Universitäre Weiterbildung und Digitalisierung in Zeiten der COVID-19-Pandemie1

Christian Rohr2


Vor mittlerweile 15 Jahren wurde der CAS/MAS ALIS, das Master of Advanced Study Programm in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft, als Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Bern und Lausanne ins Leben gerufen. Er überwindet somit bewusst die Sprachgrenze des «Röstigrabens», indem auch der Unterricht weitgehend auf Deutsch oder Französisch stattfindet. Er hat sich wohl auch gerade deswegen rasch zu einem Erfolgsmodell entwickelt: Mittlerweile läuft der 8. Studiengang (2020-2022), und das Interesse an dieser nachuniversitären Ausbildung ist weiterhin sehr hoch.

Als ich 2019 als Nachfolger meines Kollegen Prof. Dr. André Holenstein Mitglied und Präsident der Programmleitung des CAS/MAS ALIS wurde, war der 7. Studiengang (2018-2020) in vollem Gange. Er verlief planmässig und auch meinen eigenen Beitrag zum Modul 3a des Kurses «Forschungsmethoden und Digital Humanities» konnte ich im Januar 2020 noch ohne Einschränkung in Präsenz durchführen. In diesen Wochen wurden die Nachrichten allerdings immer mehr von beunruhigenden Meldungen über ein neues Virus dominiert, das sich zunächst in China und aufgrund der globalen Vernetzung bald auch in Europa und den meisten anderen Teilen der Welt verbreitete: SARS-CoV-2 mit all seinen Varianten sowie die dadurch ausgelöste Infektionskrankheit COVID-19 dominieren seitdem unseren Lebensalltag. Im März 2020 trat in der Schweiz sowie in den meisten anderen Ländern Europas erstmals ein Lockdown in Kraft, der verdeutlichte, dass wir alle in einer globalen Pandemie angekommen waren, wie es seit der Spanischen Grippe 1918/1919 nicht mehr der Fall gewesen war. Damit musste auch die Lehre an den Universitäten und Schulen von einem Tag auf den anderen grundlegend umgestellt werden.

Der 7. Studiengang (2018-2020), dessen wissenschaftlicher Output nun in dieser Ausgabe von Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis / Sciences de l’information: théorie, méthode et pratique vorliegt, wird somit der Kurs sein, der uns allen als derjenige in Erinnerung bleiben wird, als die COVID-19-Pandemie das gesellschaftliche und berufliche Leben weltweit veränderte. In meiner Disziplin, der Geschichtswissenschaft – und ich beschäftige mich selbst vornehmlich mit der Geschichte von (Natur-)Katastrophen –, wird anhand solcher einschneidender Ereignisse immer wieder die Frage diskutiert, inwiefern solche Einschnitte den Lauf der Geschichte nachhaltig verändern werden bzw. ob es schon ähnliche, vergleichbare Einschnitte gegeben habe. Ich kann diese Frage natürlich nicht abschliessend beantworten, aber es ist klar, dass viele Veränderungen, die aktuell unser Alltagsleben, insbesondere unsere Kommunikation und Mobilität, betreffen, wohl dauerhafte Nachwirkungen haben werden.

Der Einschnitt war auch für den Studiengang selbst massiv: Von einem Tag auf den anderen war es nötig, auf andere, weitgehend virtuelle Vermittlungs- und Kommunikationsformen umzusteigen; auch die Mobilität war eingeschränkt, mit massiven Auswirkungen auf unser soziales Beziehungsleben, selbst im engeren Familien- und Verwandtenkreis. Allgemein wurde mit dem Umstieg auf Zoom und ähnliche Kanäle die soziale Interaktion völlig verändert; Podcasts und ihre Produktion wurden innerhalb von wenigen Tagen zum Allgemeingut auch in der Lehre. Hinsichtlich der Forschungstätigkeit und der Arbeitswelt generell standen wir geschlossenen Institutionen und Home Office gegenüber, mit allen Konsequenzen auch auf unser Privatleben. Es war sowohl für die Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer als auch für die Lehrenden eine völlig neue, unerwartete Situation. Ich danke allen, insbesondere den Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern, dass sie nach der ersten Verzweiflung über den Lockdown der Studienleitung und den Lehrenden die nötige Zeit zugestanden haben, die diversen Umstellungen in die Wege zu leiten.

Es handelt sich somit um eine Krise, wie sie wir alle in unserem Leben hier in der Schweiz und allgemein in Europa wohl noch nicht erlebt haben. Aber Krisen können auch neue Chancen aufzeigen: Das Wort krisis (κρίσις) im Altgriechischen bedeutet eigentlich «Entscheidung». Eine Krise ist somit eine Zeit, in der gut überlegte Entscheidungen anstehen. Damit kann der oft rein pejorative Charakter dieses Wortes auch in die Zukunft weisen, und zwar durchaus auch in einem positiven Sinn: Die COVID-19-Pandemie hat uns in einer Art «Crash-Kurs» mit zahlreichen neuen Kommunikationskanälen vertraut gemacht: Zoom und ähnliche Programme sind uns heute völlig vertraut geworden. Noch vor zwei Jahren hatten nur die wenigsten von uns damit Erfahrungen gemacht. Nach bald zwei Jahren der Pandemie können wir nun immer besser abschätzen, wo die Stärken und die Grenzen dieser neuen Kommunikationsformen liegen: Zeitersparnis, weniger dienstliche Reisen auf der einen Seite, Grenzen der sozialen Interaktion auf der anderen, um nur einige Aspekte zu nennen. In jedem Fall werden solche Technologien auch in einer Zeit nach COVID-19 zumindest eine wichtige komplementäre Rolle in Lehre und Forschung spielen.

Konkret für die Ausbildung im Rahmen der Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft relevant ist die Einsicht, wie wichtig Digitalisierung und Open Access für ein Aufrechterhalten von Forschungsarbeit geworden sind, wenn Lockdowns den Zugang zu Archiven und Bibliotheken verunmöglichen. Aus meiner eigenen Erfahrung als Historiker konnte, ja musste ich rasch feststellen, dass die digitale Zugänglichkeit von eBooks, von Archivbeständen, Repertorien, Bilddatenbanken etc. entscheidend dafür war, ob akademische Arbeiten auch in diesen Krisenzeiten vorangetrieben werden konnten oder nicht.

Viele der Absolventinnen und Absolventen sitzen heute schon an den Schaltstellen dieser Digitalisierung bzw. digitalen Wissensvermittlung oder werden in Zukunft damit befasst sein. Die drei Referate von Absolventinnen und Absolventen bei der Diplomfeier3 sind – nicht zufällig – allesamt auch auf diesen Aspekt eingegangen. Es kommt somit auch eine zusätzliche Verantwortung auf alle in diesem Bereich Tätigen zu, diesen allgemeinen Digitalisierungsprozess mitzutragen und ihn bestmöglich im Austausch mit Politik und Gesellschaft auszuhandeln. Wohin auch immer die Absolventinnen und Absolventen des CAS/MAS ALIS ihr aktueller und zukünftiger Karriereweg führen wird: Ich wünsche für diese Tätigkeiten viel Erfolg, Kreativität und Begeisterung!

Ich darf somit allen Absolventinnen und Absolventen nochmals sehr herzlich zum erfolgreichen Abschluss gratulieren, denn er erfolgte unter denkbar schlechten Rahmenbedingungen. Umso höher sind ihre persönliche Leistung und ihr Durchhaltevermögen zu bewerten. Darin eingeschlossen ist auch die Anerkennung an all die Familienmitglieder und sonstigen Angehörigen, die im Privaten diesen Weg unterstützt haben. Die Pandemie hat uns deutlicher als erwünscht vor Augen geführt, wie wichtig diese Unterstützung für einen erfolgreichen Abschluss eines Weiterbildungsstudiengangs ist.

Ich danke allen Modulleiter*innen und Dozent*innen unseres Programms für ihr Engagement in unserem Studienprogramm. Insbesondere ergeht mein Dank an die Mitglieder der Studienleitung, Gaby Knoch-Mund, Natalie Brunner-Patthey und Georg Büchler, die neben ihren sonstigen Verpflichtungen in dieser Funktion während der Zeit der Umstellung auf virtuelle Lehre ein extrem hohes Mass an Flexibilität und Fingerspitzengefühl an den Tag legen mussten. Sie waren in den letzten zwei Jahren nicht nur für die Entwicklung und die Durchführung eines Weiterbildungsprogramms auf höchster Qualitätsstufe verantwortlich, sondern insbesondere auch für die Koordination der Umstellung auf virtuelle Lehr- und Lernformen. Auch der Administration, namentlich Antoinette Guggisberg, sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich für ihren grossen Einsatz gedankt.

Ich freue mich nicht nur über die erfolgreichen Abschlüsse des Weiterbildungsstudiums, sondern auch darüber, dass trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und Zusatzbelastungen 16 der insgesamt 28 Masterarbeiten fristgerecht für die Publikation überarbeitet werden konnten. Dazu kommen drei einleitende Beiträge: die schriftliche Fassung des Festvortrags von Gilbert Coutaz, langjähriger Dozierender im Weiterbildungskurs und u.a. Directeur honoraire der Archives cantonales vaudoises sowie des Vereins der Schweizerischen Archivarinnen und Archivare, über die Rolle der Archivarinnen und Archivare in der heutigen Gesellschaft, gehalten an der Diplomfeier am 2. September 2021; ein verschriftlichter Vortrag zu Bibliotheken in Zeiten der Pandemie, den Barbara Lison, Bibliotheksdirektorin der Stadtbibliothek Bremen, per Zoom als Gastvortrag anlässlich der Jahresversammlung der Alumni dieses Weiterbildungsprogramms gehalten hat; ein Gastbeitrag von Tobias Hodel, Assistenzprofessor für Digital Humanities an der Universität Bern und Mitglied der Programmleitung, und seiner Forschergruppe über den Zugang zu Informationen in digitalen Archiven.

Ein besonderes Lob gebührt erneut dem Redaktionsteam Gaby Knoch-Mund, Ulrich Reimer und Barbara Roth-Lochner, diese Nummer von Informationswissenschaft. Theorie, Methode und Praxis / Sciences de l’information: théorie, méthode et pratique im bisher gewohnten Rhythmus erscheinen zu lassen, obwohl sich der Abschluss der Masterarbeiten selbst aufgrund der Pandemie in vielen Fällen um Monate zurückverschoben hatte.

So bleibt zu hoffen, dass die hier publizierten Arbeiten auch Impulse für die Theorie und Praxis der Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Zeiten der Pandemie und danach geben können. Die Absolventinnen und Absolventen des CAS/MAS ALIS selbst werden mit ihrer bereits angetretenen oder zukünftigen Tätigkeit in der weiten Welt der Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen die Möglichkeit und Aufgabe haben, diese neuen Erkenntnisse konkret anzuwenden und damit einen Beitrag zum Wissenstransfer zu leisten.


  1. Der Text stellt eine erweiterte und überarbeitete Version der Ansprache anlässlich der Diplomfeier des 7. Studiengangs CAS/MAS ALIS (2018-2020) am 2. September 2021 dar.↩︎

  2. Prof. Dr. Christian Rohr ist Direktor der Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) am Historischen Institut der Universität Bern und Präsident der Programmleitung CAS/MAS ALIS.↩︎

  3. Anne-Angélique Andenmatten: Les archives de la Bourgeoisie de Sion: une richesse encore à découvrir; Philippe Frei: Von «Original und Kopie» – Die Karte als historisches Dokument in der Vermittlung der Kartensammlung des Bundesamtes für Landestopografie swisstopo; Stefan Grosjean: Der Lesesaal im Wandel. Theoretische Hintergründe, praktische Erfahrungen und Evaluation des Umbaus der Bibliothek Medizin in Bern. Die Ergebnisse der Arbeiten von Stefan Grosjean und Philippe Frei sind auch in diesem Band enthalten.↩︎