Gaby Pfyffer
Die bis anhin im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) übernommenen Personennachlässe bestehen zum allergrössten Teil aus Papierakten und analogen audiovisuellen Datenträgern, allenfalls mit einigen digitalen Dossiers gespickt, die aufgrund der geringen Datenmenge oft ausgedruckt werden können und dann ebenfalls als Papierakten Eingang in den Nachlass finden. Digitale Ablieferungen in grösserem Datenumfang gab es von Privatpersonen nur wenige. So ist der bisherige Workflow im AfZ zur Überlieferungsbildung und Akzession vor allem darauf ausgelegt, zuerst einmal den Kontakt zum potentiellen Nachlasser / zur potentiellen Nachlasserin herzustellen, die Unterlagen vor Ort zu sichten, zu entscheiden, ob und wenn ja welcher Teil davon archiviert werden soll und mit dem Nachlasser / der Nachlasserin eine vertragliche Einigung zu erreichen, um die Übernahme auch rechtlich sicher zu stellen. Oftmals – gerade wenn es sich um kleinere Mengen an Akten handelt - wird der Bestand vollständig übernommen und die Bewertung erfolgt erst im Rahmen der Erschliessung. Welche Teile eines Nachlasses dabei für das Archiv besonders interessant sind, leitet sich vom Sammlungsprofil des AfZ ab, das sich aus den drei Themenschwerpunkten Politik, Wirtschaft und Geschichte der Juden in der Schweiz zusammensetzt. Für alle drei Themenschwerpunkte gilt, dass die Unterlagen einen klaren Bezug zur Schweiz haben und zeitgeschichtlichen Ursprungs sein sollen (ab ca. Mitte 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart).1
Diesem Artikel liegt die These zu Grunde, dass digitale Nachlässe oder Nachlässe mit grösseren Anteilen an digitalem Material nicht nur spezifische technische Lösungen wie beispielsweise Dateienkonvertierungsprogramme erfordern, die nach der Übernahme der Daten zur Anwendung kommen. Vielmehr braucht es neue Strategien und Workflows, die alle archivischen Tätigkeitsbereiche umfassen, begonnen bei der Überlieferungsbildung und Akzession bis hin zur Verzeichnung und der daran anschliessenden permanenten Pflege und Aktualisierung der Daten und Metadaten, wie dies für Unterlagen aus dem Verwaltungsbereich in den meisten öffentlichen Archiven schon längst selbstverständlich ist.
Näher betrachtet werden soll dabei die Phase der Überlieferungsbildung und Akzession, der aus Sicht der Autorin eine besonders zentrale Rolle zukommt. Zu diesem Zeitpunkt wird der Kontakt zum Bestandsbildner / zur Bestandsbildnerin aufgenommen, werden die Unterlagen gesichtet (und bewertet) und kann von Seiten des Archivs bereits Einfluss darauf genommen werden, wie die Daten organisiert und später übernommen werden können (Ablagestruktur, Struktur der einzelnen Dateien etc.). Die Bewertung und Strukturierung der Materialien sollte somit – zumindest in einer ersten vorläufigen Form – bereits in dieser frühen vorarchivischen Phase erfolgen. Dies bedingt, dass die zuständigen Archivmitarbeitenden Strategien und Instrumente zur Hand haben, die sie bei der Analyse und Bewertung des Bestandes unterstützen. Daneben braucht es aber auch Strategien und Instrumente, um die Bestandsbildner2 verständlich und in möglichst einfacher Form anzuleiten, ihre Unterlagen ‚archivtauglich‘ zu organisieren und abzulegen und ihnen bei Bedarf auch technische Unterstützung zur Seite zu stellen.
Das Ziel dieses Artikels ist es, über solche Strategien und Instrumente für die Phase der Überlieferungsbildung und Akzession nachzudenken und daraus Empfehlungen für das AfZ zu entwickeln.
Die Frage, was es von Seiten der Archive braucht, um digitale Nachlässe zuverlässig und als authentische Datensammlungen sichern zu können, kann sicherlich nicht umfassend und schon gar nicht abschliessend bearbeitet werden. Es können aber wichtige Schritte, die auf dieses Ziel hinführen, aufgezeigt und beleuchtet werden.
Ein digitaler Nachlass wird von Dirk Weisbrod, in Anlehnung an die Definition der RNA,3 als «[…] die Summe aller digitalen Objekte verstanden, die sich zu Lebzeiten einer Person bei ihr zusammengefunden haben. […].»4 Gabriela Redwine beantwortet die Frage «What are personal digital archives?» kurz und bündig wie folgt: «Personal digital archives is a formal term for the ‚digital stuff‘ we create and save every day.»5 Bestehen können digitale Nachlässe oder persönliche digitale Archive aus den unterschiedlichsten digitalen Objekten: Emails, Textdateien, Webseiten, Blogs, Kunstobjekte wie Zeichnungen, Fotos, Tondokumente, Videos, Text Messages, Instant Messages, Adressbücher, Kalender, Daten aus Social Media-Kanälen, (Powerpoint-)Präsentationen, Datenbanken und vielem mehr. Charakteristisch für digitale Nachlässe oder persönliche digitale Archive ist unter anderem die oftmals grosse Menge an Daten, die sie beinhalten, die unterschiedlichsten Orte, an denen sich die Daten befinden (z.B. verschiedene Festplatten, Cloud, CD-Rom, mobile Geräte, Speicherkarte der digitalen Kamera, auf diversen Servern etc.) und die Varietät an Datenformaten, die die einzelnen digitalen Objekte aufweisen.6
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die Frage, wie mit digitalen Nachlässen oder Personenarchiven in Archivinstitutionen umgegangen wird, in der Archivwelt (noch) nicht breit diskutiert wird. Für den deutschen Sprachraum liegen vor allem Arbeiten vor, die sich mit Literatennachlässen befassen, wo sich die Herausforderungen und Fragestellungen in der Arbeit mit digitalen Nachlässen besonders plastisch zeigen.7 Vielsprechend und instruktiv für die Fragestellung erweisen sich die vor allem aus dem englischen Sprachraum stammenden Ansätze des Personal Digital Archiving (PDA), die vorab von Bibliotheken entwickelt wurden, jedoch für die Arbeit in Archiven – insbesondere für das Coaching der Bestandsbildner – sehr gut genutzt werden können.8 Kurz erläutert wird nachfolgend das Projekt der Library of Congress, Washington.
Die Library of Congress befasst sich schon mehrere Jahre mit dem Thema Personal Archiving und hat ihm eine eigene Website gewidmet.9 Nebst allgemein einführenden Informationen gibt es zur Sicherung der am weitesten verbreiteten digitalen Medien wie Fotos, Audio, Video, Email, persönliche (Schrift)Dokumente und Webseiten spezifische Anleitungen. Unter den auf der Webseite hochgeladenen Unterlagen befinden sich nebst Schriftdokumenten auch Schulungsfilme, eine Broschüre, ein Poster, eine Powerpoint-Präsentation sowie ein Quiz. Die Empfehlungen sind einfach und in knapper Form verfasst und beinhalten fünf Schritte:
Einen Überblick gewinnen, wo man überall persönliche Daten gespeichert hat und die verschiedenen Datenträger an einem Ort versammeln.
Bewerten. Auswählen, welche Dokumente man langfristig behalten möchte.
Die ausgewählten Daten, falls sie sich nicht bereits auf dem PC befinden, dorthin transferieren und alle in einem entsprechend benannten Ordner (z.B. ‚Mein Archiv‘) und ev. Unterordnern systematisch organisieren.
Zwei Kopien des Archivordners anlegen – davon mindestens eine an einem physisch anderen Ort.
Die Daten fortlaufend pflegen. Einmal jährlich die Dateien prüfen, ob sie noch geöffnet und gelesen werden können. Alle paar Jahre das Archiv auf einen neuen PC oder ein neues Speichersystem migrieren.10
Die Empfehlungen richten sich an alle am Thema Interessierten und sind auch für durchschnittlich IT-bewanderte und ausgerüstete Personen durchführbar. Ergänzend dazu finden sich auf der Webseite weitere Informationen zu digitalen Formaten und ihrer Eignung als Archivierungsformat, Guidelines usw. Befolgt eine Privatperson die fünf beschriebenen Schritte und formiert damit ihr persönliches Archiv, so kann eine an den Unterlagen interessierte Institution diese vorbewertet, zumindest rudimentär geordnet und erschlossen und in konservatorisch gutem Zustand übernehmen.
Über diese fünf Schritte hinaus gehen die verschiedenen Ansätze des Paradigm-Projekts11 – ein Projekt der Bodleian Libraries, University of Oxford und der John Rylands Library, University of Manchester – sowie diejenigen von Dirk Weisbrod12 und Anke Hertling13. Bei diesen Konzepten wird das Thema Personal Digital Archiving aus der Perspektive einer Archivinstitution beleuchtet, die persönliche digitale Archive übernehmen möchte. Die Rolle des Archivars und seine Interaktion mit dem Bestandsbildner wird von Anfang an mitgedacht und eine frühe Kontaktaufnahme und fortlaufende Beziehung zwischen Archivinstitution und Bestandsbildner vorausgesetzt. Zentrale Punkte der Ansätze sind der Aufbau einer Recordsmanagement-Beziehung sowie die Zurverfügungstellung eines Repository-Services, bei dem persönliche Unterlagen hochgeladen und mit Metadaten versehen werden können.
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf meine Anfang Mai 2018 durchgeführte Umfrage in einigen ausgewählten Archivinstitutionen. Die Umfrage sollte dem Zweck dienen, einen Einblick zu gewähren, ob und in welcher Weise sich Archive mit der Frage der Übernahme von digitalen Nachlässen befassen. Die Umfrage wurde nicht mit dem Ziel durchgeführt, repräsentative Ergebnisse für eine bestimmte Art von Archiven oder für einen bestimmten geografischen Raum zu erheben. Vielmehr geht es darum, die Vorgehensweise einzelner Archive unter Berücksichtigung ihres je spezifischen Umfeldes miteinander zu vergleichen, mit dem Forschungsstand zum Thema in Beziehung zu setzen und daraus Erkenntnisse für ein mögliches Vorgehen für das AfZ zu ziehen. Folgende Archive haben sich an der Umfrage beteiligt: Schweizerisches Bundesarchiv, Deutsches Bundesarchiv, Staatsarchive Zürich und Basel Stadt, Landesarchiv Baden-Württemberg, Schweizerisches Wirtschaftsarchiv sowie das Universitätsarchiv Zürich. Die Auswahl erfolgte nach folgenden Gesichtspunkten: Sie wurde auf den deutschsprachigen Raum eingeschränkt. Der Hauptfokus lag bei schweizerischen Institutionen, es wurden aber auch deutsche Archive miteinbezogen. Einerseits wurden Archive angefragt, die in einem dem AfZ sehr ähnlichen Kontext agieren. Es sind dies Archive ohne öffentlichen Archivierungsauftrag, die sich um Archivgut privater Provenienz kümmern und es damit (oft) auch mit Nachlässen zu tun haben. Sie verfügen ausserdem über einen oder mehrere thematische Schwerpunkte und eine gesamtschweizerische Ausrichtung. Zu dieser Gruppe gehört das Schweizerische Wirtschaftsarchiv. Daneben wurden einzelne grössere und grosse öffentliche Archive in die Umfrage miteinbezogen, bei denen aufgrund ihres öffentlichen Auftrags14 sowie ihrer Grösse und Bedeutung für einen bestimmten geografischen Raum davon ausgegangen werden konnte, dass Vorgaben oder Konzepte zum Thema bereits bestehen könnten. Es sind dies das Deutsche und das Schweizerische Bundesarchiv, stellvertretend für die Staatsarchive diejenigen der Kantone Zürich und Basel Stadt sowie das Landesarchiv Baden-Württemberg. Aufgrund seiner Expertise mit (Professoren)Nachlässen wurde zudem stellvertretend für die Hochschularchive das Archiv der Universität Zürich angeschrieben.
Der Fragebogen besteht aus fünf Fragen, davon beziehen sich vier auf den Umgang mit digitalen Nachlässen. Diese vier Fragen sollen Aufschluss darüber geben, ob in der befragten Institution ganz grundsätzlich Unterlagen bzw. Vorgaben oder ein Konzept zur Sicherung von digitalen Nachlässen besteht sowie ob es spezifische Vorgaben zur Akzession, Bewertung und zur vorarchivischen Beratung / Betreuung von Bestandsbildnern gibt. Die fünfte Frage beschäftigt sich mit der Bewertungspraxis bei Nachlässen in analoger Form. Auf die Antworten zu dieser Frage wird in diesem Artikel nur in stark zusammengefasster Form und in ihrem Bezug zur Bewertung von digitalen Nachlässen eingegangen (siehe nächstes Kapitel).15
Die Auswertung der Fragebogen zeigt, dass keines der angefragten Archive über spezifische Vorgaben in Form eines Konzeptes oder eines Workflows verfügt. Die fünf öffentlichen Archive, die sich an der Umfrage beteiligten, gehen davon aus, dass ihre Unterlagen zur Übernahme von digitalem Archivgut der Verwaltung grundsätzlich auch auf die Übernahme von privatem, digitalem Archivgut anzuwenden sind. Das Schweizerische Bundesarchiv und das Staatsarchiv Basel-Stadt räumen dabei jedoch ein, dass die Vorgaben, die sie den Verwaltungsstellen betreffend Aufbereitung der Daten vor Ablieferung machen, bei Privatpersonen nicht in gleicher Art durchsetzbar sind. Das Schweizerische Bundesarchiv (BAR) gibt deshalb an, bei Bedarf weitergehende Unterstützung anzubieten und das Staatsarchiv Basel-Stadt spricht von der Verwendung des auf Verwaltungsunterlagen bezogenen Prozessbeschriebs «in angepasster Form». Beim Schweizerischen Wirtschaftsarchiv (SWA) und beim Universitätsarchiv Zürich sind Lösungen und Workflows in Arbeit, wobei es im Fall des SWA generell um das Thema digitale Langzeitarchivierung geht. Das Universitätsarchiv Zürich hingegen beschäftigt sich konkret mit der Übernahme von digitalen, «individuell strukturierten Datenbeständen», worunter auch Nachlässe bzw. Personenarchive zu subsumieren sind. Es ist somit die einzige der sieben Institutionen, die aktuell konzeptuelle Massnahmen ergreift, die sich mit den spezifischen Problemen bei der Sicherung von digitalen Nachlässen und anderen «individuell strukturierten» Ablagen befasst. Einzelne Archive weisen explizit darauf hin, dass sie noch über keine praktische Erfahrung in der Übernahme von digitalen Nachlässen (SWA) oder von einzelnen, speziell zu bearbeitenden Unterlagen aus digitalen Nachlässen (wie Email-Accounts; Deutsches Bundesarchiv) verfügen. Zur Bewertung von digitalen Nachlässen geben alle sieben Archive an, dass diese nach den gleichen Kriterien geschieht wie diejenige von analog vorliegendem Archivgut und ihre bereits bestehenden Konzepte auch hierauf Anwendung finden.16 Keines der sieben Archive verfügt über Instrumente (Broschüre, Film, Workshop oder ähnliches), die spezifisch auf die Information und Schulung privater Bestandsbildner abzielen. Das BAR verweist in diesem Punkt wiederum auf die für die Verwaltung konzipierten Beratungsinstrumente, die grundsätzlich auch für Private verwendbar seien. Unter den Privaten sind es die institutionellen Aktenbildner, die das BAR prioritär beraten möchte, private, nicht institutionelle Aktenbilder stehen weniger im Fokus. Das Staatsarchiv Zürich fokussiert auf Vereine und plant, für diese Ablieferer Informationsmaterial zu erstellen. Nebst den angefragten Archiven soll hier auch das Beispiel des Staatsarchivs Wallis erwähnt werden. Auf dessen Webseite ist eine Broschüre zu finden, die Privatpersonen darüber aufklärt, wie sie ihre persönlichen analogen und digitalen Unterlagen optimal bewirtschaften und fachgerecht dem Archiv zur Langzeitaufbewahrung übergeben.17 Diese Broschüre, die eine möglichst effiziente und reibungslose Übernahme von Nachlässen zum Ziel hat, erinnert in ihrer Machart stark an die Unterlagen, die für das PDA im vorab englischsprachigen Raum verwendet werden.18
Wie aus den Antworten zur Frage nach der Bewertung von analogen Nachlässen hervorgeht, lassen sich kaum allgemein gültige Kriterien formulieren. Es wird vor allem Sammlungsgut sowie Einzelnes ausgeschieden, das als marginal betrachtet wird. Die einzelnen Bewertungsentscheidungen werden in aller Regel situativ getroffen. Im Allgemeinen wird jedoch eine möglichst vollständige Archivierung der Nachlassunterlagen angestrebt. Spezifisch für das AfZ kann hinzugefügt werden, dass es hier auch die Praxis gibt, nur einzelne thematische Einheiten aus einem Nachlass zu übernehmen.
Was bedeuten diese Feststellungen nun für die Bewertung von digitalen Personenarchiven?
Aufgrund der zu erwartenden grossen Datenmenge in digitalen Nachlässen (Anzahl Dateien), wird eine durch den Archivar durchgeführte Analyse und wie bei analogen Nachlässen übliche situative Bewertung von einzelnen Ordnern oder gar Dokumenten in vielen Fällen nicht möglich sein. Ist der Bestand zusätzlich nicht hinreichend strukturiert und die einzelnen Ordnungsebenen nicht klar benannt bzw. metadatiert, wird es umso schwieriger. Hier empfiehlt es sich sorgfältig abzuwägen, bei welchen Beständen sich eine Bewertung als sinnvoll erweist und wo ein Bestand integral übernommen wird.
Eine inhaltliche Grobbewertung sollte – wann immer möglich und falls diese überhaupt vorgenommen wird – bereits in der vorarchivischen Phase stattfinden. Gerade wenn man nur Teile eines Nachlasses übernehmen möchte (Beispiel biografisch-thematisches Dokumentieren wie teilweise im AfZ üblich), sollte mit dem Bestandsbildner möglichst früh geklärt werden, wo und wie er die für die Langzeitarchivierung in Frage kommenden Dokumente ablegt, damit diese später einfach aus dem persönlichen Archiv extrahiert und in die Systemumgebung der Archivinstitution überführt werden können.
Nebst diesen, aus der inhaltlichen Bewertung von analog vorliegenden Unterlagen auf ein digitales Umfeld übertragenen Kriterien, ergeben sich in Zusammenhang mit den in den ca. letzten zwanzig Jahren entstandenen digitalen Text- und Kommunikationsarten wie beispielsweise Email, den sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram zusätzliche, zum Teil auch mobile Informationsträger, die der Archivar ebenfalls in seinen Bewertungshorizont ‚einbauen‘ muss. Zudem muss er sich mit einer zusätzlichen Ebene der Bewertung befassen. Diese fragt im Wesentlichen danach, welche Eigenschaften eines digitalen Objekts nach dem Transformationsprozess vom aktiv genutzten Objekt beim Bestandsbildner zum langzeitarchivierten Objekt in der Archivinstitution erhalten bleiben müssen, damit es sich um eine authentisch überlieferte Quelle handelt (Frage nach den signifikanten Eigenschaften). Abgesehen davon kann es unter Umständen auch Sinn machen, den physischen Entstehungs- und Nutzungskontext eines digitalen Datenobjekts (z.B. originale Software, originales Lesegerät etc.) in die Bewertung mit einzubeziehen und bei Bedarf ebenfalls zu archivieren oder zumindest für zukünftige Benutzer zu dokumentieren.19
Wie in der Einleitung beschrieben, verfügt das AfZ noch nicht über breite Erfahrung bei der Übernahme von digitalen Personenarchiven. Die bereits übernommenen Bestände und Teilbestände kamen zu einem Zeitpunkt ins Archiv, als die Akzession von digitalen Unterlagen intern noch ungeklärt war und den jeweiligen Archivmitarbeitenden keine Vorgaben oder Hilfestellungen zur Abwicklung zur Verfügung standen. Zudem handelte es sich meist um Übernahmen unter Zeitdruck. Nach einer ersten Grobanalyse zeigten sich bei diesen digitalen (Teil)Beständen folgende Probleme und Herausforderungen:
die zum Teil recht grossen Datenmengen waren schlecht oder kaum strukturiert
doppelt oder mehrfach vorhandene, identische Dateien. Fast identische Dateien waren nicht so benannt, dass die finale Version erkennbar gewesen wäre
verschlüsselte Dateien
teils weitgehende Überlappungen mit zu einem früheren Zeitpunkt erfolgten digitalen und / oder analogen Übergaben
unterschiedlichste, oft nicht archivierungstaugliche Dateiformate, darunter auch proprietäre
nicht valide Dateien (konkret Audiodatei, die nicht mehr abgespielt werden konnte)
nicht mehr lesbare, veraltete Dateiformate
grosser Anteil an Daten, die nach den Massstäben des AfZ als ‚nicht archivwürdig‘ einzustufen war.
Diese Befunde decken sich mit den Erfahrungen anderer Archivinstitutionen und von Forschungsprojekten, die bereits in Form von Praxisberichten oder Anleitungen und Empfehlungen ihren Niederschlag in der archivwissenschaftlichen Literatur gefunden haben. So berichtet Peter Crämer, Mitarbeiter des Archivs für Christlich-Demokratische Politik in Sankt-Augustin, über Erfahrungen bei der Übernahme eines Nachlasses, der sowohl analoge als auch digitale Unterlagen umfasste, wobei die digitalen – im Gegensatz zum grossen Teil der analogen – erst nach dem Tod des Bestandsbildners ins Archiv gelangten. Eine der zentralen und auch schwierigsten Fragen bei der Bearbeitung des Bestandes war, wie sich die ab 1998 einsetzende digitale Überlieferung zur für den gleichen Zeitraum auch vorhandenen analogen verhält. Aufgrund der Grösse des Bestandes wurde von einem Abgleich zwischen analoger und digitaler Ablage abgesehen. Stichproben zeigten jedoch, dass in beiden Ablagen Unterlagen zu finden sind, die in der jeweils anderen fehlten und somit keine der beiden als die vollständige bzw. Hauptablage anzusehen ist. Dennoch liessen sich auch viele Redundanzen feststellen. Weitere Problemfelder, die Crämer bei seiner Arbeit mit dem Bestand identifizierte, waren unter anderem: Eine alphabetisch geordnete digitale File-Ablage, die inhaltlich-thematische Zusammenhänge zwischen Dokumenten und Dokumentengruppen nicht erkennen liess sowie anhand der Dateinamen und Datierungen nicht klar unterscheidbare, leicht unterschiedliche Versionen von Manuskripten, Reden etc. Hier liesse sich nur über aufwändige Vergleiche feststellen, welche Dokumente beispielsweise als Entwürfe und welche als Endfassungen zu verstehen wären.21 Karina Jaeger und Maria Kobold aus dem Hessischen Landesarchiv beschreiben in ihrem Werkstattbericht, welche Herausforderungen sich ihnen bei der Übernahme der ‚kreativen‘ digitalen Ablage einer Schule stellten. Auch wenn es sich hier nicht um ein Personenarchiv handelt, sind die beschriebenen Probleme sehr vergleichbar und könnten in sehr ähnlicher Ausprägung auf ein Personenarchiv zutreffen. Die Übernahme des Bestands erfolgte 2015 nach der Schliessung der Schule infolge Insolvenz. Die digitalen Unterlagen beliefen sich auf 0,9 TB Daten und 1‘453‘113 Dateien und waren auf zahlreiche Träger verteilt (Festplatten, Serverdaten, Arbeitsplatzrechner, Disketten).22 Unter den Dateien befanden sich solche mit voreingestellten Berechtigungen, mit zu langen Dateipfaden, Programm- und allgemeine Systemdateien, versteckte Dateien (Exportdateien aus Programmen), Sicherungsdateien, nicht (mehr) lesbare Dateien, Verknüpfungen, leere und potentiell redundante Ordner und vieles mehr.23 Heinz Werner Kramski und Ulrich von Bülow vom Deutschen Literaturarchiv Marbach nennen in ihrem Artikel zusätzlich folgende Problemstellungen bei digitalen Übernahmen: nicht mehr lesbare Datenträger wie (selbstgebrannte) CD-Roms und DVDs und nur mit Schwierigkeiten aufzutreibende Lesegeräte, mit denen veraltete Datenträger ausgelesen werden können.24 Im Workbook zum Paradigm-Projekt weisen die Autoren unter dem Thema Bewertung grundsätzlich darauf hin, dass digitale Personenarchive oft sehr umfangreich sind, was den Archivaren vor die Aufgabe stellt, sich mit grossen Datei- und Datenmengen befassen zu müssen. Daneben nennen sie als weitere Herausforderungen die bereits zuvor genannten Programm- und Systemdateien, die es zu finden und zu entfernen gilt wie auch die Frage nach der Authentizität der Daten, also danach, ob Dateien beispielsweise zweifelsfrei einem Autor zugeordnet werden können.25
Die in der Praxis festgestellten Probleme bei der Sicherung von digitalen Unterlagen spiegeln das Zusammenspiel zwischen den aus Archivperspektive problematischen Charakteristika von digitalen Daten und dem Umgang der Bestandsbildner mit ihren Daten. Zusammenfassend lassen sich folgende Problemfelder aber auch Handlungsmöglichkeiten für die übernehmenden Archivinstitutionen ausmachen:
Grosse Datenmengen, darunter Programm- und Systemdateien, Daten / Dateien ohne Informationsgehalt (Verknüpfungen, leere Ordner, Dateien der Grösse 0 Bytes), redundante Daten, inhaltlich nicht als archivwürdig taxierte Daten.
Handlungsmöglichkeiten: Der inhaltlichen Bewertung und Erschliessung wird eine technische Bewertung vorgeschaltet. Durch den Einsatz von unterschiedlichen Tools (z.B. Autopsy, Treesize, WinMerge) können Doppel, Systemdateien etc. aus der Datenmenge herausgefiltert und später entfernt werden.26 War es für die archivierende Institution möglich, vor der Datenübernahme eine Recordsmanagement-Beziehung zum Bestandsbildner aufzubauen (Coaching) oder wurde ihm die technische Umgebung für sein persönliches Archiv zur Verfügung gestellt (z.B. Cloud), erübrigt sich eine solche technische Bewertung zumindest teilweise oder sogar weitgehend. Auch eine inhaltliche Bewertung – sofern sie überhaupt als sinnvoll erachtet wird – ist dann im besten Fall bereits weitgehend durch den Bestandsbildner selber erfolgt und muss nicht oder nur in geringem Umfang durch die Archivmitarbeiter geleistet werden.
Unstrukturierte oder nicht sinnvoll strukturierte Daten, keine oder nicht hilfreiche Metadatierung der Dateien (= fehlende Authentizität).
Handlungsmöglichkeiten: Coaching in der Phase der Bestandsbildung oder zumindest vor Übergabe an die Archivinstitution mit Empfehlung zur Strukturierung und Dateienbenennung
Nicht archivtaugliche Dateiformate, veraltete oder proprietäre Dateiformate, verschlüsselte Dateien, beschädigte Dateien, beschädigte oder obsolete Datenträger.
Handlungsmöglichkeiten: Coaching mit Empfehlung der zu verwendenden Dateiformate, Sensibilisierung betreffend Sicherheitsmassnahmen (Verschlüsselung etc.) und betreffend regelmässige Kontrollen der Daten und Datenträger auf Unversehrtheit und Aktualität. Zurverfügungstellung einer technischen Umgebung, in der die zu verwendenden Dateiformate vorgegeben sind und somit das Hochladen von Daten in nicht archivtauglichen Formaten ausgeschlossen werden kann.
Unklares Verhältnis von analogen zu digitalen Unterlagen.
Handlungsmöglichkeiten: Nur unter Mithilfe des Bestandsbildners oder einer Person, die sich mit dem Material auskennt, ist es möglich, ohne allzu grossen Aufwand (vor allem bei grösseren Mengen an Material) zu klären, wie sich analoge und digitale Ablage zueinander verhalten. Kann der Bestandsbildner bereits in der vorarchivischen Phase durch entsprechende Information für die Problematik einer gleichzeitig analog und digital geführten Ablage sensibilisiert und eine sinnvolle Abmachung getroffen werden (z.B. bestimmter Zeitpunkt, ab dem die digitale Ablage als die vollständige gilt), sparen die Archivmitarbeiter bei der späteren Bewertung und Erschliessung viel Zeit.
Es lässt sich feststellen, dass den genannten Problemfeldern, die sich mit der Übernahme von digitalen Unterlagen aus privater Provenienz ergeben, am besten dadurch begegnet werden kann, dass die archivierenden Institutionen – analog zur Praxis bei Verwaltungsunterlagen – bereits in die vorarchivische Phase eingreifen. Im Unterschied zum Verhältnis öffentliches Archiv – Verwaltungsbehörde, das die geordnete Übergabe der elektronischen Akten durch gesetzliche Vorgaben definiert, sind Archive, die Materialien von Privaten übernehmen, auf die Bereitschaft der Bestandsbildner zur konstruktiven Zusammenarbeit angewiesen. Wie eine solche Zusammenarbeit konkret aussehen kann, was das für die Arbeitsorganisation in einem Archiv bedeutet und wie sich das Thema Bewertung dazu verhält, wird im folgenden Kapitel näher betrachtet.
Die nachfolgend für das AfZ formulierten Empfehlungen stellen den Versuch dar, einige wichtige Schritte auf der strategisch-organisatorischen Ebene aufzuzeigen, die zu einer professionellen und verantwortungsvollen Sicherung von digitalen Nachlässen beitragen. Die Empfehlungen basieren auf den in den vorangehenden Kapiteln herausgearbeiteten wichtigsten Punkten, Feststellungen und Befunden aus Forschungsstand und Praxis. Insbesondere berücksichtigt und einbezogen werden sollen aber auch die von meinen Kolleginnen und Kollegen der Digitalen Langzeitarchivierung in den letzten zwei bis drei Jahren erarbeiteten Grundlagen zum Thema.
Empfehlungen für nächste Schritte:
Ein zentrales Instrument schaffen, auf dem wichtige aktuelle und potentielle private Bestandsbildner, deren Bestände im AfZ archiviert werden (sollen), verzeichnet sind.
Kontakt knüpfen und beraten kann man nur, wenn der Adressat bekannt ist!
Eine Checkliste für die Sichtung von digitalen Personenarchiven verfassen. Da es im AfZ bereits eine solche Checkliste für digitale Ablagen von Institutionen gibt, können grosse Teile daraus übernommen und mit einigen Ergänzungen für die Sichtung bei Privatpersonen genutzt werden. Die Fragen zur Ablagestruktur und zum Technischen können - mit kleinen Anpassungen – übernommen werden, der Bereich Organisationelles muss aber auf die Situation von Privatpersonen zugeschnitten werden. Hier sollten unter anderem folgende Fragen behandelt werden: Wie managt der Bestandsbildner seine Zugangsdaten, Passwörter etc.? Hat jemand aus dem Umfeld Kenntnis der Zugangsdaten und die Ermächtigung, bei Bedarf den Zugang zum digitalen Archiv zu ermöglichen? Gibt es eine regelmässig nachgeführte Dokumentation / eine Liste der vorhandenen Daten und genutzten Dienste? Hat sich der Bestandsbildner schon mit dem Thema digitale Nachlassplanung auseinandergesetzt oder existieren eventuell bereits Vorkehrungen?
Das bisher vom AfZ verwendete Formular, das bei einer Sichtung oder Akzession die wichtigsten Informationen zum Bestandsbildner und zum Bestand erhebt, bleibt auch für digitale Bestände ein zentrales Arbeitsinstrument. Die Informationen zum Bestand / zur Bestandsgeschichte sollten jedoch auch die Frage klären, wie sich analog und digital vorliegende Dokumente zueinander verhalten und beispielsweise auf die Frage ‚Gibt es einen Zeitpunkt, ab dem die digitale Ablage als die eindeutig vollständige bezeichnet werden kann?‘ Antworten liefern.
Eine geeignete Form für ein Sichtungsverzeichnis von digitalen Unterlagen finden. Dies können je nach Fall Screenshots sein oder mit Hilfe von speziellen Tools (z.B. Droid, TreeSize) erstellte Verzeichnisse, die die gesamte Dateienablage bis auf Stufe der einzelnen Dateien scannen und nach Bedarf auch für mobile Geräte einsetzbar sind (→ TreeSize).
Mit einigen privaten Bestandsbildnern, mit denen bereits Schenkungs- oder Depotverträge ausgehandelt wurden und die auch digitale Daten produzieren, in Kontakt treten. Sofern von Seiten dieser Bestandsbildner Interesse besteht, eine Recordsmanagement-Beziehung aufbauen (Pilot-Coachings): Erhebung des Ist-Zustandes des persönlichen Archivs mit Hilfe der vorgängig erwähnten Arbeitsinstrumente, Erstinformation abgeben und auf allfällige Problematiken des bestehenden Systems hinweisen,27 Lösungsvorschläge formulieren und bei Bedarf (technische) Hilfe anbieten, den Bestandsbildner in regelmässigen Abständen besuchen und die weitere Entwicklung des persönlichen Archivs im Auge behalten und dokumentieren.
Das Vorgehen definieren, wenn digitales Archivgut ad hoc übernommen werden soll. Zum Beispiel: Es wird kein digitales Archivgut definitiv übernommen ohne vorgängige Sichtung und Analyse der Daten. Im Übernahmevertrag darauf hinweisen, dass das Archiv sich vorbehält, digitale Daten auszusondern, wenn ihr Erhalt sich als unverhältnismässig aufwändig erweisen würde.
Ein besonderes Augenmerk auf die Frage der Bewertung legen: Wo immer möglich sollte die Frage, ob ein persönliches Archiv integral oder nur in Teilen übernommen wird (und wenn ja, welche Teile), bereits in der vorarchivischen Phase geklärt werden. Die bereits genannten Arbeitsinstrumente, die bei der Sichtung zum Einsatz kommen, geben einen Überblick über das vorhandene Material, aber auch über die Lebensgeschichte und -situation des Bestandsbildners sowie seine unterschiedlichen Rollen und Tätigkeiten. Mit Hilfe der erhobenen Informationen sollte zusammen mit dem Bestandsbildner eine (Grob)Bewertung seiner Unterlagen erfolgen und daran anschliessend eine Abmachung, was aus seinem persönlichen Archiv übernommen wird. Gerade wenn nur einzelne Teile des digitalen Nachlasses langzeitarchiviert werden sollen, muss darauf geachtet werden, dass sich diese Teile bei der Übernahme schnell finden und einfach aus dem Rest der Unterlagen herauslösen lassen. Überhaupt lohnt es sich, den Bestandsbildner für den praktischen Wert einer gut strukturierten, nach Themen gegliederten Ablage zu sensibilisieren. Diese erleichtert ihm im Alltag den Umgang mit und die Pflege seiner digitalen Daten, die archivierende Institution kann nach der Übernahme die Aufbereitung des Nachlasses – insbesondere die Strukturierung, Bewertung und Erschliessung – viel einfacher und damit effizienter durchführen. Kann der Bestandsbildner zudem dazu angehalten werden, seine Ablage regelmässig selber zu bewerten und zu bereinigen (Löschen nicht mehr relevanter Dokumente, Bereinigung von Redundanzen etc.) oder führt er beispielsweise für alle archivwürdigen Dokumente einen klar benannten, separaten Ordner (‚Persönliches Archiv‘ oder ‚Unterlagen für das AfZ‘), ist bereits sehr viel getan.
Das Tool Docuteam Packer, das im AfZ für die Aufbereitung von digitalen Übernahmen vorgesehen ist, an (in einem ersten Schritt einzelne ausgewählte) Bestandsbildner abgeben und diese schulen, damit sie selber SIPs bilden und an das AfZ abliefern können.
Empfehlungen für weitere Schritte, über die in näherer Zukunft nachgedacht werden sollte:
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen befähigen und über die interne Arbeitsorganisation nachdenken: Aktuell werden die Konzepte und Workflows für den Umgang mit digitalen Personenarchiven von den Bereichen digitale Langzeitarchivierung und Recordsmanagement entwickelt und u.a. Tools getestet. Das erarbeitete Fachwissen, wie mit digitalen (Personen)Archiven umgegangen wird, muss nun an die Bereiche Akzession und Erschliessung weitergegeben werden, damit auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dieser Bereiche für die Arbeit mit digitalen Archiven befähigt sind. In diesem Zusammenhang ist auch die aktuelle Arbeitsorganisation, die primär auf den analogen Archivierungsprozess ausgerichtet ist (Kontaktaufnahme – Sichtung – Akzession – Bewertung und Erschliessung) kritisch zu hinterfragen. Es zeigt sich, dass eine umsichtige und effiziente Sicherung von digitalen Nachlässen bereits in der vorarchivischen Phase einsetzt und Tätigkeiten wie Strukturierung, Bewertung und Erschliessung deshalb, zumindest teilweise, in die Zeit vor der offiziellen Übernahme der Unterlagen ins Archiv verschoben werden. Dies heisst auch, dass die Mitarbeitenden, die Bestandsbildner coachen, ein fundiertes Basiswissen zu den Themen Recordsmanagement, digitale Langzeitarchivierung, aber auch zur Akzession, Bewertung und Erschliessung haben sollten, möchte man nicht in jedes Coaching drei oder vier Mitarbeitende aus den je betroffenen Bereichen involvieren. Aus dieser Perspektive lohnt es sich, über neue Formen der Arbeitsorganisation nachzudenken, beispielsweise über die fallweise Betreuung von Bestandsbildnern durch Mitarbeitende über die unterschiedlichen Phasen der Bestandsbildung bis zur Übernahme und Aufbereitung der Unterlagen im Archiv hinweg.
Über die Zurverfügungstellung einer technischen Infrastruktur an Bestandsbildner nachdenken, in der diese ihr persönliches Archiv sichern und verwalten und gleichzeitig die Daten gepflegt werden können (z.B. Cloud). Eine solche Infrastruktur könnte auch durch mehrere Institutionen zusammen initiiert und getragen werden.
Spezialarchive wie das AfZ, die (unter anderem) Nachlässe von Privatpersonen sammeln, sind mit dem Übergang ins digitale Zeitalter vor grosse Herausforderungen gestellt. Wie alle Institutionen, die Quellen – und damit je länger je mehr auch digitale Quellen – sichern, müssen sie sich intensiv damit beschäftigen, wie diese Quellen übernommen, aufbereitet und langzeitarchiviert werden können, damit sie Nutzern und Nutzerinnen auch in Zukunft als authentische Dokumente zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu öffentlichen Archiven, die ihren Aktenproduzenten aus der Verwaltung Vorgaben machen und deren Kooperation dank einer gesetzlichen Basis einfordern können, sind Spezialarchive darauf angewiesen, dass ihre privaten Deponenten das Interesse und die Bereitschaft von sich aus aufbringen, ihre Unterlagen so zu pflegen und aufzubereiten, dass das Archiv sie ohne allzu grossen Aufwand übernehmen kann. Zudem müssen sie damit rechnen, mit digitalen Daten der unterschiedlichsten Formate aus den unterschiedlichsten Quellsystemen konfrontiert zu werden, wohingegen die meisten zu übernehmenden Daten aus der Verwaltung aus geordneten Geschäftsverwaltungsprogrammen stammen. Trotzdem können Spezialarchive aus der Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Archiven und ihren Verwaltungen lernen. Deren Recordsmanagement-Konzepte funktionieren in angepasster Form auch für die Beziehungsgestaltung zwischen dem Spezialarchiv und seinen Deponenten. Dabei scheint mir die Erkenntnis, dass die Archivinstitution möglichst früh den Kontakt zum Bestandsbildner sucht und ihm das nötige Wissen und allenfalls auch die Instrumente zur Hand gibt, damit er sein persönliches Archiv optimal betreuen kann, am zentralsten. Dies bedingt bei den Spezialarchiven aber nicht zuletzt die Bereitschaft, das eigene Berufsbild zu überdenken. Der Archivar, der beim analogen Archivgut meist erst kurz vor oder bei der Übernahme der Unterlagen ins Archiv in Erscheinung tritt, muss im digitalen Umfeld früh aktiv auf ihn interessierende Bestandsbildner zugehen. Er ist nicht mehr nur derjenige, der die Übernahme organisiert, die Akten ordnet, bewertet und erschliesst, er wird nun auch zum Coach und Recordsmanager. Es scheint – auch wenn dies auf den ersten Blick paradox wirken mag – im zunehmend digitalen und damit auch zunehmend technisierten Arbeitsumfeld der Archive besonders wichtig, in die Ebene der Beziehung zwischen Bestandsbildner und Archiv zu investieren.
Vgl. https://www.afz.ethz.ch/archivierung/sichern/sammlungsprofil (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
In diesem Artikel wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit meist darauf verzichtet, jeweils die männliche und weibliche Form für Rollen und Tätigkeitsbezeichnungen etc. zu verwenden. Es sind jedoch immer sowohl männliche als auch weibliche Archivmitarbeitende gemeint.↩︎
Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA), betreut von der Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Seit Mai 2019 wurde das Regelwerk ersetzt durch die «Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB)», siehe https://www.onb.ac.at/koop-litera/standards/index.html (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Weisbrod, Dirk: Die präkustodiale Intervention als Baustein der Langzeitarchivierung digitaler Schriftstellernachlässe, Dissertation an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin, eingereicht am 28.4.2015, S. 18, http://dx.doi.org/10.18452/17361.↩︎
Redwine, Gabriela: Personal digital archiving. DPC Technology Watch Report 15-01 December 2015, S. 7, http://dx.doi.org/10.7207/twr15-01.↩︎
Redwine, Personal digital archiving.↩︎
Vgl. beispielsweise die Dissertation von Dirk Weisbrod https://doi.org/10.18452/17361, die Masterarbeit von Silke Becker https://doi.org/10.18452/2097 oder die MAS-Arbeit von Simone Sumpf http://dx.doi.org/10.18755/iw.2016.22.↩︎
Im deutschsprachigen Raum hat sich seit kürzerem nestor dem Thema Personal Digital Archiving angenommen und eine Arbeitsgruppe dazu gegründet. Auf der Website von nestor finden sich diverse Unterlagen wie Handouts zum Thema, siehe https://wiki.dnb.de/display/NESTOR/AG+Personal+Digital+Archiving (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Siehe http://www.digitalpreservation.gov/personalarchiving/ (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Siehe dazu beispielsweise das Poster der Library of Congress zum Thema http://digitalpreservation.gov/personalarchiving/documents/NDIIP_PA_poster.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Zum Paradigm-Projekt siehe http://www.paradigm.ac.uk/index.html (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Weisbrod, präkustodiale Intervention, http://dx.doi.org/10.18452/17361.↩︎
Hertling, Anke: Nachlassverwaltung der Zukunft: Das Konzept eines ‚digitalen Vorlass-Systems‘. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 59. Jg. (2012), Heft 1, S. 5-11, http://dx.doi.org/10.3196/186429501259123.↩︎
Der die Sicherung von Unterlagen privater Provenienz meist auch explizit einschliesst, vgl. z.B. Schweizerisches Bundesgesetz über die Archivierung, Artikel 17, Abs. 2, https://www.admin.ch/
opc/de/classified-compilation/19994756/200308010000/152.1.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Die fünf Fragen lauteten: 1. Besteht in Ihrer Institution ein Konzept / ein Workflow bzw. grundsätzlich Unterlagen zum Thema ‚Übernahme von digitalen bzw. teilweise digitalen Personennachlässen‘?
2. Gibt es Instrumente / Vorgaben betr. Bewertung von digital vorliegenden Personennachlässen?
3. Gibt es Instrumente / Vorgaben betr. Sicherung / Übernahme von digitalen Personennachlässen? 4. Gibt es Instrumente / Vorgaben / Unterlagen, die die Information / Schulung der BestandsbildnerInnen in punkto Organisation und Pflege von digitalen Unterlagen betreffen (ev. zur Abgabe an die BestandsbildnerInnen)? 5. Gibt es Instrumente / Vorgaben betr. Bewertung von analog vorliegenden Personennachlässen?↩︎
Wobei zur Bewertung von Unterlagen privater Herkunft oder sogar spezifisch zu Nachlässen nur im Deutschen Bundesarchiv explizit ein Dokument verfasst wurde.↩︎
Siehe https://www.vs.ch/documents/249470/2363810/Brosch%C3%BCre+Privatpersonen+2016.pdf/
4d5fcba7-4d47-45d3-bf86-90d0245792fb (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Auch Bibliothek und Hochschularchiv der ETH Zürich bieten seit April 2019 auf ihrer Webseite Privatpersonen – insbesondere Forschenden der ETH – Informationen zur Pflege ihrer persönlichen (digitalen) Unterlagen an, siehe https://www.explora.ethz.ch/s/organisieren-sie-ihr-archiv/ (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Nebst Dirk Weisbrod und Robert Kretzschmar befasst sich auch Verena Türck in ihrer Transferarbeit für den Höheren Archivdienst an der Archivschule Marburg mit dieser Frage. Sie nennt nebst den genannten Kriterien Authentizität und signifikante Eigenschaften auch die Archivfähigkeit, Vollständigkeit und Auswertbarkeit / Funktionalität. Siehe dazu Türck, Verena: Veränderungen von Bewertungsgrundsätzen bei der Übernahme digitaler Unterlagen? Untersuchungen von Bewertungsentscheidungen anhand baden-württembergischer Beispiele, eingereicht am 31.3.2014, S. 17-24, https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/57173/Transferarbeit_VerenaTuerck_02.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Die auf die Situation im AfZ bezogenen Ausführungen dieses Kapitels basieren auf zwei von Sonja Vogelsang und Jonas Arnold ausgearbeiteten, unpublizierten Präsentationen und Skripts (für die 22. Tagung des Arbeitskreises «Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen» vom 7. und 8.3.2018 im Technologiezentrum Marburg sowie für den Roundtable «Archivierung digitaler Nachlässe - Herausforderung für die Archive» des medizinhistorischen Archivs der Universität Zürich vom 20.4.2018 an der Universität Zürich), aus Gesprächen mit den beiden sowie aus der eigenen Erfahrung bei der Übernahme eines digitalen Teilbestandes.↩︎
Crämer, Peter: ‚Arme Nachlassverwalter…‘? Erschliessung des ‚hybriden Bestandes‘ Gerd Langguth im Archiv für Christlich-Demokratische Politik – ein Praxisbericht. In: Der Archivar 69. Jg. (2016), Heft 4, S. 369-374, http://www.archive.nrw.de/archivar/hefte/2016/Ausgabe_4/Ausgabe_4-16.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Daneben wurden auch 450 Laufmeter analoge Unterlagen übernommen, deren weitere Bearbeitung (Abgleich analog – digital) im Bericht aber nicht weiter erwähnt wird.↩︎
Jaeger, Karina; Kobold, Maria: Zwischen Datenwust und arbeitsökonomischer Bewertung. Ein Werkstattbericht zum Umgang mit unstrukturierten Dateisammlungen am Beispiel des Bestandes der Odenwaldschule. In: Der Archivar, 70. Jg. (2017), Heft 3, S. 307-311, http://www.archive.nrw.de/
archivar/hefte/2017/Ausgabe-3/Archivar-3_2017.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Kramski, Heinz Werner: Bülow, Ulrich von: «Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe» – Erfahrungen mit digitalen Archivmaterialien im Deutschen Literaturarchiv Marbach. In: Robertson-von Trotha, Caroline Y.; Hauser, Robert (Hg.): Neues Erbe. Aspekte, Perspektiven und Konsequenzen der digitalen Überlieferung, Karlsruhe 2011, S. 141-162, http://dx.doi.org/10.5445/KSP/1000024230.↩︎
Paradigm-Workbook, Kapitel ‚Appraisal and disposal‘, Appraisal-related issues encountered by Paradigm, Challenges associated with appraising digital archives, http://www.paradigm.ac.uk/
workbook/appraisal/examples-challenges.html (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Vgl. Jaeger und Kobold, Datenwust, S. 309, http://www.archive.nrw.de/archivar/hefte/2017/Ausgabe-3/Archivar-3_2017.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎
Seit Juli 2018 steht privaten Bestandsbildnern auf der Website des AfZ das Informationspapier «Die systematische Ablage von privaten digitalen Daten» zur Verfügung https://www.afz.ethz.ch/images/
uploads/dokumente/2018-07-26_SVNE_RM_Privatpersonen.pdf (abgerufen am 9.6.2019).↩︎