Einleitung in Teil IV:
Informationstechnologien in kulturellen Organisationen

Neue Möglichkeiten der Erschliessung, des Zugangs und der Wertschöpfung

Ulrich Reimer

Die im Folgenden vorgestellten vier Beiträge befassen sich mit dem Einsatz von Informationstechnologie, um neuartige Dienstleistungen zu realisieren bzw. bestehende Dienstleistungen anzureichern. Dabei spielt zunächst die Digitalisierung bislang nur analog vorliegender Inhalte eine zentrale Rolle, aber auch die Bereitstellung geeigneter Hilfsmittel, um den Zugang zu relevanten Informationsobjekten zu unterstützen. Im Artikel von Katrin Keller geht es um die Digitalisierung und Erschliessung von Fotobeständen, Urban Stäheli stellt eine neuartige Idee für die Visualisierung der Struktur eines Archivplans vor, Guillaume Rey-Bellet zeigt auf, wie kulturelle Institutionen soziale Medien als zusätzlichen Verbreitungskanal nutzen können, und Simone Sumpf setzt sich mit der Behandlung von digitalen Archivalien in Nachlässen auseinander.

Darüber hinaus thematisieren drei der vier Arbeiten Aspekte des aktuellen Trends, Inhalte von Archiven, Bibliotheken, Museen und anderen kulturellen Organisationen über das Internet einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Digitalisierung von Fotobeständen

Katrin Keller befasst sich in ihrem Beitrag mit der geplanten Digitalisierung des Fotobestands im Thomas-Mann-Archiv und erläutert dabei verschiedene Aspekte, die bei der Erschliessung und Digitalisierung von Bildarchiven zu berücksichtigen sind.

Eine erste Digitalisierung eines Teilbestands der Fotos im Thomas-Mann-Archiv erfolgte bereits in den 90er Jahren, da die Nachfrage nach Fotografien aus dem Archiv laufend zunahm. Die Anfragen bedeuteten einen erheblichen Aufwand für die Archivmitarbeitenden, denn die existierenden analogen Findmittel waren (und sind) unzureichend, so dass oft nur die physische Sichtung der Fotoordner übrig blieb. Die Rechte an den zu digitalisierenden Bildern wurden einer Agentur übertragen, welche diese online zur Verfügung stellt. Der Zugang zum so entstandenen, kommerziellen Bildarchiv ist einer breiten Öffentlichkeit jedoch nicht möglich, sondern lediglich registrierten Nutzern.

Trotz dieser Massnahme erhielt das Thomas-Mann-Archiv weiterhin laufend Bildanfragen, einerseits nach bislang nicht digitalisierten Bildern, andererseits, weil die Anfragenden keinen Zugriff auf das bestehende digitale Archiv haben oder dieses gar nicht kennen. Letztlich erschien es sinnvoll, den Gesamtbestand zu digitalisieren. Das dafür erstellte Konzept wird im Beitrag von Katrin Keller beschrieben und erläutert. Sie geht auf die Bedürfnisse der verschiedenen Benutzergruppen ein und diskutiert die Anforderungen an die Erschliessung des digitalen Archivs, welche sich daraus ergeben oder auch aus rein archivarischer Sicht notwendig sind.

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Herstellung des Kontextbezugs für die Fotos und die dazu notwendige Verknüpfung zwischen dem digitalisierten Bildarchiv und dem Teil des Thomas-Mann-Archivs, welcher den schriftlichen Nachlass umfasst. Katrin Keller entwirft einen Vorschlag, wie man beide Archivsysteme geeignet miteinander verbinden kann, um Transparenz und Nachvollziehbarkeit im Umgang mit dem Archivgut sicherzustellen. Dieser Vorschlag kann als Grundlage für andere, ähnliche gelagerte Archivsituationen dienen.

Liniennetzpläne als eine neue Art des Zugangs zu Archiven

Der Beitrag von Urban Stäheli diskutiert bestehende Findmittel für die Online-Recherche in Archiven und schlägt ein neuartiges Instrument zur Suche und zur Navigation in Archiven vor. Der Autor kritisiert, dass die Bereitstellung von Recherchemitteln im Internet nur wenig nützt, wenn sich Recherchierende in der Struktur des betreffenden Archivplans nicht auskennen. Oft werden zu den Rechercheinstrumenten Hilfestellungen angeboten, um die Orientierung zu erleichtern, doch dies helfe einem Laien nur bedingt. Moderne Informatik-Hilfsmittel können den Zugang zu Archiven nur unwesentlich erleichtern, solange das Verständnis der Archivstruktur fehle, so der Autor. Es bleibt entweder ein sehr zeitaufwändiges Auseinandersetzen mit dem Archivplan oder der klassische Weg über die Beratung durch das Archivpersonal.

Urban Stäheli argumentiert daher, dass beim Übergang von der analogen zur digitalen Präsentation von Archiven die Archivpläne nicht 1:1 übernommen werden sollten, sondern ihre Darstellung den neuen Möglichkeiten des digitalen Zugangs anzupassen sind. Ansonsten würden die Möglichkeiten der digitalen Medien nicht ausgenutzt.

Zur Lösung der Problematik lässt sich der Autor durch Wissensstrukturierungsansätze aus dem Wissensmanagement inspirieren und schlägt vor, die Struktur eines Archivs mit Hilfe eines Liniennetzplans darzustellen und zu visualisieren – ganz ähnlich, wie dies für das Verbindungsnetz öffentlicher Verkehrsmittel geschieht. Er argumentiert, dass eine netzartige Darstellung übersichtlicher ist als eine hierarchische Baumdarstellung und den Wechsel von einer Detail- zur Übersichtsansicht sowie den Wechsel zwischen verschiedenen Unterthemen und Beständen wesentlich erleichtert. Der Autor illustriert diese spannende Idee am Beispiel des Staatsarchivs Thurgau, für welches er einen solchen Liniennetzplan entwickelt hat.

Soziale Medien als Verbreitungskanal für kulturelle Institutionen

Kulturelle Institutionen wie Museen, Bibliotheken und Archive gehen zunehmend dazu über, einen Teil ihrer textuellen und Multimedia-Inhalte über soziale Medien einer breiteren Öffentlichkeit als Open Data zur Verfügung zu stellen. Guillaume Rey-Bellet gibt in seinem Beitrag einen Überblick über internationale sowie schweizerische Initiativen mit diesem Ziel und untersucht insbesondere die Rolle, die sogenannte Wikipedians in Residence dabei spielen. Dies sind Repräsentanten von Wikimedia, welche für eine bestimmte Zeit in einer (kulturellen) Institution daran arbeiten, bestimmte Inhalte für die Veröffentlichung in sozialen Medien aufzubereiten. Wikimedia ist die Organisation, welche für die Wikipedia-Seiten, für die Multimedia-Datenbank Wikimedia Commons und andere frei zugängliche Inhalte auf dem Internet zuständig ist.

Die Möglichkeiten, die die Bereitstellung von Inhalten kultureller Organisationen über soziale Medien wie z.B. Wikimedia Commons oder Flickr – The Commons bieten, verändert die traditionelle Beziehung zwischen den kulturellen Organisationen und ihren Nutzern. Sie ermöglichen nämlich nicht nur den Zugriff für eine breite Öffentlichkeit, sondern schaffen essenzielle Mehrwerte, wie die kollaborative Kommentierung und Annotation der veröffentlichten Inhalte durch eine breite Benutzerschicht. Beispielsweise lassen sich auf diese Weise historische Fotografien mit Metadaten, wie Ort der Aufnahme, Aufnahmedatum und abgebildete Personen, anreichern. Oft ist das dazu nötige Wissen in der Organisation, welche diese Fotografien verwaltet, nicht vorhanden und kann über dieses Prinzip des Crowdsourcing eingeholt werden.

Der Beitrag von Guillaume Rey-Bellet geht auch auf das Spannungsfeld zwischen Wikipedians in Residence und Gastorganisationen ein. Sowohl kulturelle Institutionen als auch Wikimedia (und andere soziale Medien) haben das Ziel, Wissen zu verbreiten, doch sind die Expertisen und Vorgehensweisen recht unterschiedlich. Beispielsweise klafft der Kenntnisstand bezüglich Copyright-Fragen oft weit auseinander. Zudem können die Sorge um die Reputation der Institution und Angst vor Kontrollverlust bei Veröffentlichung der Daten die Zusammenarbeit erschweren. Der Autor skizziert dieses Spannungsfeld und kommt zu dem Schluss, dass der Verbreitungskanal sozialer Medien für kulturelle Institutionen grosses Potential bietet, dessen Realisierung ein aufeinander Zugehen von Mitarbeitenden dieser Institutionen und Wikipedians in Residence erfordert.

Digitale Archivalien in Personennachlässen

In dem Beitrag von Simone Sumpf geht es um die relativ neue Problematik der Erschliessung und Langzeitsicherung digitaler Archivalien in Personennachlässen. Die Autorin zeigt auf, welche Herausforderungen mit der Verfügbarkeit solcher Nachlässe entstehen und diskutiert verschiedene Ansätze, damit umzugehen. Simone Sumpf ergänzt ihre Ausführungen um eine Beschreibung der Situation im konkreten Fall des Archivs des Schriftstellers Christian Haller im Schweizerischen Literaturarchiv und schlägt ein ihr angemessenes Vorgehen vor.

In den bestehenden Erschliessungsgrundsätzen des Schweizerischen Literaturarchivs gibt es praktisch keine Vorgaben zur Erschliessung digitaler Archivalien, so dass von Fall zu Fall entschieden werden muss, wie am besten vorzugehen ist. Da zwischen den digitalen Nachlässen sehr grosse Unterschiede bestehen, lassen sich generelle Regeln zur Erschliessung, Nutzung und Langzeitarchivierung auch kaum aufstellen. Gewisse Prinzipien und Leitlinien wären jedoch hilfreich. Die Autorin trägt einige dieser Prinzipien in ihrem Beitrag zusammen. So diskutiert sie zum Beispiel den Umgang mit Dateinamen und erläutert die Problematik, den Verfasser einer Datei zu bestimmen, welche völlig anders gelagert ist als bei Papierdokumenten. Ferner geht sie auf die Behandlung und das Potential von Sicherungskopien ein, die von einer Textbearbeitungs-Software automatisch erstellt wurden.

Digitale Archivalien in literarischen Nachlässen sind auch deshalb wertvoll, da sie völlig neue Möglichkeiten der elektronischen Weiterverarbeitung bieten, die für Papierdokumente nicht oder nur mit hohem Aufwand möglich sind. Dazu gehören zum Beispiel die automatische Vergleichbarkeit von Dokumenten, die Möglichkeit statistischer Auswertungen sowie die Möglichkeit, Einblicke in den Entstehungsprozess eines Werkes zu erlangen, falls geeignete Sicherungskopien dazu vorliegen. Diese vielfältigen Möglichkeiten werden gegenwärtig jedoch durch rechtliche Bestimmungen stark eingeschränkt – ein Aspekt, auf den Simone Sumpf zum Schluss eingeht. Die Autorin liefert einen wertvollen, anregenden Beitrag vor allem für jene, die sich ebenfalls mit digitalen Nachlässen befassen.