskripts danken.

[2]    Die archivischen Kernaufgaben widerspiegeln sich in den fünf Hauptabteilungen des Staatsarchivs: Archivleitung, Bestandsbildung, Bestandserschliessung, Bestandserhaltung und Bestandsvermittlung.

[3]    Rechenschaftsbericht des Regierungsrates des Kantons Thurgau an den Grossen Rat 1997, S. 27.

[4]    Vgl. Salathé, André: Stunden der Wahrheit. Das New Public Management-Projekt Optima im Staatsarchiv des Kantons Thurgau. In: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Dienstleistungsunternehmen Archiv auf dem Prüfstand der Benutzerorientierung, Vorträge des 61. Südwestdeutschen Archivtags am 26. Mai 2001 in Schaffhausen, Hans Schadeck (Hg.), Stuttgart 2002, S. 29–39; zur gesamtschweizerischen Entwicklung der NPM-Bewegung Vgl.: Ritz, Adrian: 10 Jahre New Public Management in der Schweiz. Bilanz, Irrtümer und Erfolgsfaktoren, Andreas Lienhard et. al. (Hg.), Bern 2005, S. 47–67. Zur organisatorischen Verankerung von Archivdiensten in Organisationen vgl. auch: Saffady, William: Records and Information Management: Fundamentals of Professional Practice, Second Edition, ARMA International, Kansas 2011; wobei die angloamerikanische Unterscheidung zwischen Archivar und Records Manager in der Schweiz hinfällig ist. Vgl.: Atherton, Jay: From Life Cycle to Continuum. Some Thoughts on the Records Management-Archives Relationship, Archivaria 21 (1985–1986), S. 43–51.

[5]    www.archivesonline.org, vgl. auch Bruggisser, Hedi: Das Archivportal «Archives Online». In: Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis. Baden 2012, S. 163–186.

[6]    www.kost-ceco.ch.

[7]    Hier war die kantonale Verwaltung Thurgau mit einer umfassenden Informatikstrategie eine der progressivsten der Schweiz. Vgl.: Hristova, Ralitsa; Schedler, Kuno: Digitales Aktenmanagement. Konzeptionelle Grundlagen, Entwicklungsstand auf kantonaler Verwaltungsebene in der Schweiz und internationale Initiativen. Institut für Öffentliche Dienstleistungen und Tourismus der Universität St. Gallen, pdf-Ausgabe, www.electronic-government.ch, St. Gallen 2005, S. 3.

[8]    Der Registraturplan beschreibt den statischen Teil der Registratur bis auf Stufe Reihe und nimmt auf dieser die Dossierbildung, Bewertung, Mindestaufbewahrungsdauer in der Dienststelle und die Zugriffsrechte auf. Bei der Umsetzung in Fabasoft kommt der dynamische Teil hinzu, sprich die Dossierbildung. Dossiers sind zusätzlich noch in Unterlagen gegliedert, anschliessend folgen die Dateien.

[9]    Insofern verinnerlichen die Mitarbeitenden der Abteilung Bestandsbildung die von Couture geforderte «neue Herangehensweise» an ein archivarisches Selbstverständnis: «La dimension fondamentale du problème que pose une approche diversifiée réside dans les visions de l'archivistique peut être abordée de trois façons: une façon uniquement administrative (records management), dont la principale préoccupation est la prise en compte de la valeur primaire du document; une façon traditionnelle, qui met l'accent uniquement sur la valeur secondaire du document; ou enfin, une façon nouvelle, intégrée et englobante qui se donne pour objectif de s'occuper à la fois de la valeur primaire et de la valeur secondaire du document.», aus: Couture, Carol; Rousseau, Jean-Yves: Les fondements de la discipline archivistique, nouvelle édition, Québec 2000, S. 50f.

[10]    Toebak insistiert z.B. auf der Dringlichkeit einer prospektiven Bewertung, die sich auf den gesamten Lebenszyklus von Unterlagen auswirkt, vgl.: Toebak, Peter M.: Records Management. Ein Handbuch, Baden 2007, hier S. 313. Vgl. auch: Toebak, Peter M.: Records Management. Gestaltung und Umsetzung, Baden 2010.

[11]    In der Regel werden die bestehenden Ordnungssysteme im kleinen Rahmen mutiert, grössere Anpassungen oder neue Generationen entstehen bei Zusammenlegungen oder Neugründungen von Ämtern. So wurden beispielsweise 2009 die Registraturpläne für die Bezirksgerichte und Notariate, 2010 für die General-, Staats- und Jugendanwaltschaften erstellt, 2013 erhielten die neu geschaffenen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden ebenfalls im ERMS gespiegelte Registraturpläne. Indem die Registraturpläne in der Thurgauer Verwaltung nicht nur Aktenreihen, sondern auch Aufbewahrungsfristen und eine Bewertung enthalten, nehmen sie Aspekte der franko-kanadischen calendrier de conservation auf, Vgl.: Drouhet, Geneviève; Keslassy, Georges; Morineau, Elisabeth: Records Management. Mode d'emploi, Paris 2000, S. 30. Vgl. auch: Roberge, Michel: L'essentiel du Records Management. Système intégré de gestion des documents analogiques et des documents numérique, 2 éditions, Québec 2004, 8.16; zur Bedeutung der «Verwaltungsnähe» von Archiven, vgl.: Kluttig, Thekla: Strategien und Spielräume archivischer Behördenverwaltung. In: Der Zugang zu Verwaltungsinformationen. Transparenz als archivische Dienstleistung, Beiträge des 5. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg, Nils Brübach (Hg.), Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Institut für Archivwissenschaft, Nr. 33, Marburg 2000, S. 147f.

[12]    Grafik aus: Schlichte, Annkristin: Das Modell des Life Cycles – Überlegungen zur Theorie und praktische Umsetzung in der vorarchivischen Arbeit des thurgauischen Staatsarchivs. In: Arbido, Ausgabe Nr. 2, 2010, S. 21.

[13]    Das bedeutet, dass die als überlieferungswürdig taxierte Aktenproduktion einer Dienststelle für einen vordefinierten Überlieferungszeitraum en bloc übernommen wird und keine einzelnen Aktenreihen oder Registraturplanteile.

[14]    Vgl.: Schlichte, Annkristin: Das Modell des Life Cycles – Überlegungen zur Theorie und praktische Umsetzung in der vorarchivischen Arbeit des thurgauischen Staatsarchivs. In: Arbido, Ausgabe Nr. 2, 2010, S. 22f.

[15]    In einem Ausnahmefall übernimmt eine Fachstelle für einen Nachbarkanton Leistungsaufträge, so dass in diesem Bereich des Registraturplans das Staatsarchiv Schaffhausen die Bewertungshoheit besitzt (67 Aktenreihen entsprechen einem Prozent). Insgesamt ergeben 22’975 Aktenreihen 100 Prozent.

[16]    Für die Datenzusammenstellungen danke ich Herrn Bruno Wartenweiler vom Amt für Informatik.

[17]    Im Grunde handelt es sich dabei um ein altes Postulat Enders, Vgl.: Enders, Gerhard: Archivverwaltungslehre, Nachdruck der 3. durchgesehenen Auflage, Leipzig 2004 (erstmals erschienen 1962), hier S. 73.

[18]    Vgl. www.ech.ch, Archivische Ablieferungsschnittstelle (SIP) vom 29.11.2012.

[19]    Vgl. das ähnliche Vorgehen im Schweizerischen Bundesarchiv: Ohnesorge, Krystina W.: Aufbau und Entwicklung der digitalen Archivierung im Schweizerischen Bundesarchiv. In: Archivalische Zeitschrift, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Hg.), Band 92 (2011), S. 117–124. Auch das Staatsarchiv Thurgau verfolgt das Migrationsprinzip zur dauerhaften Aufbewahrung elektronischer Unterlagen..

[20]    Bei der ersten erfolgten Hybridablieferung wurde zwischen dem Metadatenexport und dem Ingest in die Archivdatenbank (noch) eine Archivarin zwischengeschaltet, die die Dossiertitel nach dem Standard des Staatsarchivs harmonisierte. Inwiefern insbesondere bei Hybrid- und rein elektronischen Ablieferungen dieser Arbeitsschritt beibehalten werden kann, ist höchst fraglich bzw. muss in Anbetracht der Datenmenge schlicht negiert werden.

[21]    Zum Zeitgewinn bereits vorgeordneter Altregistraturen vgl.: Toegel, Bettina: Erhebung von Kennzahlen für die Erschliessung am Beispiel des Staatsarchivs Zürich. In: Informationswissenschaft – Theorie, Methode und Praxis. Arbeiten aus dem Master of Advanced Studies in Archival and Information Science, 2006–2008, hg. von Coutaz, Gilbert; Knoch-Mund Gaby; Toebak, Peter, Baden 2010, S. 222.