Schnappschüsse für die Ewigkeit?
Gedanken zum audiovisuellen Kulturgut der Schweiz

Cécile Vilas
Direktorin Memoriav/Präsidentin SIGEGS

Studienabschlüsse und Diplomfeiern gehören zu jenen biografischen Meilensteinen, die heutzutage eine Flut von privater audiovisueller Dokumentation auslösen. Im Leben der betroffenen Menschen handelt es sich zu Recht um einen Höhepunkt, denn ein Bildungsziel wurde erreicht und eine wichtige Lebensetappe schliesst sich. Dieser unvergessliche Moment wird in vielfältiger Art festgehalten, sodass eine ganze Anzahl von Schnappschüssen entsteht. Diese persönlichen Erinnerungsstücke möchte man Jahrzehnte später wieder anschauen oder den Kindern und Enkeln zeigen können. Man will sie somit erhalten können.

Dieser kurze «Kameraschwenk» auf den privaten Umgang mit audiovisuellen Dokumenten erlaubt uns, einige grundsätzliche Fragen rund um das audiovisuelle Kulturgut, aber auch zur Erinnerungskultur, aufzuwerfen:

Sind die eingangs erwähnten Fotos nun «Schnappschüsse für die Ewigkeit»? Ist privates Gedächtnis auch öffentliches Erinnern? Wo verläuft die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Kulturgut? Wurden aus einer kaum überschaubaren Menge die aussagekräftigsten Exemplare, die über das rein private Interesse hinausgehen, ausgewählt?

Im privaten wie im öffentlichen Umgang mit Audiovisuellem stellen sich auch sehr ähnliche technische Fragen: Wird es diese Fotografien in zehn Jahren überhaupt noch geben? Werden die Formate noch lesbar sein? Wurden die Daten korrekt migriert oder hat es eventuell einen Informationsverlust gegeben? Wird das Bild überhaupt noch auffindbar sein und werden wir noch wissen, wer oder was gezeigt wird? Hatte sich jemand rechtzeitig um die Migration der Metadaten bemüht?

Diese einfachen Alltagsfragen beschreiben einige grundsätzliche Problematiken rund um die Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts: Es sind prioritär Fragen zur Bewertung, zur Erhaltung und zum Zugang zu diesen exponentiell wachsenden, aber fragilen Beständen. Dazu gesellen sich Fragen nach Formaten, die eine langfristige Erhaltung ohne Informationsverlust ermöglichen, sowie Fragen der Erschliessung und der Metadaten. Es braucht nachhaltige Lösungen für die Speicherung von analogen Materialien sowie für die digitale Langzeitarchivierung. Wenn wir den privaten Aspekt dieser Fragestellungen ausblenden und auf das audiovisuelle Kulturgut beziehen, wird sich bald auch einmal die Frage der Bewältigung und letztendlich des Preises für die Erhaltung stellen: Können wir es uns leisten, Audiovisuelles in dieser elaborierten Form langzeitig zu erhalten?

Audiovisuelles Kulturgut

Das audiovisuelle Kulturgut per se hat keine einfache Ausgangslage: Da wir letztlich alle – bereits im Zeitalter der analogen Kameras und noch vermehrt mit unseren Smartphones – Produzenten von Audiovisuellem sind, ist dieses zur alltäglichen Massenware geworden.

Im Audiovisuellen auch «Kulturgut» zu sehen, liegt nicht immer auf der Hand. Nebst den anderen «Kulturgut-Typologien» (z.B. bauliches Kulturgut, immaterielles Kulturgut) wird das audiovisuelle Kulturgut deshalb oft unterschätzt oder fast vergessen. Aus diesem Grund braucht das audiovisuelle Kulturgut – speziell wenn es sich nicht um «Autorenfilme» oder «Kunstfotografie», sondern um Zeugnisse der Alltagskultur handelt – eine intensive Sensibilisierung, wenn nicht sogar eine eigentliche Lobby.

Erst wenn wir uns bewusst werden, dass das Audiovisuelle das Kulturgut unserer Zeit ist – und dass dabei die Dokumentation der «Alltagskultur» eine grosse Rolle spielt – werden wir es entsprechend wertschätzen.

Natürlich sind private Fotografien nicht per se gleich Kulturgut. Doch gerade in einer Zeit, in der das Kleinräumige, Lokale als Gegensatz zum Globalen immer wichtiger wird, sich die Ortsbilder markant wandeln und schliesslich auch in einer Zeit, in der auch die Kulturpolitik die kulturelle Teilhabe einfordert, muss sich die Bewertung von «audiovisuellem Kulturgut» entsprechend anpassen.

Doch der heutigen Überproduktion an Audiovisuellem steht gleichzeitig die Gefahr des Verlustes gegenüber: Vint Cerf, einer der Erfinder des TCP/IP-Protokolls und Vizepräsident von Google, bezeichnet unsere Zeit auch als «Digital dark age» und befürchtet eine grosse Leerstelle im digitalen Gedächtnis1.

Erinnern und vergessen

Es klingt banal: Der Gegensatz des Erinnerns ist das Vergessen. Das Vergessen war bereits in früheren Jahrhunderten ein Thema, wie eine eindrückliche Illustration aus dem frühen 17. Jahrhundert aus dem Buch Emblemas (1610) zeigt. Dieses stammt von Sebastián de Covarrubias y Orozco, einem spanischen Kleriker, Emblematiker und Lexikographen, der auch Hofkaplan des spanischen Königs Philipp II. war.

Der Zweck dieses Buches war die Stärkung des Erinnerungsvermögens mittels einer auf Emblemen basierenden Mnemotechnik, also einer Erinnerungstechnik.

Abb. 1: “Memoria”, in: Sebastian de Covarrubias Orozco. Emblemas morales, Madrid. 1610. University of Illinois Urbana Champaign, https://archive.org/details/emblemasmoralesd00covar/page/222, abgefragt 24.8.2019

In barocker Drastik und Deutlichkeit weist der Illustrator darauf hin, dass das «Vergessen» die Normalität sei. Bei der «memoria» gilt: «Perit pars maxima». Die aus einer «Buchwolke» tropfenden Memoranda versickern grösstenteils. Nur ein Bruchteil wird vom Gefäss, welches die Erinnerung symbolisiert, aufgefangen.2

Die Kulturwissenschaftlerin und Anglistin Aleida Assmann bestätigt in ihrem Buch Formen des Vergessens (2016) den barocken Befund auch für unsere Zeit:

«Nicht Erinnern, sondern Vergessen ist der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge».3

Assmann spitzt die Aussage noch zu: «Auch für die Rückstände eines Lebens, die in Kellern oder auf Dachböden noch einige Zeit überdauern, schlägt früher oder später die Stunde des Containers».4

Gerade für Audiovisuelles schlägt häufig die «Stunde des Containers»: Die vorhandenen Träger können nicht mehr abgespielt werden oder es fehlen Metadaten zu den Objekten, sodass diese kaum aussagekräftig sind – und im Zweifel entsorgt werden.

Ohne unser aktives Handeln, ohne unser Sensibilisieren, ohne den schützenden Begriff «Kulturgut», ohne unsere Rettungsaktionen, trifft dies oft zu.

Mit anderen Worten, es braucht das Konzept «Kulturgut», das diesem Vergessen entgegengesetzt wird.

Kulturgut/Patrimoine

Wie ist eigentlich das Kulturkonzept «Kulturgut oder Kulturerbe» entstanden? Europa und die Schweiz begingen im Jahr 2018 das Jahr des Kulturerbes #kulturerbe2018 mit sehr vielen Veranstaltungen. Das ist ein guter Grund zurückzuschauen und zu fragen: Was heisst eigentlich «Kulturerbe» oder «patrimoine»?

Wikipedia beruft sich auf den Duden und definiert: «etwas, was als kultureller Wert Bestand hat und bewahrt wird» und präzisiert: «Ein Kulturgut muss nicht an Materie gebunden sein, jedoch ist eine Beständigkeit erforderlich.»5

Das Schweizerische Bundesamt für Kultur bezieht seine Definition von «Kulturgut»6 im Kontext des Kulturgütertransfergesetzes (KGTG) auf die UNESCO-Konvention:

Um als Kulturgut im Sinne des Gesetzes (Art. 2 Abs. 1 KGTG) zu gelten, muss ein Objekt:

Der genannte Artikel 1 der Unesco-Konvention zählt das materielle Kulturgut auf und nennt auch das audiovisuelle Kulturgut.

Das «Historische Lexikon der Schweiz» kennt den Begriff «Kulturgut» nicht, bei der Eingabe von «Patrimoine» wird bezeichnenderweise auf den Artikel «Heimatschutz» verwiesen, im Sinne von Bewahrung der Landschaft und Siedlungsweise, lokaler Sitten und Traditionen.

Wie so vieles, was unsere moderne Gesellschaft politisch und kulturell prägt, ist auch der Begriff des Kulturerbes oder des «patrimoine» im 18. Jahrhundert entstanden.

Die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert, dieses Hauptwerk der französischen Aufklärung, das ab 1751 trotz vieler Hindernisse zu erscheinen begann, definiert den Begriff des «patrimoine» wie folgt:

«PATRIMOINE, s. m. (Jurisprud.) se prend quelquefois pour toute sorte de biens ; mais dans sa signification propre il se dit d’un bien de famille : quelquefois même on n’entend par-là que ce qui est venu à quelqu’un par succession ou donation en ligne directe».8

Der Begriff wird somit 1751 von Diderot/d’Alembert noch weitgehend in seiner traditionellen, philologischen Form definiert, d.h. als materielles Familienerbe. Ansatzweise manifestiert sich aber bereits ein genereller Ansatz: «se prend quelquefois pour toute sorte de biens.» 

Das lateinische Wort «patrimonium» bezieht ich auf das väterliche Gut, schliesst aber generell auch die Angelegenheiten des «pater familias» ein. Das Wort Vater «pater» und der indogermanische Stamm «men/mon» mit der Bedeutung «Erinnerung/Ermahnung» zeigen schön auf, dass das Wort nicht nur in pekuniärem Sinn Verwendung fand, sondern auch den Begriff der Erinnerung an das «Väterliche», mitträgt.

Interessanterweise wird es die Französische Revolution sein, welche den Begriff des «Patrimoine» im Sinne von «Kulturgut» erschafft. In einer Zeit der massiven Zerstörung, des Schleifens von Schlössern, im eigentlichen und im übertragenen Sinn, entsteht das Bewusstsein, dass es eine nationale Erinnerungskultur geben muss, ja wahrscheinlich auch braucht.

Besonders hervorgetan hatte sich Henri Grégoire, genannt l'abbé Grégoire (1750-1831). Er war ein Priester und späterer Bischof, der 1789 Mitglied der Etats-Généraux wurde und sich für die Abschaffung der Privilegien von Adel und Klerus einsetzte.

Als Mitglied der «Convention nationale» wird er sich am 31. August 1794 mit einem «Rapport sur les destructions opérées par le vandalisme et les moyens de le réprimer» gegen den «Vandalismus» der Revolutionäre zur Wehr setzen und Massnahmen verlangen, welche «le mobilier appartenant à la Nation» schützen. Ab dem 10. August 1792, dem Sturm auf die Tuilerien, werden viele Symbole der Monarchie, des Adels und des Klerus zerstört. Betroffen sind Monumente und speziell auch Bibliotheken, aber auch die vom Adel konfiszierten Kulturgüter, welche in den Handel kommen.

Sein Rapport endet mit folgendem Ausruf: «Les barbares et les esclaves détestent les sciences, et détruisent les monuments des arts ; les hommes libres les aiment et les conservent»9.

Mit seiner Forderung antizipiert der Abbé Grégoire damit den Begriff des «Monument historique» und dessen Schutz, ein Begriff, der ab 1840 gebräuchlich sein wird.

Mit der Festigung der Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auf der Grundlage der Romantik, welche das Ursprüngliche und Eigentümliche der nationalen Tradition sucht, verfestigt sich auch der Patrimoniums-Begriff. Im deutschen Sprachraum ist es der «Heimatschutz», bezogen auf Architektur und Natur, welcher das Konzept begründet. In der Folge entstehen, auch in der Schweiz, das Nationalmuseum, die Nationalbibliothek und das Bundesarchiv.

Im Jahr 1921, nach den Schrecken des 1. Weltkrieges und zu Zeiten des Völkerbundes, thematisierte die «Commission internationale de coopération intellectuelle», den Patrimoniumsbegriff im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit.

Nach dem 2. Weltkrieg ist es seit 1946 die neu gegründete Unesco, welche die internationale Funktion der Ausgestaltung von Grundlagen zum Kulturgütererhalt übernommen hat. 1954 entsteht die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, 1970 die Konvention gegen illegalen Handel mit Kulturgut, 2001 die Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser. Seit 1972 gibt es die Unesco-Welterbekonvention, zu welcher Weltkultur-und Weltnaturerbe gehören. Die Schweiz hat dieses wichtige Instrument 1975 ratifiziert.

1992 entsteht das Programm «Memory of the World», welches auf materiellen Zeugnissen beruht. Gemeint sind damit alte Handschriften, Bibliotheken, Urkunden, aber auch audiovisuelles Kulturgut, wie beispielsweise Filme. Es handelt sich dabei auch um eine «Liste» mit Bewerbungsverfahren, doch sind damit auch Empfehlungen verbunden. Speziell erwähnt werden muss Ray Edmondsons «Audiovisual Archiving: philosophy and principles»10, das in diesem Kontext 1998 erstmals erschien.

Um diesen Überblick abzurunden sei noch ein wichtiges weiteres Kulturgut ergänzt:

2003 wurde die Konvention zur Erhaltung des «immateriellen Kulturguts» verabschiedet. Damit ist die Unesco den berechtigten Wünschen nicht-europäischer Kulturen entgegengekommen, in denen das Patrimoine nicht nur auf materiellen Objekten beruht. Diese Konvention wurde 2008 von der Schweiz ratifiziert. Sie ist die Grundlage der Liste der Lebendigen Traditionen, welche Brauchtum aus allen Kantonen auflistet und für deren Vermittlung es übrigens oft das Audiovisuelle braucht.

Es geht beim «Kulturgut oder Patrimoine somit um eine Erinnerungskultur, oder, um Markus Tauschek zu zitieren: Es ist «ein weitgreifendes Konzept, das inzwischen viele Bereiche unseres Alltagslebens tangiert. Kulturerbe stützt sich auf und generiert gleichzeitig Wertigkeiten. Das Konzept des kulturellen Erbes bewertet und hierarchisiert materielle Kulturgüter ebenso wie immaterielle Kultur und bedient sich dabei wissenschaftlicher Expertise.»11

Etwas ist nicht per se Kulturerbe, es wird zu Kulturerbe! Die Beschäftigung mit Kulturerbe umfasst sowohl normative, oft staatliche Herangehensweisen wie auch kulturwissenschaftliche Analysen zum Prozess der «Patrimonisierung», weshalb die französische Soziologin Nathalie Heinich12 von einer «fabrique du patrimoine» spricht.

Anfügen könnte man natürlich auch noch eine gesellschaftsphilosophische Optik, bei der man sich fragen kann, wie es um Gesellschaften steht, welche die «Patrimonisierung», nebst offenkundigen damit verbundenen touristischen und wirtschaftlichen Interessen, soweit fördern muss.

Kein einfaches Kulturerbe

Kommen wir wieder zurück zum audiovisuellen Kulturerbe: Dieses ist ein komplexes Kulturgut, das im oben erwähnten Patrimonisierungskontext immer noch um seinen Status und seine Visibilität kämpfen muss! Dafür mag es unterschiedliche Gründe geben:

Ein Grund ist sicher seine Komplexität und Vielfalt: Das audiovisuelle Kulturerbe umfasst Fotografie, Ton, Film und Video in unterschiedlicher Materialität, d.h. in analoger Form (z.B. Filmrollen, Videotapes oder Fotonegative), aber natürlich auch seit der Jahrtausendwende als digitalisierte Dokumente (digitalisierte analoge und «digital born» Dokumente).

Doch nicht nur das eigentliche audiovisuelle Dokument - z.B. der Film oder das Foto machen dieses Kulturgut aus, sondern auch Abspielgeräte und Kontextmaterialien, wie Skripte, Filmplakate, Publikationen sowie auch das «Know-How» der Gerätebedienung, welches oft ein immaterielles Wissen – ein Erfahrungswissen – ist.

Des Weiteren ist es aber auch ein fragiles Kulturerbe: Das Material ist oft gefährdet, Filme werden entzündbar, Foto- und Filmnegative können vom Essigsyndrom betroffen sein, Glasplatten sind höchst zerbrechlich und Videotapes oder Tonbandkassetten können nicht mehr konsultiert werden, weil die Abspielgeräte längst nicht mehr vorhanden sind und die Bildqualität abnimmt. Es ist somit oft auch ein materiell schwer zugängliches Kulturgut. Der breite Zugang wird zusätzlich noch von urheberrechtlichen Fragen erschwert.

Die Fragilität des audiovisuellen Kulturguts hat aber auch mit seiner grossen Verbreitung zu tun. Es ist nicht nur in grossen Gedächtnisinstitutionen vorhanden, sondern oft in Besitz von Privaten oder auch kleineren Institutionen, die per se die Erinnerung nicht zum Auftrag haben, wie beispielsweise Theater. Es fehlen verständlicherweise oft das Wissen und die Mittel, um mit dem Kulturgut fachlich korrekt umzugehen.

Doch auch nicht alle grossen Gedächtnisinstitutionen geben dem Audiovisuellen in ihren Sammlungsstrategien die nötige Gewichtung und Verankerung. Gerade in Mischsammlungen stehen Filme und Glasplatten mit mittelalterlichen Manuskripten und historischen Buchbeständen in «Konkurrenz» und haben bzgl. Konservierungsmassnahmen, Erschliessung und letztendlich Finanzen nicht erste Priorität, obschon ihre Fragilität das dringend verlangen würde. Gerade beim Audiovisuellen wirkt sich das weitgehend fehlende «Dépôt légal» erschwerend aus.

Die neuen Archivgesetze, die seit den 80-er und 90-er Jahren in der Schweiz entstanden sind, haben die Sammlungsstrategien zwar geöffnet und Archive sammeln nicht mehr nur ausschliesslich Akten staatlichen Handelns. Doch bleibt die Situation rund um die audiovisuelle Sammlungszuständigkeit komplex.

Es ist schliesslich auch die breite inhaltliche Aufstellung, welche das audiovisuelle Kulturgut gefährdet: Während die Situation im Bereich des professionellen Films und der Kunstfotografie auch durch entsprechende Institutionen wie Kinematheken oder Fotomuseen relativ klar und gesichert ist, wird es für Dokumente der Alltagskultur bereits prekärer, unabhängig ob es sich um Video, Foto oder Film handelt. Audiovisuelle Dokumente des Alltags sind ein wichtiger Bestandteil der Erinnerungskultur, ermöglichen sie es doch, wesentliche zusätzliche, anderweitig nicht greifbare Informationen zu liefern. Angesichts der hohen Anzahl an Dokumenten ist die Bewertung eine zentrale Voraussetzung. Die Dokumente der Alltagskultur sind zudem oft in kleineren Institutionen oder in privater Hand.

Die nachhaltige Erhaltung des audiovisuellen Kulturerbes wird mittelfristig nur über eine faktenbasierte Erhaltungspolitik oder Memopolitik möglich sein. Dies betrifft die Zuständigkeiten, aber auch die Finanzierung der Erhaltungsprojekte.

Memoriav – Kompetenzstelle und Netzwerk für das audiovisuelle Kulturgut der Schweiz

Angesichts der dargestellten Komplexität der Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts, ist es naheliegend, dass die Schweiz eine Anlaufstelle brauchte – und immer noch braucht –, nachdem sich Ende der achtziger Jahre die grosse Gefährdung des audiovisuellen Kulturguts dramatisch abzeichnete.

Es bedurfte dringend einer Stelle, welche die Erhaltung und Vermittlung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz am besten ermöglichen, unterstützen und koordinieren könnte. Da schnell klar wurde, dass eine weitere nationale Institution, z.B. in Form eines nationalen Zentrums für audiovisuelle Information, in der föderalistischen Schweiz politisch nicht durchsetzbar und vor allem nicht finanzierbar war, entstand der durch seine damaligen Gründungsmitglieder (SRG SSR, Bundesamt für Kommunikation, Schweizerische Nationalbibliothek, Schweizerisches Bundesarchiv, Fonoteca nazionale) institutionell breit abgestützte Verein Memoriav. In der Zwischenzeit wird der Verein weitgehend vom Bundesamt für Kultur (BAK) und den über 200 Vereinsmitgliedern finanziert.

Als Kompetenzstelle und Netzwerk für das audiovisuelle Kulturgut der Schweiz hat Memoriav in den bald 25 Jahren seines Bestehens hunderte von Erhaltungsprojekten technisch und organisatorisch begleitet und mitfinanziert. Nebst Projekten aus Gedächtnisinstitutionen gehörten bis 2018 auch Projekte der SRG SSR zum Portfolio. Die audiovisuellen Produktionen aus Radio- und Fernsehen, sei es als Sendungen des öffentlich-rechtlichen, oder der privaten Anbieter, stellen einen wichtigen Teil des audiovisuellen Gedächtnisses der Schweiz dar. Das revidierte RTVG – das Radio- und Fernsehgesetz – hat die Zuständigkeiten neu geordnet und beauftragt die SRG SSR zur Archivierung ihres eigenen Materials.

Die Situation bei der Archivierung der Programme von privaten Radio-und Fernsehanbietern ist schwieriger. Die teuren und aufwändigen Erhaltungs- und Erschliessungsprojekte müssen von den produktionsorientierten Anstalten, die per se keine Gedächtnisinstitutionen sind, erhalten werden. Das BAKOM unterstützt diese Projekte finanziell, wobei Memoriav sie fachlich begleitet. Memoriav finanziert auch die Filmrestaurierungen der Cinémathèque Suisse. Wie bereits erwähnt stehen aber vor allem die Erhaltungsprojekte der unterschiedlichsten Gedächtnisinstitutionen der Schweiz in allen Kantonen im Zentrum.

Memoriav veranstaltet Weiterbildungen und Kolloquien und ist auch an verschiedenen Ausbildungsmodulen beteiligt. Der Verein arbeitet an der kontinuierlichen Sensibilisierung für die Fragen des audiovisuellen Kulturerbes, generiert Wissen in der Geschäftsstelle und tauscht sich mit seinen Kompetenznetzwerken aus. Er beteiligt sich an der Erarbeitung von international beachteten Standards zur Erhaltung, ist der Botschafter des Audiovisuellen und macht auch Lehre und Forschung immer wieder auf audiovisuelle Quellen aufmerksam.

Ein wichtiges Angebot von Memoriav ist das Zugangsportal «Memobase», in welchem die Memoriav-Projekte mit Metadaten verzeichnet sind. Darauf zu entdecken ist auch die «Schweizer Filmwochenschau», eines der wichtigsten audiovisuellen politischen Informationsmittel, das von 1940 bis 1975 produziert wurde. Im Rahmen eines Zugangsprojekts von Memoriav, Schweizer Bundesarchiv und Cinémathèque suisse wurden die 50er-Jahre und 60er-Jahre aufgeschaltet. Bis 2020 wird der gesamte Bestand von 1940 bis 1975 zugänglich sein.

Aktuelle Herausforderungen

Seit der Jahrtausendwende prägt die Digitalisierung auch das audiovisuelle Kulturgut, welches in mehrfacher Hinsicht davon betroffen ist. Neue Bereiche, die zu zukünftigem Kulturgut werden müssen, zeichnen sich ab, wie beispielsweise das «digital heritage», wie es in der bildenden Kunst, in den performativen Künsten oder bei Games entsteht, muss konserviert und erschlossen werden.

Die grossen Gedächtnisinstitutionen verfügen über digitale Repositorien oder bauen sie auf. Doch gerade das audiovisuelle Kulturgut, ob analog oder «digital born», ist nicht nur in Händen der grossen Institutionen, sondern in vielen kleineren Institutionen, welche noch keine Lösungen für die digitale Langzeitarchivierung gefunden haben. Die Frage nach nachhaltigem digitalem Speicherplatz wird oft an Memoriav herangetragen. Diese Herausforderungen benötigen kooperative Lösungen.

In der Schweiz und in den meisten Kantonen fehlt eine klar definierte audiovisuelle Erhaltungspolitik. Die Situation und Wahrnehmung des Audiovisuellen sind sehr unterschiedlich. Das Dépôt légal ist kaum verbreitet, viele Kantone verfügen über keine Mittel, gesetzliche Grundlagen oder Verordnungen um das Audiovisuelle zu erhalten.

Memoriav will sich für eine koordinierte Erhaltungspolitik, an der sich Bund, Kantone und Gemeinden gemeinsam beteiligen, engagieren. Eine gut koordinierte Erhaltungspolitik würde Transparenz schaffen und wäre ein wichtiges Planungsinstrument. Ein erster Schritt in Richtung einer Erhaltungspolitik ist die Lancierung eines Übersichtsinventars, welches das Vorhandensein von audiovisuellem Kulturgut in den Kantonen und dessen Konservierungsstand detailliert aufzeigt.

Eine der grössten Herausforderungen der nächsten Jahre wird die Bewertung sein. Was wollen und können wir erhalten? Um dies zu beantworten braucht es die Übersicht der erwähnten Inventare. Nur dann kann eine verantwortungsvolle, nachhaltige Erhaltungspolitik formuliert werden. Diese Postulate sind sehr wichtig und spiegeln sich auch in der neuen Kulturbotschaft des Bundes, welche für die Jahre 2021-24 gelten wird und die zurzeit in der Vernehmlassung ist.

Sind die Fotos von heute «Schnappschüsse für die Ewigkeit?» Die eingangs gestellte Frage lässt sich nicht mit einem klaren ja oder nein beantworten. Die Fotos gehören zum persönlichen Patrimonium und zur familiären Erinnerungskultur. Die Fotos werden selektioniert und idealerweise gut aufbewahrt und mit Metadaten versehen, beispielsweise so: «Diplomfeier MAS ALIS am 22. November 2018 im Kuppelsaal des 1903 eröffneten Hauptgebäudes der Universität Bern. Der Kuppelsaal entstand 1991 beim Umbau des Fechtbodens».

Zu einem späteren Zeitpunkt müssen die 2018 entstandenen Fotos in einen Kontext gestellt werden, der durchaus Gründe liefern kann, um die Fotos «für die Ewigkeit» zu konservieren: Beispielsweise übernehmen die dargestellten Personen später eine prominente Rolle von öffentlichem Interesse oder auf dem Bild ist ein Gebäude zu sehen, das Jahre später anders aussieht oder genutzt wird, etc.

Sollte der Kuppelsaal der Berner Universität wieder einmal umgebaut werden oder im Sinne einer originalgetreuen und puristischen Rekonstitution zum ursprünglichen Fechtboden wieder umgestaltet werden, erhalten gerade diese Bilder vielleicht einen besonderen dokumentarischen und kulturgeschichtlichen Wert. Nur dank diesem Bild – und den korrekten Metadaten – wird man dann vielleicht noch wissen, dass der Fechtsaal einmal ein Kuppelsaal war.

Kultur und kulturelles Interesse sind etwas Lebendiges, sich Wandelndes: Das gilt für die Bewertung und somit auch für das Kulturerbe. Nachdem in den letzten Jahren das Immaterielle Kulturgut und das Digitale ins Zentrum gerückt und die Problemstellungen bei Weitem noch nicht gelöst sind, gibt es parallel dazu auch wieder ein neu gewecktes Interesse am Materiellen, das sich im Material Turn manifestiert: Es geht dabei um Fragen der Materialität in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Dies gilt auch für das audiovisuelle Kulturerbe. Das Forschungsinteresse für den materiellen Kontext sowie Fragen, was Dinge über eine Gesellschaft, eine Sammlung und ihre Geschichte verraten oder welche Bedeutungen diese transferieren, erfahren ein neues Interesse. Objekte, die man früher ausgeschieden hätte, haben beispielsweise bei kunsthistorischen Fragestellungen wieder neue Relevanz gewonnen.

Das Audiovisuelle ist das wohl grösste Kulturgut unserer Zeit und somit unsere Hinterlassenschaft. Ob seiner Vielfalt und Gefährdung braucht es ein dichtes Netz von Botschafterinnen und Botschafter, die sich in ihren jeweiligen Institutionen dafür einsetzen, dass das Audiovisuelle differenziert als Kulturgut wahrgenommen und konserviert wird sowie die nötige Wertschätzung erfährt.


  1. https://en.wikipedia.org/wiki/Vint_Cerf, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  2. Zitiert nach Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. Göttingen. 2016, S. 13 ff.↩︎

  3. Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. Wallstein. 2016. S. 30.↩︎

  4. Ebd., S. 31.↩︎

  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturgut, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  6. https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/kulturerbe/kulturguetertransfer/was-versteht-das-kulturguetertransfergesetz--kgtg--unter-einem-k.html, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  7. https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20012311/201804250000/0.444.1.pdf, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  8. Encylopédie Diderot/d’Alembert, tome 12, Edition numérique collaborative et critique de l’Encyclopédie, http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/article/v12-266-0/, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  9. Grégoire, Henri: Rapport sur les destructions opérées par le vandalisme, et sur les moyens de le réprimer. [Paris]. 1794. The Newberry Library, https://archive.org/details/rapportsurlesdes00greg/page/26, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  10. Eine überarbeitete 3. Version erschien 2016: Edmondson, Ray: Audiovisual archiving. Paris. 2016. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000243973, abgefragt 24.8.2019.↩︎

  11. Tauschek, Markus: Kulturerbe, eine Einführung. Berlin. 2013. S. 29.↩︎

  12. Heinich, Nathalie: La fabrique du patrimoine. De la cathédrale à la petite cuillère. Paris. 2009.↩︎