Fliessende Ordnungen

Aufstellungssysteme und Klassifikationen in geschichtswissenschaftlichen Freihandbibliotheken in der Schweiz 2016

Daniel Burkhard

Einleitung

Das Verhältnis von Wissenschaft und Ordnung zeichnet sich durch eine konstitutive Ambivalenz aus. Zum einen gehört es zum erklärten Ziel wissenschaftlicher Tätigkeit Ordnung in die Dinge zu bringen, zum anderen agiert die Wissenschaft aber auch als Stachel in den etablierten Ordnungssystemen, reflektiert diese und zwingt sie bisweilen zu einer Neubewertung.

Aus diesem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ordnung resultiert eine Dynamik, welche die Etablierung nachhaltiger Ordnungssysteme erschwert, denn die Wissenschaft zeichnet sich grade dadurch aus, dass sie stets danach trachtet etablierte Gewissheiten zu ergänzen oder zu korrigieren und aus diesem Anspruch resultiert eine ständige Dynamik in den Ordnungsstrukturen der Wissenschaften. Für wissenschaftliche Bibliotheken, die auf möglichst stabile wissenschaftliche Ordnungssysteme angewiesen sind, wenn sie denn eine sinnvolle Ordnung ihrer Bibliothek etablieren und erhalten wollen, ergeben sich vor dem Hintergrund dieser ständigen Dynamiken grosse Herausforderungen in Bezug auf Ihre Ordnungssysteme.

Die Bibliotheksverantwortlichen sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob sie ihre Bestände nach einem traditionell vermittelten, vermeintlich stabilen Kanon der Disziplinen ordnen möchten und somit wenig flexibel auf Paradigmenwechsel in der Forschung reagieren können, oder ob sie lieber ein System anwenden möchten, dass Dynamiken zulässt aber wohl Qualitätseinbussen in der nachhaltigen Ordnungsstruktur mit sich bringen wird.

Im hier vorliegenden Aufsatz soll diese oben kurz umrissene Problematik anhand von geschichtswissenschaftlichen Freihandbibliotheken thematisiert werden. Diese angesprochenen Bibliotheken, die einst als Handapparate der Historischen Institute fungierten und seit einiger Zeit verstärkt in das Korpus der Universitätsbibliotheken integriert werden, zeichnen sich durch eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Zentralisierungs- und Standardisierungsprozessen der universitären Zentralbibliotheken aus. Dieser Umstand ermöglichte den Institutsbibliotheken die Etablierung von eigenen – für ihre Bedürfnisse pragmatischen – Aufstellungssysteme. Die Eingrenzung entlang der geisteswissenschaftlichen Disziplin der Geschichtswissenschaften ergibt sich nicht nur aus dem Umstand, dass sich die Geschichtswissenschaften durch eine besonders hohe Dynamik in den geschichtswissenschaftlichen Ansätzen auszeichnet, sondern auch dadurch das gerade Historiker ungleich stärker als andere Wissenschaftler auf die Institutsbibliothek als Handapparat in ihrer Arbeit angewiesen sind.

Um nun der Frage nach dem Verhältnis von bibliothekarischer Ordnung und geschichtswissenschaftlicher Dynamik nachgehen zu können, wurden sowohl Bibliotheksverantwortliche als auch Nutzer in Hinblick auf das Spannungsfeld befragt und ihre Bedürfnisse und Einschätzungen zusammengetragen. Diesen Resultaten wird ein kurzer Abriss über die historische Entwicklung von bibliothekarischen Ordnungs- und Organisationssystemen in den geschichtswissenschaftlichen Bibliotheken in der Schweiz vorabgestellt.

Organisation der Bibliotheken

Geschichtswissenschaftliche Institutsbibliotheken in der Schweiz weisen starke regionale Unterschiede auf. Einige wurden im Rahmen von Standardisierungsprozessen enger an die jeweilige Zentralbibliothek gebunden, während andere noch immer relativ unabhängig an der Peripherie des Wirkungskreises der Zentralbibliotheken operieren. Die zweistufige Bibliotheksorganisation, bei der eine Anbindung an die Zentralbibliothek vor allem über die Integration in dem gemeinsamen Katalog gewährleistet ist, Administration, Strategieentwicklungen und Beschaffungsprozesse aber weiterhin in der Hand der Institutsbibliotheken liegen, ist zwar nicht die Regel für Institutsbibliotheken, kommt aber dennoch sehr häufig vor.[1] Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die meisten geschichtswissenschaftlichen Bibliotheken in den späten 1970er und 1980er Jahren aus den Handapparaten der jeweiligen Lehrstühle hervorgegangen sind. Diese organische Entwicklung der Bibliotheken war zwar eng mit dem Institut verwoben, zeichnete sich meistens aber nur durch periphere Beziehungen zu den Universitätsbibliotheken aus. Diese Bibliotheken verfügten in der Regel über sehr beschränkte finanzielle und arbeitstechnische Mittel und traten oftmals als One-Person-Libraries in Erscheinung. Oftmals wurden Institutsmitarbeiter mit der Betreuung der Bibliotheken betraut, was hinsichtlich der Aufstellungsordnung zu einer regionalen Lösung führte, die bestmöglich mit den Forschungsschwerpunkten am Institut korrelierte.

Während im deutschsprachigen Raum meist Aufstellungssysteme gewählt wurden, die sich am RVK und somit an einer chronologischen Ordnung orientierten, setzten französischsprachige Institutsbibliotheken bereits zu ihrer Gründung konsequent auf die Universale Dezimalklassifikation (UDK)[2]. Es ist zudem anzumerken, dass insbesondere französischsprachige Institutsbibliotheken bereits bei ihrer Gründung in die Universitätsbibliotheken eingegliedert wurden und somit in der Romandie einstufige Bibliothekssysteme vorherrschen. Es ist zu vermuten, dass diese Entwicklung ihren Ursprung in den unterschiedlichen Klassifikationssystemen findet. Die RVK ist nur für die Verwendung im deutschsprachigen Raum vorgesehen und erlaubt durch ihre Struktur eine relativ eigenwillige Anwendung, während die UDK dank dem Ziffersystem sprachunabhängig funktioniert aber aufgrund ihrer Struktur wenig Raum für lokale Improvisationen offenlässt. Weite Übereinstimmungen gibt es bei beiden Klassifikationssystemen hinsichtlich ihrer Gliederung von geschichtswissenschaftlichen Systempositionen. So orientieren sich sowohl die UDK als auch die RVK an epochalen und geografischen Gliederungen.

Geschichtswissenschaftliche Entwicklungen und ihre Ordnungen

Insbesondere epochale Aufstellungsgliederungen erfreuten sich in den 1970er-Jahren, als die Institutsbibliotheken aus den Handapparaten der Lehrstühle hervorgegangen sind, grosser Beliebtheit. Zum einen war es ein pragmatischer Weg die einzelnen Bestände der Lehrstühle, deren Forschungsschwerpunkte ebenfalls entlang historischer Epochen unterscheiden, in einer gemeinsamen Aufstellung zu integrieren. Zum anderen war die Perspektive entlang von Zäsuren und Epochen sicherlich auch den geschichtswissenschaftlichen Trends jener Zeit geschuldet. Die damals vorherrschenden Perspektiven der Sozial- und Strukturgeschichte orientierten sich stark an makrowissenschaftlichen geschichtlichen Brüchen und Kontinuitäten.[3] Ein Aufstellungssystem, dass einer chronologischen Ordnung folgt, erlaubt diese Interessen am besten zu verfolgen.

Die enge Beziehung von geschichtswissenschaftlicher Perspektive und Aufstellungsordnung in der Bibliothek konnte beispielsweise auch in den Aufstellungssystematiken der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik beobachtet werden. Das historisch-materialistische Geschichtsbild des Marxismus strukturierte in der DDR die Aufstellungsordnungen der geschichtswissenschaftlichen Bibliotheken.[4] Diese beiden Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass Aufstellungssysteme in den Bibliotheken insbesondere darüber Auskunft geben können, welche geschichtswissenschaftliche Perspektive zur Zeit der letzten Überarbeitung der Bibliothek vorgeherrscht hatte. Die sozial- und strukturgeschichtlichen Ansätze der 1970er Jahre prägten also die Ordnung in vielen geschichtswissenschaftlichen Bibliotheken an schweizerischen Universitäten, die über ein zweistufiges Organisationssystem verfügten.

Seit den 1980er Jahren vollzog sich jedoch eine thematische Öffnung der Geschichtswissenschaften hin zu kulturgeschichtlichen Ansätzen, welche die Perspektiven vermehrt auf das Handeln und Denken der Alltagsmenschen legte und somit die traditionellen Perspektiven um zahlreiche weitere Blickwinkel ergänzt hatte. Diese Entwicklung führte «von den grossen Themen und Zusammenhängen zu den kleinen Themen und menschlich-allzumenschlichen Erfahrungswelten; von den eurozentristischen big theories in das multikulturell-pluralistische Nirgendwo»[5].

So finden vermehrt geschichtswissenschaftliche Untersuchungen Eingang in das Korpus der Disziplin, welche mit herkömmlichen Perspektiven brechen und sich entsprechend nicht entlang den traditionellen Kategorien einordnen lassen. Die Geschichtswissenschaften diversifizierten sich entlang von thematischen Schwerpunkten wie Diskurs-, Mentalitäts-, Geschlechter- oder Umweltgeschichte und öffneten ihre Zugänge und Methoden interdisziplinär.[6] Ferner gerieten auch die eurozentristisch geprägten Epochen- und Regionen-Ordnungen in die Kritik einer global ausgerichteten Geschichtswissenschaft.

Allen diesen Entwicklungen ist gemein, dass sie einen Trend zu epochen- und länderübergreifenden Perspektiven angestossen haben. Im Hinblick auf die traditionellen Aufstellungsordnungen, welche aber just diesen Kategorien gefolgt waren, ergibt sich nun die Problematik mit schwer einzuordnenden Literatur umgehen zu müssen.

Werke, welche sich beispielsweise mit umwelt- und klimahistorischen Fragestellungen beschäftigen, sprengen bisweilen die bisher üblichen historischen Epochengliederungen und orientieren sich in ihren Kategorisierungen oftmals an naturwissenschaftlich vermittelten Standards. Selbstverständlich wirken in einem interdisziplinären Forschungsumfeld Aspekte der unterschiedlichen Disziplinen aufeinander und entsprechend können zuvor bereits übliche Dynamiken in einer Disziplin durch diese Tätigkeit noch potenziert werden. Wie sollen nun aber Bibliotheken, die darauf angewiesen sind ein stabiles Ordnungssystem zu etablieren auf diese Wandel reagieren?

Einzelne Bibliotheken versuchen sich auf einem möglichst pragmatischen Weg über die Etablierung von Sammelkategorien wie beispielsweise der Kategorie «Epochenübergreifend» Abhilfe zu schaffen. Dieses Vorgehen führt allerdings meist vor allem zu einer unverhältnismässigen Aufblähung ebenjener Sammelkategorien und vertagt die Lösung des Problems nur. Die Etablierung von einzelnen Beständen, welche sich entlang den Forschungsinteressen der Lehrstühle trennen, würde einen praktikablen Umgang in einer Freihandbibliothek ebenfalls völlig verunmöglichen.

Zukunft der geschichtswissenschaftlichen Institutsbibliotheken

Allerdings muss bedacht werden, dass sich nicht nur die akademischen Disziplinen, sondern auch die Bibliotheken selbst in einem rasanten Wandel wiederfinden. Die Fragen nach Aufstellungssystemen stellen sich durch die Etablierung von digitalen Katalogen bisweilen nur noch in den wenigen Freihandbibliotheken. Universitäre Zentralbibliotheken konnten die Fragen nach Klassifikationssystemen an die dafür verantwortlichen Stellen auslagern.

Ferner lagern auch viele Freihandbibliotheken wenig frequentierte Dokumente heute in zentralen Magazinen und stellen ein Retrieval hauptsächlich über den digitalen Katalog sicher. Ein Trend hin zu einstufigen Bibliothekssystemen, welche ihre Bestände nach den international geltenden Standards organisiert zeichnet sich ab.

Die in der Untersuchung zu Tage getreten Bedürfnissen der Nutzer, die sich vor allem – wenig überraschend – durch ein möglichst rasches Retrieval auszeichnen und die Bedürfnisse der Bibliothekare nach eindeutig zuordnungsbaren Systemstellen unterstützen beide eine künftige Integration der noch bestehenden Institutsbibliotheken in die Zentralbibliothek. Hinsichtlich des Katalogs ist dies auch schon überall geschehen und so können alle Bestände der schweizerischen Institutsbibliotheken über die Katalogsverbunde aufgefunden, bestellt und ausgeliehen werden.

Allerdings wiesen die meisten Nutzer auf den hohen Wert von Freihandbibliotheken in der historischen Forschung hin. Ein Nutzer beschreibt «das Schlendern durch die Regale; die Freude beim unbeabsichtigten Entdecken eines Buches, das man nicht erwartet hätte; die lebensweltliche Qualität des Arbeitens in Bibliotheken; die Gewissheit, dass man in den Regalen vielleicht noch etwas findet, das man in den Katalogen vielleicht nicht entdecken würde; das unmittelbare Arbeiten mit Büchern vor Ort; die Inspiration, die sich im Umgebensein von Büchern zuweilen einstellt»[7] als wichtiger positiver Aspekt von Freihandbibliotheken. Die in dem Zitat beschriebene Serendipität[8], das Auffinden, von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, wird von allen Nutzern als besonders wertvoller Aspekt einer Freihandbibliothek beschrieben. Ferner entsprechen die Nutzerbedürfnisse den üblichen Einschätzungen gegenüber einer grossen Buchaffinität der Historikerzunft. Die Nutzer plädieren geschlossen für den Erhalt von geschichtswissenschaftlichen Bibliotheken als Freihandbibliotheken.

Die Institutsbibliotheken werden sich sicherlich einer stärkeren Zentralisierung in organisatorischer Hinsicht stellen müssen, allerdings erlauben die digitalen Kataloge ja eine Abkopplung von der jeweiligen Aufstellungssystematik, so dass die Frage nach der optimalen Aufstellung der Freihandbibliothek auch mit der möglichen Auslagerung von Fragen der klassifikatorischen Sacherschliessung bestehen bliebt.

Um die Ordnung in Freihandbibliotheken zu gewährleisten, werden sicherlich weiterhin möglichst pragmatische Ordnungsstellen Anwendung finden, welche sich trotz aller Kritik an den herkömmlichen Kategorien der Epochen und Regionen orientieren werden. Nutzer wie Bibliotheksverantwortliche sind sich im Klaren darüber, dass das Ordnungssystem der Institutsbibliothek nie dem Stand der derzeitigen Wissenschaften entsprechen kann und im Hinblick auf einen pragmatischen Umgang mit der Bibliothek als wichtiges Werkzeug des Historikers wird diese Diskrepanz auch von den beteiligten Akteuren in Kauf genommen.

Anmerkungen

[1]    Vgl. Sühl-Strohmenger, Wilfried: Hochschulbibliotheksysteme in Deutschland – vier Jahrzehnte Strukturentwicklung, In: Söllner, Konstanze; Sühl-Strohmenger, Wilfried (Hg.): Handbuch Hochschulbibliothekssysteme, München 2014, S. 13-23.

[2]    Die UDK ist eine auf universelle Anwendbarkeit angepasste Version der US-lastigen Dewey Decimal Classification (DDC). Die Trennung von UDK und DDC ist inzwischen durch ständige Überarbeitungen und Anpassungen an die globalen Ansprüche obsolet geworden, so dass heute die DDC weltweite Anwendung findet.

[3]    Vgl. Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme: Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 173-193.

[4]    Vgl. Umstätter, Walther; Wagner-Döbler, Roland: Einführung in die Katalogkunde. Vom Zettelkatalog zur Suchmaschine, Stuttgart 2005, S. 82. Eine gute Einführung in die marxistische Geschichtswissenschaft bietet zudem: Middell, Matthias: Marxistische Geschichtswissenschaft, In: Eibach, Joachim; Lottes Günther (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 69-82; sowie Raphael 2003, S. 117-135.

[5]    Herbst, Ludolf: Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, S. 16.

[6]    Vgl. Raphael 2003, S. 266-272.

[7]    Zitat aus dem Fragekatalog mit Dr. Juri Auderset von der Universität Freiburg i. Ü., In: Burkhard, Daniel: Fliessende Ordnungen – Aufstellungssysteme und Klassifikationen in geschichtswissenschaftlichen Freihandbibliotheken in der Schweiz 2016, unveröffentlichte Diplomarbeit, MAS ALIS an den Universitäten Bern und Lausanne, 2016, S. 68.

[8]    Vgl. Carr, Patrick L.: Serendipity in the stacks. Libraries, Information Architecture, and the Problems of Accidential Discovery. College and Libraies Research Pre-print. Einsehbar unter: http://crl.acrl.org/content/early/2015/1/1/crl14-655.abstract (28.7.2016).