Einleitung zum Teil III:
Fallstudien

Sara Marty

Archive, Bibliotheken und Informationsstellen sind unmittelbar von gesellschaftlichen, politischen und technologischen Veränderungen betroffen und müssen adäquat auf diese reagieren. Gleichzeitig aber sind sie einer langfristigen Perspektive verpflichtet – ja sie schöpfen ihre Berechtigung aus dieser vorausschauenden Langfristigkeit. In diesem Berufsfeld, das von dichotomischen Kräften unter Spannung gesetzt ist, kann nur erfolgreich sein, wer die berufsrelevante Forschung kritisch zu beleuchten vermag und sie auf seine oder ihre ebenfalls kritisch analysierte Arbeit applizieren kann.

Die folgenden vier Fallstudien, die diese Publikation bereichern, belegen die hohe Kritikkompetenz der Autoren, die für ihre Masterarbeiten je einen konkreten Sachverhalt aus ihrer eigenen Berufserfahrung gewählt und unter Bezugnahme des international geführten wissenschaftlichen Diskurses untersucht haben.

Zugang und Zugänglichkeit zu internationalen Strafgerichtsakten

Tobias Affolter präsentiert in seiner Arbeit das Archiv des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), das nach Plan 2017 geschlossen wird. Zurück bleiben eine Menge an Unterlagen über von verschiedenen Akteuren begangene Menschenrechtsverletzungen in mehreren kriegszerrütteten Ländern auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Diese hochsensitiven Unterlagen können weit über das Mandat des ICTY hinaus für die nötige Vergangenheitsarbeit verwendet werden, und es besteht denn auch bereits Interesse an ihnen. Die Arbeit geht der Frage nach, welche archivpolitischen Herausforderungen sich für die Vereinten Nationen stellen und analysiert die Herausforderungen und Lösungsoptionen hinsichtlich des Zugangs und der Zugänglichkeit der Unterlagen aus archivischer Sicht. Raum nimmt auch die durchaus praktische Frage nach dem Wo ein: An welchem Standort soll ein solches Archiv stehen?

Die Standortfrage generiert berechtigte Überlegungen der Vernetzung: Zusammenarbeit zwischen Archiven und politischen Akteuren ist ein zentrales Themen in Tobias Affolters Arbeit. Von einer supranationalen Organisation gegründet, in Den Haag situiert und Verbrechen behandelnd, die während des Zerfalls einer Republik in mehrere souveräne Staaten verübt wurden, hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Akten produziert und gesammelt, deren Sekundärwert ohne Wissen dieser Verbindungen nicht in seiner Vollständigkeit fassbar ist. Neben dem Für und Wider diverser Standorte evaluiert er zudem den Vorschlag, als Ergänzung zu einem Hauptarchiv dezentralen Informationszentren zu schaffen. Mit dieser Idee wird der einigermassen starre Vermittlungsrahmen des klassischen Archivs verlassen, und man bedient sich bei den verwandten Disziplinen der Informationswissenschaft.

Die Ausführungen von Tobias Affolter zeigen sehr gut die symbolische Bedeutung des Archivs, und wie sensibel damit umgegangen werden muss, weil ganz verschiedene, teilweise widersprüchliche Erwartungen an es herangetragen werden. Das Beispiel illustriert, dass Vernetzung zwar gewünscht ist und für nötig befunden wird, in ihrer Umsetzung aber oftmals nicht einfach ist, aus rechtlichen oder organisatorischen Gründen oder schlicht, weil auf Befindlichkeiten der potenziellen Archivnutzenden Rücksicht genommen werden muss. So führt der Artikel von Tobias Affolter auch die Limiten der Vernetzung vor.

Überlieferungsbildung nach Documentation Strategy

Die Vernetzung zwischen Gedächtnisinstitutionen ist ebenfalls ein zentraler Punkt in der Arbeit von Adrian Scherrer: Er schlägt vor, wie man das Konzept der Documentation Strategy für die Überlieferungsbildung von audiovisuellen Medien aus der «Grauzone» applizieren soll. Als Arbeitskorpus hat er sich eine Sammlung von aufgezeichneten Sendungen sogenannter Piratenradios vorgenommen. Dabei handelt es sich um UKW-Sendungen, die von technisch versierten Bastlern ohne staatliche Genehmigung ausgestrahlt wurden, je nach Sender in mehr oder weniger regelmässigen Abständen, die meisten während weniger Stunden pro Monat. Ihrer klandestinen Natur gemäss entziehen sie sich einer geordneten Überlieferungsbildung, doch sind sowohl Aufzeichnungen von Sendungen als auch schriftliche Dokumente von und über solche «Piraten» in verschiedenen Archiven und in privaten Sammlungen erhalten. Damit Forschende diese disparaten und verstreuten (Teil-) Bestände effizient nutzen können, müssen sie in einem Quellenkorpus zumindest virtuell zusammengefasst und in ihrem Entstehungsumfeld verortet werden. Eine Möglichkeit einen solchen Korpus zu bilden besteht darin, das erwähnte, aus den USA stammende Konzept der Documentation Strategy anzuwenden. Der Autor stellt dieses vor und beurteilt seine Rezeption im europäischen, besonders im deutschen Raum. Er macht Vorschläge, wie eine Documentation Strategy in der Schweiz formuliert werden müsste, damit die Geschichte der Piratenradios für die sozial- und medienhistorische Forschung aufgearbeitet werden kann.

Adrian Scherrers Ausführungen zeigen, welchen Aufwand es mit sich bringt, zielgerichtet Verknüpfungen zu erstellen und zu unterhalten. Sie zeigen aber auch, welch grosses Potential für die Vermittlung und die Forschung diese Verknüpfungen bringen – Potential das anhand den bislang kaum erforschten Piratenradios ein erstes Mal ausgelotet werden kann.

Funktionsbeschreibungen als ein Bindeglied zwischen
Records Management und Archiv

Verknüpfungen sind auch im Artikel von Mathias Walter ein zentrales Thema, sowohl auf der Verzeichnungs- und Erschliessungsebene, wie auch auf der Arbeitsebene. Er untersucht, wie Funktionsbeschreibungen die archivische Erschliessung verbessern können und als Bindeglied zwischen Records Management und Archiv funktionieren.

Das Aufkommen des Naturschutzgedankens in der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat den Staat gezwungen, sich neuen, umweltpolitischen Herausforderungen zu stellen. Dementsprechend musste auch die öffentliche Verwaltung reagieren. Neue Aufgaben mussten gelöst werden, wofür neue Funktionen geschaffen und Kompetenzen definiert wurden. Kurz: Die Verwaltung musste sich reorganisieren. Im Kanton Waadt zum Beispiel wurde die Direction générale de l'environnement du Canton de Vaud (DGE) eingerichtet. Der Beschreibung der Funktionen in ebendieser Verwaltungsabteilung mittels des International Standard for Describing Functions (ISDF), elaboriert vom Internationalen Archivrat, widmet sich die Arbeit von Mathias Walter.

Indem er ISDF auf das Amt für Umwelt des Kantons Waadt anwendet, zeigt er auf, wie die Anwendung des Standards das Verständnis des Entstehungskontextes erleichtert und zusätzliche Zugangspunkte für das Retrieval bietet. Neben einer eindeutigeren Abbildung der Vernetzungen über das Amt hinaus in die Administration bietet der Erschliessungsstandard ISDF einen zweiten Vorteil: Er schlägt Brücken zum Records Management. So funktioniert der ISDF als Katalysator, mittels dessen sich Archiv und Records Management nicht nur besser verbinden lassen, sondern der es den beiden Disziplinen ermöglicht, sich gegenseitig zu befruchten.

ISDF ist ein relativ junger Standard, er wurde erst 2008 vom Internationalen Archivrat verabschiedet. In der Schweiz ist er noch relativ wenig verbreitet. Dies auch, weil seine Anwendung eine gewisse Vorarbeit erfordert, denn die Funktionen und ihre Charakteristika müssen vorgängig, das heisst vor der archivischen Erschliessung, identifiziert werden. Der Artikel von Mathias Walter zeigt aber exemplarisch, welchen Zusatzwert im Hinblick auf die Kontextualisierung die Erschliessungsinformationen nach ISDF haben und vor allem, welch grosses Potential sie bergen für die moderne integrierte Archivarbeit, die nicht mehr ohne Records Management konzipiert werden kann.

Disziplinenübergreifende Erschliessung einer Pfarreibibliothek

Für seine Masterarbeit hat Gaël Jeannin drei historische Bibliotheken von katholischen Pfarreien der Diözese Lausanne untersucht. Für den Artikel dieses Sammelbandes fokussiert er sich auf das die Bibliothek der katholischen Kirchgemeinde von Attalens im Kanton Freiburg, deren Erschliessung er konzise analysiert.

Diese Bibliothek wurde zwischen dem 17. und der Mitte des 20. Jahrhunderts gebildet und von den Pfarrern zu Zwecken der Bildung und für den Gottesdienst genutzt. Doch es dauerte lange, bis sich der Pfarreirat des Wertes seiner geistlichen Bibliothek gewahr wurde; knapp 15 Jahre musste die Pfarreisekretärin Informationsarbeit leisten, bis ein Projektbudget bewilligt wurde, damit die Bibliothek erschlossen und fachgerecht konserviert werden kann. Im ersten Teil des Artikels beschreibt Gaël Jeannin diesen langwierigen Prozess und kann so eindrücklich vorführen, wie herausfordernd kulturpolitische Arbeit in kleinräumigen Strukturen sein kann.

Im zweiten Teil des Artikels analysiert der Autor den 157 Titel umfassenden Bibliothekskorpus, den erst selbst im Frühjahr 2014 inventarisiert hatte. Er hält sich dabei an ein Raster vorgängig festgelegter bibliografischer Elementen wie Sprache, Jahrgang, Publikationsort und Kategorie (z.B. Theologiepraxis, Theologiegeschichte). Diese Angaben ermöglichen Rückschlüsse auf die Geistlichen, welche die Bibliothek sowohl konstituiert als auch genutzt haben. Unter anderem lässt sich so ihr Bildungsniveau herleiten. Ein besonderes Augenmerk legt der Autor auf die in den Büchern angebrachten Exlibris, sofern vorhanden, denn sie verraten, welcher Pfarrer welche Werke besessen hat. Die Büchersammlungen ermöglicht dann, ein Profil des Besitzers (und wahrscheinlichen Lesers) zu erstellen.

Der Autor erklärt, dass nicht ein Buch alleine solche Interpretationen zulässt, sondern nur die Bibliothek als gewachsene und in Teilen bewusst zusammengestellte Sammlung. Ergänzend zu den bibliothekarischen Standards der Erschliessung muss darum auch das Provenienzprinzip respektiert werden. So weist Gaël Jeannin in seinem Artikel darauf hin, dass ein solcher Bestand nur mit disziplinenübergreifenden Methoden befriedigend konserviert, erschlossen und vermittelt werden kann. Die angewandte Bibliothekswissenschaft muss hier durch die Archivwissenschaft komplettiert werden; einerseits um dem Bestand gerecht zu werden, andererseits um den Historikern eine schlüssige Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Denn fachgerecht verzeichnet und erschlossen bietet die historische Bibliothek der Kirche von Attalens ganz neue Perspektiven für die kirchen-, sozial- und lokalhistorische Forschung. Besonders interessant wird diese durch die spezielle geografische Lage der Kirchgemeinde Attalens: Im Südzipfel des Kantons Freiburg, in direkter Nachbarschaft zu reformierten Gemeinden stehend, war die gegenreformatorische Bewegung dort zeitweise besonders ausgeprägt. Anhand der erschlossenen historischen Bibliothek lassen sich nun die Intensität und die Mechanismen der Gegenreformation in dieser Region erforschen.