Archivierung aus Fachanwendungen

Ein Werkstattbericht aus dem Staatsarchiv Graubünden

Ursina Rodenkirch-Brändli, Bernhard Stüssi

Seit dem 1. Januar 2016 ist die Archivierung für die Graubündner Behörden verbindlich geregelt. Im «Gesetz über die Aktenführung und Archivierung» werden unter anderem die Nachvollziehbarkeit und die Dokumentierung des Handelns der Behörden als Ziele definiert.[1] Ein Ordnungssystem ist vorgeschrieben, nicht aber das Dossierprinzip. Letzteres schien dem Gesetzgeber offenbar nicht erforderlich für eine funktionierende Aktenführung und Archivierung – obschon seine Einhaltung in der archivischen Praxis auch in Graubünden lange Zeit als Selbstverständlichkeit gesehen wurde. Was in der «Papierwelt» über Jahrhunderte erprobt und einfach vorstellbar ist, bewährt sich in Form von Dateiablagen auch in der elektronischen Welt. Ein grundsätzliches Problem der Archivierung stellt sich allerdings mit der zunehmenden Verbreitung von Fachanwendungen in neuer Schärfe: Zuerst war nicht die Archivierung, sondern die Aufgabe. Das Strassenverkehrsamt vergibt und entzieht Nummernschilder an Autofahrer, die Sozialversicherungsanstalt spricht Invalidenrenten und revidiert diese periodisch. Entsprechend organisieren die Behörden ihre Aktenführung so, dass sie diese Aufgaben wahrnehmen können. Wenn dies ohne Dossiers auch oder gar besser funktioniert: Das Verwaltungshandeln will dennoch dokumentiert sein.

Jean-Yves Rousseau und Carol Couture schlagen eine organische Herangehensweise vor, die das Problem elegant aufzulösen verspricht. Sie unterscheiden zwischen dem «dossier» als Zuständigkeit für ein Projekt, für eine bestimmte Tätigkeit und dem «dossier» als «article» (Akteneinheit), der dokumentarischen Spur, die bei der Erfüllung einer Aufgabe entsteht.[2] «C'est l'analyse de la réalité documentaire à traiter qui fait foi de l'usage approprié de l'unité de travail que constitue l'’article’.»[3]

Mit diesem Ansatz gingen wir die Archivierung aus Fachanwendungen zweier Behörden an: des Strassenverkehrsamts und der Sozialversicherungsanstalt. Zur Veranschaulichung behandeln wir hier den Entzug von Kontrollschildern und die Invalidenversicherung.

Der Entzug von Kontrollschildern ist eine Routineaufgabe, die stets etwa gleich abläuft und meistens aufgrund nicht vorhandener Haftpflichtversicherung vorgenommen wird. In diesem Falle erhält das Strassenverkehrsamt von der Versicherung via Fachapplikation die Information, dass die Haftpflichtversicherung zu einem Fahrzeug erloschen ist. Das System generiert darauf hin diverse Briefe an den Halter mit der Aufforderung, einen Versicherungsnachweis beizubringen. Wird dem nicht nachgekommen, generiert das System ein Schreiben an die Kantonspolizei zum Einzug der Schilder. Dieser Prozess ist vollautomatisiert und wird durch das Strassenverkehrsamt lediglich überprüft. Das Handeln der Abteilung Fahrzeugzulassung bildet sich als Evidenzwert in den Unterlagen ab: Der Ablauf eines jeden Kontrollschild-Entzugs lässt sich anhand von Meldungseingang und Standardbriefen nachvollziehen. Der Gleichförmigkeit der Aufgabe steht die Gleichförmigkeit der Unterlagen gegenüber; es genügt folglich zur Archivierung eine Bemusterung. Zur Abbildung des Informationswertes können demzufolge die Abläufe nicht hinzugezogen werden. Dazu werden aus dem System Exporte von Stammdaten erstellt und archiviert. Die Überlegungen hinter diesem Vorgang lassen sich im Projekt 14-1 ViaCar/CARI der Koordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen (KOST) nachlesen.[4]

Anders verhält es sich mit der Invalidenversicherung: Obwohl formal-rechtlich ebenfalls detailliert geregelt, unterscheiden sich die einzelnen IV-Fälle erheblich voneinander. Art und Grad der Invalidität sind von Fall zu Fall verschieden, ebenso der Umgang der betroffenen Person mit ihrem Handicap. Der Zuspruch einer (Teil-)Rente hängt auch von der beruflichen Situation der/des Invaliden ab und nicht zuletzt von ihrer/seiner finanziellen Lage, insbesondere im Zusammenhang mit anderen Versicherungsleistungen. Um einen Überblick über den konkreten Vollzug der Aufgabe «Invalidenversicherung» durch die Sozialversicherungsanstalt (und dessen Wandel im Lauf der Zeit) zu erhalten, ist deshalb nicht nur auf den Evidenzwert, sondern vor allem auf den Informationswert der Unterlagen abzustellen.[5] Eine Bemusterung genügt hier zur Dokumentation nicht; gefragt ist eine Stichprobe von angemessener Grösse.

Die Praxistauglichkeit der Bewertungsentscheide «Bemusterung» (Abteilung Fahrzeugzulassung) und «Stichprobenziehung» (Invalidenversicherung) lässt sich gegen die eingesetzten Fachapplikationen prüfen: Letztere sind auf die Arbeitsinhalte und -abläufe der Behörden optimiert. Wenn die gewünschten Muster, respektive Stichproben, ohne grossen Zusatzaufwand (den gilt es bei der Archivierung für die Behörden ohnehin zu vermeiden) aus der Applikation gezogen werden können, so ist von einer angemessenen Abbildung der obgenannten Arbeitsinhalte und ‑abläufe auszugehen. Sollten dagegen die gewünschten Unterlagen technisch nicht oder nur sehr schwer zu erlangen sein, so deutet dies darauf hin, dass die Archivierung Aufgaben und Tätigkeit der betreffenden Behörde zu wenig berücksichtigt.

Was also sind die Akteneinheiten der Dokumentation des Entzugs von Kontrollschildern oder der Invalidenversicherung? Eine Akteneinheit der Abteilung Fahrzeugzulassung enthält eine kurze Beschreibung des Geschäftsvorgangs, ausgedruckte Dokumente (z. B. Standardbriefe), aus Datensätzen generierte Dokumente (z. B. einen Fahrzeugausweis) sowie Änderungen in Datensätzen (z. B. den Eingang der Meldung, dass ein Kontrollschild entzogen wurde).

Bei der Invalidenversicherung besteht a priori keine Akteneinheit. Aufgrund der Verschiedenheit der einzelnen IV-Fälle gibt es keine generische «réalité documentaire». Gleichwohl ist die Anzahl der möglichen Dokumenttypen beschränkt. Ein IV-Fall ist stets durch eine Anmeldung, Unterlagen zur Beurteilung (z. B. ärztliche Gutachten), einen Vorbescheid und eine Verfügung dokumentiert. Daneben kann eine Vielzahl an weiteren Unterlagen anfallen wie Lohnabrechnungen, Gesprächsnotizen, Handelsregisterauszüge, Einwände, Bewerbungsunterlagen usw.

Inwiefern sind nun die Fachanwendungen der Abteilung Fahrzeugzulassung und der Invalidenversicherung geeignet, solche Akteneinheiten auszugeben? Das System «CARI» enthält keinen Prozessbeschrieb. Der Standardbrief wird aufgrund von geänderten Informationen in der Datenbank automatisch erzeugt; der Versand wird ebenfalls durch einen Datenbankeintrag dokumentiert. Eine «physische» Kopie (beispielsweise als PDF) wird nicht gespeichert. Analog verhält es sich mit den Fahrzeugausweisen. Änderungen in Datensätzen werden ausschliesslich in der Datenbank selber dokumentiert; bei Bedarf können sie über eine Benutzeroberfläche angezeigt werden. Um eine Akteneinheit zu erzeugen, sind manuelle Benutzereingriffe im Einzelfall nötig: Die Beschreibung des Geschäftsvorgangs wird von einer Vertretung des Strassenverkehrsamts verfasst, Standardbriefe und Fahrzeugausweis werden als Muster erstellt und von der Benutzeroberfläche werden Screenshots gemacht. Der Aufwand ist beträchtlich, lässt sich aber für eine Bemusterung rechtfertigen.


Abbildung 1: Manuell erstellte Akteneinheit der Abteilung Fahrzeugzulassung

Das auf einer Content-addressed-storage-Datenbank beruhende System der Sozialversicherungsanstalt enthält Dokumente in den Formaten TIFF und DOC. Geschäftsfälle werden als Prozessschritte behandelt und manuell eröffnet und geschlossen: Zu derselben Person können beispielsweise sowohl eine IV-Anmeldung als auch eine IV-Taggeld-Anmeldung oder eine IV-Taggeld-Revision als separate Geschäftsfälle vorhanden sein. Bei allen drei Vorgängen wird ein so genanntes Auslösedokument erstellt, zu dem allenfalls weitere, als «Begleitdokumente» bezeichnete Unterlagen abgelegt werden. Allein im Bereich Invalidenversicherung gibt es 126 verschiedene Auslösedokumente und damit Geschäftsfall-Arten. Es ist möglich, eine Akteneinheit (als so genanntes «virtuelles Dossier») auszugeben, indem nach Sozialversicherungsnummer und Dokumenttypen gefiltert wird. Für Abklärungen bei Fachstellen und Gerichtsfälle wurden solche Filter bereits im System implementiert. Für die Invalidenversicherung werden 432 Dokumenttypen berücksichtigt. Die vorhandenen Unterlagen werden zu einem PDF zusammengefasst und automatisch durch eine File History und ein Inhaltsverzeichnis ergänzt. Der Aufwand ist mässig und erlaubt auch eine breitere Übernahme in Form einer Stichprobenziehung.

 


 

Abbildung 2: Ablagestruktur bei der Sozialversicherungsanstalt

 


 

Abbildung 3: Erstellen eines «virtuellen Dossiers» bei der Sozialversicherungsanstalt

 

Es stellte sich heraus, dass die Analyse der Aufgaben und Tätigkeiten von Strassenverkehrsamt und Sozialversicherungsanstalt und die auf dieser Grundlage vorgenommenen Bewertungsentscheide mit den bei den Behörden vorhandenen Fachapplikationen umsetzbar sind. Das von Rousseau und Couture skizzierte Vorgehen hat sich bewährt: Die Aufgabenanalyse und die Suche nach der dokumentarischen Spur dieser Aufgaben sind auch bei der Archivierung aus Fachanwendungen ein zielführender Ausgangspunkt.

 




[1]    Gesetz über die Aktenführung und Archivierung vom 28. August 2015 (GAA, BR 490.0), Inkrafttreten am 1. Januar 2016.

[2]    Die KOST-Terminologie schlägt für «article» u. a. «Akteneinheit, Artikel, Verzeichnungseinheit» (nach VSA) oder «Element» (nach ICA) vor.

[3]    Rousseau, Jean-Yves; Couture, Carol et al.: Les fondements de la discipline archivistique, Québec 1994 (reprint ebd. 2011), S. 122.

[4]    Siehe «14-1 ViaCar/CARI», https://kost-ceco.ch/cms/index.php?14-1_de. (Sämtliche Weblinks wurden am 19.2.2018 zuletzt aufgerufen.)

[5]    Statistik und zusammenfassende Berichte bieten einen Überblick auf der operativen Ebene der Sozialversicherungsanstalt; die Wandlung des Behördenhandels oder die Auswirkungen desselben auf einzelne Personen lassen sich damit aber kaum nachvollziehen.