Einleitung Teil I

Gaby Knoch-Mund

Neue Bewertungsansätze im Kontext der Überlieferungsbildung

Die Studierenden des Weiterbildungsprogramms in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft setzen sich intensiv mit Überlieferungsbildung und Bestandsaufbau, mit archivischer Bewertung und bibliothekarischer Ausscheidung auseinander. Die Archivwissenschaft kennt seit dem 19. Jahrhundert eine grosse Publikationstätigkeit zur Bewertung, die besonders unter deutschen Archivaren zu heftigen Disputen, Auseinandersetzungen über Gesellschaftsmodelle sowie der Rolle von Staat und Gesellschaft geführt hat. Heute treffen sich weit entfernte Positionen aus Nordamerika und Australien zu Macro- und Microappraisal oder dem Calendrier de conservation mit Dokumentationsprofilen für Kommunen aus Deutschland oder der Verwaltungssicht von horizontal-vertikaler Bewertung, um aus der Theorie praktische Umsetzung zu entwickeln. Erstmals testen Archive den Einbezug einer grösseren Öffentlichkeit in den Bewertungsdiskurs mit ein - so auch das Schweizerische Bundesarchiv. Zudem wird gefragt, ob die Anwendung automatisierter Verfahren oder der intellektuell-manuelle Zugang zu unterschiedlichen oder qualitativ vergleichbaren Resultaten führen. Der Diskurs hat damit auch die Schweiz erreicht, der Verband der Schweizer Archivare und Archivarinnen widmet seine Fachtagung 2018 einem Bewertungsthema, der Bewertung von Patientendossiers. Es ist darum begrüssenswert, dass auch die Studierenden und AbsolventInnen des MAS ALIS Methoden und Modelle exemplarisch prüfen und weiterentwickeln. Die gemeinsame Ausbildung von Archivaren und Bibliothekaren, von Studierenden aus der Romandie und der Deutschschweiz liess auch den Praxisgraben entlang der Sprachgrenze überwinden. Der franco-kanadische Aufbewahrungskalender wird in Zürich angewandt, das deutsche Dokumentationsprofil setzt zum Sprung in die Westschweiz an.

Thomas Gisin skizziert in seinem Artikel die Anwendung des Dokumentationsprofils in Liestal, nachdem er kurz die einschlägigen theoretischen Grundlagen referiert und in einem interkantonalen Vergleich Überlieferung und Bewertung der Kantone Waadt und Basel-Landschaft einander gegenübergestellt hat. Die Einführung eines ‚personalisierten’ Dokumentationsprofils dient der Kantonshauptstadt und ihrem Gemeindearchiv als Grundlage für die Geschäftsverwaltung, das Records Management, die Bewertung der Unterlagen und einer aktiven Ergänzung, um eine ganzheitliche Überlieferungsbildung zu erreichen. In seiner Arbeit zeichnet der Autor das Panorama einer kleinen Kantonshauptstadt. Das Verwaltungsschrifttum steht auf einer gesetzlichen Basis im Zentrum, doch sehr viel lässt sich ergänzen, um die Lebenswirklichkeit eines Ortes umfassend abzubilden. In konzentrischen Kreisen wird die gesetzlich verankerte Pflicht zur Archivierung ergänzt durch die Vielfalt wichtiger privater Player bis zu einzelnen Initiativen, welche das Leben in Liestal in einem gewissen Zeitraum prägten. Dieser Ansatz wird in sechs Dokumentationszielen und der Bestimmung des Dokumentationsgrades und des Quellenfundus ausgeführt. Vorbereitend müssen auch die relevanten Registraturbildner und Aktenbestände eruiert werden. Der Initialaufwand ist darum für eine Gemeinde relativ hoch, was auch der Anhang zu diesem Artikel zeigt. Es braucht die Bereitschaft der zuständigen Personen einer Gemeinde, deren Amtsträger einer anderen Haupttätigkeit nachgehen, sich nicht nur mit der Archivierung von Geschäftsunterlagen, sondern auch mit weiteren Aspekten des Stadtlebens vertieft auseinanderzusetzen. Die ausführliche Beratung und die Entwicklung des Dokumentationsprofils lohnen sich aber für den Archivar, wenn er das Modell auch in anderen, vergleichbaren Gemeinden anwenden kann. Der Einsatz für eine vielfältigere Überlieferung und ein genaueres Abbild der Gesellschaft und das Kulturerbe ist ein Gewinn für die Archivierung und die Stadt.

Michel Schmidhalter zeigt in seiner Arbeit auf, dass sich auch parastaatliche Organisationen und Privatfirmen mit Gewinn systematisch mit Überlieferungsbildung und Bewertung auseinandersetzen. Bewertung war im traditionell analogen und papiergebundenen Kontext den Archivaren vorbehalten und fand am Schluss des Prozesses von Akten vor der Ablieferung ins Archiv beim Aktenproduzenten oder erst im Archiv statt. Mit der digitalen Transformation hat sich der Life cycle der Unterlagen nicht grundsätzlich verändert, doch die Rolle des Archivars oder der Archivarin ist eine andere geworden. Sie greifen zu einem früheren Zeitpunkt in die Überlieferungsbildung ein. Der archivische Wert zukünftiger (digitaler) Unterlagen steht schon vor ihrer Entstehung fest, ArchivarInnen werden idealerweise beim Aufbau von Systemen zur Informationsverwaltung einbezogen und definieren Schnittstellen und Ingest von Daten ins Archivsystem mit. Daraus folgert die nächste Forderung, Unterlagen, Geschäfte und Daten allenfalls automatisiert bewerteten zu können. Der Verfasser prüft für die sogenannte Initialbewertung, die er in Anlehnung an Peter Toebak weiterentwickelt, ein Bewertungstool und stellt es der klassichen Bewertung von SBB historic gegenüber. Es geht dabei um die Bewertung von Konzerneinheiten, Funktionen und Prozessen der SBB bis hinunter zu Prozesskategorien auf der Basis des Macroappraisals. Das Tool basiert auf einer Excel-Tabelle mit recht vielen Feldern zur Berechnung des generischen Archivstatus“ und einer Einteilung der Aufgaben in sechs Kreise. Unterschieden werden Prozessebenen, -kategorien und -typen. In der Testphase ist noch nicht ersichtlich, ob durch das neue Verfahren eine Effizienzsteigerung möglich ist. Dazu braucht es auch eine klare Abgrenzung der Kompetenzen von Archivaren und Records Managern – mit Bezug auf die SBB haben die Archivare die Möglichkeit, Entscheide des Records Managements zu übersteuern und damit den Schlussentscheid über Kassation oder Archivierung zu fällen. Klar ist, dass in der modernen Verwaltung die prospektive Bewertung oder der Entscheid über die definitive Archivierung von Unterlagen weitgehend auf den Anfang des Prozesses verschoben worden und mit der Einführung eines Registraturplans in der elektronischen Geschäftsverwaltung einhergeht. Das Bewertungstool mit seiner Anpassbarkeit der Bewertungsskala und anderer Parameter kann dazu als Instrument dienen, um Bewertung konsistent und nachvollziehbar zu gestalten, damit die Archivierung zugunsten einer Investition ins Records Management zu entlasten.

Film, Bild und Künstlernachlässe erschliessen und als historische Quellen vermitteln – Erschliessungs- und Vermittlungsstrategien

Drei Arbeiten beschäftigen sich mit der Überlieferung audiovisueller Unterlagen aus sehr unterschiedlicher Perspektive. Thomas Fink untersucht die Erschliessungspraxis im Fotoarchiv eines grossen Pharmakonzerns, Seraina Winzeler nähert sich dem Medium Film, um Archiv und Wissenschaft einander näher zu bringen, Magdalena Czartoryjska Meier widmet sich der Auswertung des Privatarchivs eines Tänzers. Die Quellen – Foto, Film, Dokumente zu Aufführungen – sind nicht nur konservatorisch anders zu behandeln als Papierakten, sondern haben einen Charakter, der eng mit der Flüchtigkeit des Moments verbunden ist. Diesen festzuhalten, zu erhalten und zu tradieren und durch die Auswertung wieder zu vermitteln und zu wecken, erfordert – wie bei allen archivischen Prozessen – Entscheide bei der Übernahme und Erschliessung der Unterlagen und eine klare Dokumentation der einzelnen Schritte.

Thomas Fink analysiert einen Fotobestand im unternehmerischen Kontext, insbesondere die Retrieval Funktionen in der Roche PhotoLibrary, die zur Kommunikationsabteilung gehörte und den Mitarbeitenden des Konzerns über eine Intranet-Plattform zugänglich war. Die Abteilung wurde einige Monate nach Abschluss der Zertifikatsarbeit des Autors im Frühjahr 2017 neu organisiert – Es ist auszugehen, dass die Analyse des Verfassers zumindest teilweise aufgenommen wurde. Seine Arbeit bringt neue und wichtige Aspekte in die Diskussion ein, da die Nutzung der PhotoLibrary im Rahmen eines Konzerns erfolgte, dem Marketing diente und Dokumentationscharakter hatte, und nicht im Kontext einer bewahrenden Archivinstitution geschah. Beide Institutionstypen verbindet aber der Bedarf nach möglichst einfachen Suchfunktionen, die zu präzisen Resultaten führen. Die PhotoLibrary nutzte für die inhaltliche Bildersschliessung“ einen Thesaurus, bildtypologische Vermerke (sogenannte Kategorien) sowie eine Dossierfunktion für ausgewählte Themenbereiche“. Der Thesaurus, der gewisse Lücken aufwies, bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung, die sich zuerst der Bildtheorie widmet, sich ihr inhaltlich, ikonographisch, generisch annähert und die sprachbasierte Bilderschliessung (Aboutness, Ofness) erläutert sowie ihre Umsetzung in Dokumentationssprachen mit kontrollierten Vokabularen, freier Beschlagwortung und Abstracting. Die Umsetzung in der Praxis zeigt dem Leser/der Leserin die Problematik einer kohärenten Erschliessung auf und folgert in einer Auflistung von Kriterien, um daraus Lösungsszenarien zu entwickeln. Inhaltlich und organisatorisch bestehen folgende Pendenzen, die innerhalb der Abteilung zu lösen wären: Kriterien für die Äufnung des Bestandes, Kohärenz der Erschliessungssprache, regelmässige, korrekte Pflege der Daten und des Thesaurus, Sicherstellung von Zuständigkeiten und Kompetenz“. Das Fallbeispiel Roche PhotoLibrary zeigt, dass nicht nur Archive und Bibliotheken sich mit der Bewahrung, Erschliessung und Vermittlung von grossen Fotobeständen auseinandersetzen, sondern dass diese auch in der Privatwirtschaft, die nicht mit Datenbanken und anderen Programmen arbeiten, welche auf diese Dokumententypen zugeschnitten sind, eine herausfordernde Rolle spielen.

Seraina Winzeler setzt sich mit dem Film ausserhalb des Kinos auseinander. Der Film hält das bewegte Bild und den Moment fest, es lebt in der Vorführung. Archiviert und vermittelt wird das schweizerische Filmschaffen in der Cinémathèque suisse, die in Lausanne, aber auch in Zürich ihren Standort hat. In ihrer Studie geht die Autorin der Frage nach, wie die Vermittlungsarbeit einer Institution aussehen könnte, die gleichzeitig archivische und museale Funktionen erfüllt. Wie ist die Vermittlung in den filmwissenschaftlichen und historischen Diskurs einzuordnen, was heisst Programmkino und welche Bedeutung haben Filmarchive als Orte des Wissens. Um Vermittlung zu skizzieren, beschreibt die Autorin zuerst die Institution und ihre Geschichte. Überlieferungsbildung in seiner historischen Dimension ist das Kerngeschäft des Archivs und auch der Filmsammlung. Das Archiv wird als Akteur begriffen“, der an der Erzeugung des zu überliefernden Objekts beteiligt ist. Es stellt seine Sammlung aktiv zusammen und greift interpretierend ein.“ Aufschlussreich in der Analyse des Zürcher Standorts ist ihre Darstellung der kirchlichen Bildungsarbeit mit Fokus Film, der immer mit einem hohen gesellschaftlichen Anspruch verknüpft war und moralische mit ästhetischen Kriterien verband. Die Archivierung von Filmkunst hingegen wird in internationaler Perspektive nur kurz präsentiert und hängt in ihren Anfängen von der Definition von Filmkultur“ ab. Darum stellt Winzeler einen Paradigmenwechsel zum Film als Kulturgut“ fest, was es erlaubt, archivische bzw. archivwissenschaftliche Aspekte zu verstärken. Zum Versuch, eine nationale Memopolitik in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts zu etablieren, gehörte nun auch der Erhalt audiovisueller Unterlagen und ermöglichte die Gründung des Vereins Memoriav. Mit dem sogenannten visual turn widmete sich auch die Forschung vermehrt den unterschiedlichsten Bildquellen. Filmarchive als Orte filmischen Wissens an der Schnittstelle von Filmkultur und Archivistik (..) partizipieren (..) am Verständnis des Mediums“. Wegen dieser unterschiedlichen Zugänge sollte laut Winzeler auch die zukünftige Vermittlungsarbeit von Filmarchiven nicht auf die Programmation von Filmen beschränkt sein, sondern die archivarischen Tätigkeiten einbeziehen.

Magdalena Czartoryjska Meier widmet sich in ihrer Arbeit einem Medium, das noch flüchtiger ist als der Film, dem Tanz, materialisiert in der Fotografie. Ausgangspunkt der Darstellung bildet der Nachlass des in der heutigen Ukraine geborenen Tänzers Serge Lifar, der am Lausanner Standort der Collection suisse de la danse“ archiviert wird. Das Schweizerische Tanzarchiv kennt wie die Cinémathèque suisse einen Zürcher und einen Lausanner Sitz. Wie kann das Abbild des Tanzes – durch die Aufarbeitung des Archivs – wieder als Spektakel auferstehen? Wie kann ein Nachlass, der zwar mehr als 280 Choreographien umfassen würde, aber nicht annähernd als Ganzes und an einem Ort erhalten ist, erschlossen und vermittelt werden? Methodologisch orientiert sich die Autorin am Vorgehen der Société internationale des bibliothèques et musées des arts du spectacle (SIBMAS) und zeichnet ein breites internationales Panorama, das im Anhang in knapper Form konsultierbar ist. Für die bewahrenden und weniger spezialisierten Institutionen besonders interessant sind ihre Überlegungen zum Theater und den verschiedenen Dimensionen der Rezeption, die in Annäherungen münden, wie Theater, Tanz und Bewegung nachvollziehbar gemacht werden kann. Exemplarisch beschreibt sie zwei Projekte zu Max Reinhardt und zur William Forsythe Company, welche mit neuer Technologie den Tanz in archivierbare und vermittelbare Unterlagen umsetzen und führt die Analyse weiter mit neuen Methoden des ‚artist driven archiving’ oder ‚living archive’. Daraus folgern Ansätze für den Bestand von Serge Lifar, der mittels technischer Unterstützung visualisiert und rekonstruiert wird und als Modell für weitere grosse Projekte in Archiven, Bibliotheken und Museen dienen wird.