Isabelle Haffter
Im Verlauf der letzten 20 Jahre erfuhr die Bedeutung fotografischer Bestände bei Gedächtnisinstitutionen als Sammlungsgut und bei den Geistes- und Sozialwissenschaften als Forschungsgegenstand breite Akzeptanz.1 Mit der Anerkennung des kulturellen Werts der Fotografie als historische Quelle und deren Status als schützenswertes Archivgut geht die Frage nach der Bewertung einher. Der vorliegende Beitrag schliesst an die aktuelle Bewertungsdebatte an und fragt: Was sind die Herausforderungen, Anforderungen und Chancen der Bewertung fotografischer Quellen? Welche Kriterien werden im Schweizer Bewertungsdiskurs empfohlen? Das Ziel der Untersuchung ist, einen Diskussionsbeitrag zu Bewertungsstrategien von fotografischem Quellenmaterial zu erarbeiten. Dazu soll exemplarisch anhand einer Bewertungsmatrix der fotografische Bestand des Walter-Heim-Nachlasses im Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich bewertet werden und das Verfahren in einen Vergleich mit den Empfehlungen von Nora Matyhs (Musée de l`Elysée, Lausanne) und Memoriav gestellt werden. Ziel ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beleuchten und einen Erkenntnisgewinn für zukünftige Bewertungsdiskussionen zu erarbeiten.
Das Bewertungsverfahren des fotografischen Bestands wird anhand folgender Forschungsfragen kritisch reflektiert:
Wie vollzog sich der Bewertungsentscheid im Hinblick auf Selektion und Kassation?
Welche entscheidungsrelevante Bedeutung wurde der Analyse des Quellenmaterials im Walter Heim-Nachlass beigemessen?
Auf einer archivwissenschaftlichen Ebene stellen sich die Fragen:
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen im Vergleich zu den Empfehlungen von Mathys und Memoriav?
Kann mit Hilfe der Bewertungskriterien die Überlieferungswürdigkeit eines fotografischen Bestands restlos bestimmt werden?
Mit Blick auf zukünftige Bewertungsentscheide stellt sich die Frage:
Inwieweit kann die Reflexion über das eigene Bewertungsverfahren einen Beitrag zu längerfristigen Digitalisierungsstrategien im Kontext der Digital Humanities leisten?
Die vorliegende Untersuchung plädiert für ein interdisziplinäres Bewertungsverfahren aus einer fotohistorischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive. Dieses Verfahren ermöglicht es, den Bewertungsprozess hinsichtlich Selektion und Kassation transparent zu begründen und für Dritte nachvollziehbar zu machen. Die Frage, ob die Überlieferungswürdigkeit einer Fotografie auf der Grundlage einer Bewertungsmatrix restlos bestimmt werden kann, soll im Verlauf der Untersuchung diskutiert werden.
Nicht jede Fotografie ist überlieferungswürdig. Dies lässt sich insbesondere in der Bewertung fotografischer Bestände beobachten, bei welchen sich der Evidenzwert nicht ohne Weiteres aus dem Primärzweck erschliesst, sondern der Sekundärwert erst durch eine quellenkritische Kontextualisierung und historische Analyse des Entstehungszusammenhangs hervorgeht. In einem solchen Fall liegt die Herausforderung der Bewertung darin, den Überlieferungswert abzuschätzen, der sich aus dem Evidenzwert und dem Informationswert zusammensetzt.2
Zur Bestimmung der Überlieferungswürdigkeit wird in der vorliegenden Untersuchung eine Fotografie, unabhängig von ihrem Aufzeichnungszweck (Primärwert), anhand der archivwissenschaftlichen Kriterien der AfZ-Bewertungsmatrix und einer quellenkritischen Analyse ausgewertet und der Sekundärwert unter Berücksichtigung der Akquisitionspolitik, des Sammlungsprofils, der Nutzer*innenbedürfnisse und der zukünftigen Forschungsrelevanz abgewägt. Damit sind die wesentlichen theoretisch-methodischen Grundlagen der vorliegenden Untersuchung benannt, die sich in Referenz auf den aktuellen Forschungsstand vornehmlich auf die Arbeiten Schellenbergs, Learys, Menne-Haritz`, Charbonneaus, Mathys`, Metz` und Niklaus` stützen.3
Der Fotobestand des Schweizers Walter Heim (1915-2006)4, der sein konsularisch-diplomatisches Berufs- und Privatleben über vier Jahrzehnte hinweg fotografisch dokumentierte, ist ein geeignetes Fallbeispiel für eine analytisch-kritische Untersuchung eines Bewertungsverfahrens mit Hilfe einer Bewertungsmatrix.
Die Bewertungsmatrix für audiovisuelle Quellen des AfZ wurde von der Autorin während ihrer 50%-Anstellung als wissenschaftliche Assistentin im Rahmen eines 6-monatigen Praktikums zwischen Februar und Ende Juli 2020 auf den fotografischen Bestand des Walter Heim-Nachlasses angewandt. Rund 19`333 Farb-Diapositive galt es in Einzelbildbetrachtungen im Hinblick auf eine ressourcen- und kostenaufwändige digitale Langzeitarchivierung zu sichten und anhand der Kriterien der Bewertungsmatrix zu beurteilen. Nach der Analyse von insgesamt 53 Dia-Dossiers fiel der Bewertungsentscheid auf eine Selektion von 22 Dossiers (41,5%), die als überlieferungswürdig bewertet wurden, und eine Kassation von 31 Dossiers (58,5 %).
Das Bewertungsverfahren setzte sich aus einem 4-stufigen Arbeitsprozess (Kap. 4) zusammen, wobei die Akquisition, die als erste Bewertungsphase hinzugezählt werden könnte5, bereits 2007 erfolgt war. Zur Dokumentation der Bewertungsentscheide wurde das Bewertungsverfahren 2020, im Unterschied zu einer früheren Bewertung 2013, mit einer Bewertungsmatrix durchgeführt und von einem Prozess der aktiven Überlieferungsbildung (1. Erfassung der Metadaten in der Archivierungssoftware, 2. Dokumentation des Bewertungsprozesses, 3. Digitalisierung) begleitet (Kap. 4).
Das mehrstufige Bewertungs- und Überlieferungsverfahren hatte zum Ziel, dass, trotz einer Reduktion des Bestands, das inhaltliche Themenspektrum des konsularisch-diplomatischen Beamten und sein fotografischer Blick als Amateurfotograf auf Kolumbien, Costa Rica, Uruguay, Bangladesch und Spanien zwischen 1959 und 1980 als eine Wissensgenese über das Geschichtsbild der Schweizer Diplomatie im (post-)kolonialen Kontext und während des Kalten Kriegs für zukünftige Forschungsfragen längerfristig erhalten bleiben.
Die Bewertungsmatrix enthält Fragen zum Primärwert, z.B. Ist es ein Werk mit künstlerischem Anspruch?, fokussiert aber im Wesentlichen auf den Informationswert. Dieser Ansatz, in Referenz auf Leary, Charbonneau und Metz, ist diskutabel und soll in einem kritischen Vergleich mit den Bewertungsempfehlungen von Mathys und Memoriav reflektiert werden (Kap. 5).
Das Erkenntnisinteresse des analytischen Vergleichs ist methodisch begründet. Der Zweck dieses Vorgehens ist es, die Wechselwirkung zwischen Bewertung, Bestandstyp und Sammlungspolitik hervorzuheben, welche massgeblich den Prozess und die Strategie eines Bewertungsverfahrens prägen.6
Der aus der vorliegenden Untersuchung resultierende Erkenntnisgewinn ist nicht nur für zukünftige Bewertungsprojekte innerhalb der Schweizer Archivlandschaft nützlich. Letztlich soll die vergleichende Perspektive einen transparenter geführten Bewertungsdiskurs und Erfahrungsaustausch zwischen allen Gedächtnisinstitutionen anregen.
Der fotografische Bestand des Walter Heim-Nachlasses ist akquisitionspolitisch dem Fachreferat Politische Zeitgeschichte mit seinem Themenschwerpunkt auf die «Aussenpolitik (bilaterale Beziehungen, Diplomatie, ‹Gute Dienste›, internationale Organisationen)»7 zuzuordnen.
Bereits 1988 übergab Heim eine Kopie seines mehrbändigen Manuskripts «Die Welt ist meine Heimat», das Tagebucheinträge seit 1931, Briefausschnitte und retrospektive Memoirenaufzeichnungen enthält, an das AfZ.8 1988 und 2005 folgte die Akquisition mehrerer Verzeichnisse, die u.a. «Dialisten» enthielten. Der fotografische Bestand wurde 2007, nach dem Tod Heims, als Schenkung von der Erbengemeinschaft ans AfZ übergeben, die eine rechtliche Kassationsverfügung miteinschloss.9 Der Nachlass umfasst fünf Teilbestände: 1. Tagebuch, 2. Diapositive, 3. Fotoalben, 4. Filme und 5. Verzeichnisse. 2013 fand eine Bewertung des Diapositiv-Bestands aufgrund der Metadatierungen statt. Die Bewertungsempfehlung schlug eine Kassation von 34 Dia-Dossiers vor. Im Rahmen der digitalen Langzeitarchivierungsstrategie des AfZ stand die Autorin 2020 vor der Aufgabe, die Überlieferungslücke mit Hilfe der Bewertungsmatrix zu schliessen. Es stellte sich die Frage: Welche Dia-Dossiers sind überlieferungswürdig?
Standardisierte Kriterien, welche den Prozess der Bewertung, Selektion und Kassation fotografischer Bestände verbindlich reglementieren, existieren bislang keine. Bis heute werden fotografische Bewertungskriterien in Gesamtdarstellungen nur am Rande erwähnt.10 Im Vergleich zum internationalen Bewertungsdiskurs hat eine archivwissenschaftliche Debatte über die Bewertungspraxis von Bildquellen in der Schweiz in den letzten Jahren zwar zugenommen, ist jedoch noch immer nicht breit institutionalisiert.11 Hinweise, Empfehlungen und Bewertungsbeispiele von in- und ausländischen Institutionen werden vermehrt auf Online-Plattformen aufgeschaltet und stellen verschiedene Vorgehensweisen im Umgang mit dem Kultur- und Forschungsgut zur Diskussion.12
Ein Meilenstein hinsichtlich eines gesetzlichen Schutzerlasses für Fotografien markierte die Änderung BB1 2017 des Schweizer Urheberrechtsgesetzes (URG).13 Diese Gesetzesrevision in Art. 2 Abs. 3bis vom 27. September 2019 ist seit dem 1. April 2020 in Kraft. Die Gesetzesänderung hat zur Folge, dass seither jede Fotografie rechtlich ein «Werk» darstellt und somit als Teilbestand eines Nachlasses in erster Instanz als schützenswert gilt. Die Gesetzesrevision macht die Forderung nach einem archivwissenschaftlich methodischen Bewertungsverfahren fotografischer Bestände virulent.
In der Bewertungspraxis stellt sich die handlungsrelevante Frage nach der Überlieferungswürdigkeit, die in den letzten Jahren verstärkt an Tagungen zwischen Archivar*innen, Bibliothekar*innen und Historiker*innen diskutiert wird.14
Jonas Arnold, Leiter IT und Digitales Archiv des AfZ, hat in Zusammenarbeit mit Stefan Länzlinger, Leiter des Schweizerischen Sozialarchivs, seit 2010 die Bewertungsmatrix für audiovisuelle Quellen entwickelt.
Kriterium | Frage | Punkte | |
---|---|---|---|
Ausrichtung des Archivs | Die audiovisuelle Quelle(nsammlung) passt in die Ausrichtung des Archivs, sowohl | ||
thematisch | Ja / Nein | ||
zeitlich | Ja / Nein | ||
geographisch | Ja / Nein | ||
hinsichtlich Medientyp | Ja / Nein | ||
Historiographischer / thematischer Wert | Die audiovisuelle Quelle(nsammlung) ist von allgemeinem Wert für Fragestellungen der Geschichtsschreibung aller Art. | ||
0-2 Punkte | |||
Symbolischer und / oder dokumentarischer Wert | Die audiovisuelle Quelle(nsammlung) | ||
dokumentiert ein Ereignis (1 Punkt) | |||
dokumentiert / porträtiert eine Person (1 Punkt) | |||
dokumentiert / porträtiert eine Institution (1 Punkt) | |||
dokumentiert einen Ort (1 Punkt) | |||
Repräsentativität | Die audiovisuelle Quelle(nsammlung) bildet ein kohärentes Ganzes, die für eine bestimmte Verwertung bzw. ein bestimmtes Thema repräsentativ ist (0-2 Punkte) | ||
Einzigartigkeit, Seltenheit, Beispielhaftigkeit | Die audiovisuelle Quelle ist | ||
ein Unikat im Sinne eines Exemplars (5 Punkte) oder ist wahrscheinlich nirgendwo anders archiviert (0-3 Punkte) | |||
ein Unikat in Bezug auf den dokumentierten Inhalt (0-3 Punkte) | |||
auf einem Träger mit Seltenheitswert aufgezeichnet (1 Punkt) | |||
Ästhetischer Wert | Die audiovisuelle Quelle(nsammlung) zeugt/zeugen von einem besonderen Können des/der Produzenten, einer besonderen Qualität oder Originalität der Gestaltung bzw. des Aufzeichnungsverfahrens (1 Punkt) | ||
Es handelt sich um Werk(e) mit künstlerischem Anspruch. (1 Punkt) | |||
Technische Qualität | Die audiovisuelle Quelle ist hinsichtlich technischer Realisierung gelungen (1 Punkt) | ||
Erhaltungszustand | Die audiovisuelle(n) Quelle(n) ist / sind (noch) in einem guten Zustand (1 Punkt) | ||
Die Abspielumgebung ist (für die Konsultation / Digitalisierung) vorhanden (1 Punkt) | |||
Metadatierbarkeit | Der Inhalt und der Entstehungszusammenhang sind aus der audiovisuellen Quelle(nsammlung) selbst eruierbar oder über verlässliche Beschriftungen, Legenden oder Begleitmaterialien erschliessbar (0-4 Punkte) | ||
Total | Mögliche Punkte: 26 | ||
13 Punkte müssten erreicht werden |
Tabelle 1: Bewertungsmatrix für audiovisuelle Quellen (AfZ)
Im Rahmen archivwissenschaftlicher Lehraufträge und im Austausch mit Fachkolleg*innen an Tagungen und Workshops wurden die Bewertungskriterien stetig ausgebaut. Die theoretisch-methodische Grundlage der Bewertungsmatrix entwickelten Arnold und Länzlinger in Referenz auf Learys Bewertungskatalog und erweiterten diesen, unter Berücksichtigung der Memoriav-Empfehlungen, um die Aspekte der Akquisitionspolitik, Forschungsrelevanz, Benutzer*innenbedürfnisse, Kontextinformationen und Absenz von Restriktionen bei Charbonnau.15
Ein Bewertungsmodell kann die Entscheidungsfindung hinsichtlich Selektion und Kassation erleichtern, indem es «eine systematische Steuerung der Überlieferungsbildung (Übernahmestrategie)» erlaubt und dadurch Vergleichbarkeit und Transparenz erzeugt.16 Nicht zuletzt erhöht der Einsatz gezielter Bewertungskriterien die Möglichkeit, dass ein qualitativ befriedigendes Verfahren effizient durchgeführt werden kann und der Bestand konservatorisch gesichert ist. Das Bewertungsverfahren und deren Kriterien sollten im Abgleich mit dem Forschungsstand laufend aktualisiert und, je nach medialer Beschaffenheit eines Bestands, angepasst werden.17
Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf die AfZ-Bewertungsmatrix. Die Autorin führte das Bewertungsverfahren auf der Grundlage deutscher, französischer und englischsprachiger Fachliteratur, grauer Literatur (Gesetze, Webseiten), Kursunterlagen des MAS ALIS 2018-2020 und Gesprächen mit dem Leiter Digitales Archiv durch. Im Unterschied zu Mathys konnte die erste Stufe der Akquisition, die bereits 2007 stattgefunden hatte, nur retrospektiv beurteilt werden. Die Bewertung wurde als Teilaspekt der aktiven Überlieferungsbildung begriffen. Aus diesem Grund wurde das Bewertungsverfahren um eine fünfte Arbeitsstufe der Überlieferungsbildung, welche die Bewertung begleitete, ergänzt:
Übersicht und Sicherung: Sichtungsbeobachtungen und konservatorische Massnahmen
Systematik und Ordnung: Inhaltliche Schwerpunkte des fotografischen Bestands
Analyse und Bewertung: Anwendung der Bewertungsmatrix und Quellenkritik
Selektion und Kassation: Bewertungsentscheide
Überlieferungsbildung: Erfassung, Dokumentation, Digitalisierung
Die Bewertungsmatrix umfasst 9 Kriterien und kann, je nach Kriterium, mit 0-5 Punkten bewertet werden. 26 Punkte können maximal vergeben werden, der Richtwert liegt bei 13 Punkten: 1. Ausrichtung des Archivs18, 2. Historiographischer Wert, 3. Symbolischer und/oder dokumentarischer Wert, 4. Repräsentativität, 5. Einzigartigkeit, Seltenheit, Beispielhaftigkeit, 6. Ästhetischer Wert, 7. Technische Qualität, 8. Erhaltungszustand, 9. Metadatierbarkeit.
«Bemerkungen» können unterhalb der Bewertungsskala festgehalten werden, welche aus der Analyse des archivalischen Quellenmaterials (Notizzettel, Register, Tagebuch, Fotoalbum, Film) hervorgehen und sowohl Aufschluss über den Informationswert (zu Personen, Orten, Ereignissen und Themen), den Evidenzwert (die Handlungsintention, den Zweck der Aufnahmen für den Fotografen) und den historischen Entstehungskontext geben, wodurch der Sekundärwert bestimmt werden kann.
Übersicht und Sicherung: Zunächst galt es, eine Übersicht über den Walter Heim-Nachlass zu gewinnen. Eine erste Kontextualisierung machte deutlich, dass es sich bei Heims Diabestand um private Aufnahmen 1. während seiner Tätigkeit im konsularisch-diplomatischen Dienst und 2. nach seiner Pensionierung 1980 handelte. Es zeigte sich, dass die Dia-Dossiers bei der Akquisition in metallischen Keksdosen übergeben worden waren, die im Innern ein Mikroklima erzeugt hatten. Um fototechnischen Schäden an den Farbdias vorzubeugen, wurden die Dia-Dossiers in säurefreie Archivschachteln umgepackt. Dabei wurde darauf geachtet, dass die vom Fotografen beschrifteten Register (z.B. «Uruguay») provenienzorientiert mitüberliefert und die Reihenfolge der Einzelbilder beibehalten wurde. Den meisten Keksdosen lagen handschriftliche Notizzettel bei, die Heim für seine Vortragsreihen in Diplomatenclubs verwendet hatte und die Aufschluss über den Evidenzwert geben. Diese Aufzeichnungen liefern darüber hinaus sowohl Auskunft über abgebildete Personen, Orte und Institutionen als auch über Reisedaten und Ereignisse, die einen Informationswert besitzen und eine historische Kontextualisierung des Entstehungszusammenhangs für Forschungsfragen (Sekundärwert) erlauben. In diesem ersten Arbeitsschritt wurde bereits deutlich, dass Heims Aufnahmen aus dem Entstehungszeitraum zwischen 1959 und 1980 eine forschungsrelevante Bedeutung für die Geschichte der Schweizer Diplomatie während des Kalten Kriegs haben könnten. Diese These galt es im Laufe des Bewertungsverfahrens kritisch zu prüfen.
Systematik und Ordnung: In einem zweiten Schritt wurde die Systematik und Ordnung des fotografischen Bestands rekonstruiert. Dafür wurden inhaltliche Schwerpunkte des fotografischen Bestands festgehalten, die sich provenienzorientiert und quellenanalytisch aus dem Ordnungssystem des Fotografen, dessen Register, Notizzettel, Dia-Listen und Verzeichnissen herausarbeiten liessen. Es zeigte sich, dass Heim ein akribisches Ordnungssystem entwickelt hatte, welches die Identifizierung der inhaltlichen Schwerpunkte erleichterte. 2006 wurden die Dossiers provienzorientiert in acht Teilbestände gegliedert, welche das inhaltliche Ordnungssystem des Fotografen widerspiegeln: 1. Themen, 2. Schweiz, 3. Europa, 4. Afrika, 5. Amerika (Nordamerika, Zentralamerika, Südamerika), 6. Asien, 7. Australien, 8. Diverse.19
Die fotohistorische Analyse des Bildmaterials ergab, dass Heims fotografischer Bestand von wiederkehrenden Bildmotiven und thematischen Schwerpunkten gekennzeichnet ist: 1. Diplomatenkreise (Anlässe, Nationalfeiern, Kulturveranstaltungen, Inspektionen, Ausflüge mit Diplomatenclubs), 2. Städte/Orte (beruflich im konsularisch-diplomatischen Dienst oder als Privatperson auf Reisen), 3. Kulturveranstaltungen (vornehmlich folkloristische Anlässe mit Tanzenden und Musizierenden in Trachten), 4. Architektur (religiöse Bauwerke: Kirchen, Tempel, Moscheen, Synagogen; Theaterhäuser, Bauernhäuser, touristische Sehenswürdigkeiten, Denkmäler), 5. Infrastruktur (modern/traditionell: Häfen, Brücken, Flughäfen, Eisenbahnen, Strassenbahnen, Seilbahnen, Eselfuhrwerke, Wasserräder), 6. Institutionen (Botschaften, Residenzen, Missionsstationen, Schulen, Schweizer «Siedlungskolonien», Diplomatenclubs, Hilfswerke ( «SOS-Kinderdorf», «Food for Work»), 7. Stadt- und Strassenansichten (Märkte, Zoos, Gärten, Parks, Stassenzüge, Strände), 8. Fauna und Flora (Gletscher z.B. «Feuerland», Wasserfälle, Bergzüge, Landschaften, Blumen, Tiere, Pflanzen), 9. Porträts und Gruppenaufnahmen von anonymen Personen (Einheimischen, Passant*innen), 10. Porträts und Gruppenaufnahmen von Persönlichkeiten aus dem beruflichen und privaten Umfeld (diplomatische Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Kultur und dem Familien- und Freundeskreis).
Serielle Bildmotive aus dem fotoästhetischen Genre der privaten Dokumentar- und Reisefotografie finden sich im beruflichen Umfeld (z.B. Räumlichkeiten der Botschaft, Diplomaten-Clubs, Privatresidenzen, Empfänge und Cocktailparties), auf konsularisch-diplomatischen Expeditionen zu Missionsstationen, Schweizer «Siedlungskolonien», staatlichen, karitativen und nicht-staatlichen Hilfsorganisationen («Food for Work», «SOS-Kinderdorf») sowie zu den von der Schweiz finanzierten Infrastrukturprojekten. Darüber hinaus hielt Heim die soziale Ungleichheit von durch Hunger, Armut und Flucht gezeichnete Bevölkerungskreisen, beispielsweise in Bangladesch 1974, fotografisch fest. Im privaten Umfeld entstanden serielle Bildmotive von Wasserrädern, Schaufensterpuppen, Passant*innen in Strassenszenen, Badenden am Strand, alten Bauernhäusern, Kirchen, Hafenanlagen, Schiffen und Kulturveranstaltungen.
Analyse und Bewertung: Die Bewertung vollzog sich auf der Grundlage der Bewertungskriterien. Nach jeder Einzelansicht der Diabilder wurde ein summarischer Wert (1-26) pro Dossier festgehalten. Ergänzend wurden unter «Bemerkungen» die Rechercheresultate der fotohistorischen Analyse zum Entstehungskontext der Dossiers, die Metadaten zur Überlieferungsbildung und die Verweise auf weiterführende Materialien, die im Nachlass recherchiert wurden, notiert. Des Weiteren wurde nach Bilddubletten Ausschau gehalten, die eine Kassation begründet hätten. Zudem wurden thematische Inhalte sondiert, die sich entlang zeitlicher und geografischer Achsen in Heims fotografischem Motivrepertoire wiederholten. All diese Kriterien lieferten gemeinsam Hinweise zum Evidenz- und Informationswert und dienten dazu, den Sekundärwert zu bestimmen.
Nach jedem Analysedurchgang wurde eine vorläufige Bewertungsempfehlung pro Dossier abgegeben. Diese gab eine erste richtungsweisende Tendenz an. Sie diente während des Bewertungsprozesses dazu, den Abgleich mit weiteren Dossiers zu erleichtern und in einem zweiten oder dritten Bewertungsdurchgang retrospektive Anpassungen und Korrekturen vorzunehmen. Die vorläufigen Bewertungsempfehlungen erlaubten es, den Entscheidungsfindungsprozess für Dritte systematisch zu dokumentieren und nachvollziehbar zu machen.
Das Vorgehen sah eine Quellenanalyse des im Nachlass vorhandenen schriftlichen und visuellen Quellenmaterials (Notizzettel, Registraturen wie Diaverzeichnisse, Tagebuch, Filme, Fotoalben u.a.) vor. Diese wurde um die Bewertung der Fotoalben und ein Verweissystem der Filmaufzeichnungen ergänzt. Die Digitalisierung des dreibändigen Tagebuchs stellte sich als zeitsparende Arbeitshilfe heraus. Dank einer relativ zuverlässigen OCR-Erkennung konnte gezielt nach Tagebucheinträgen gesucht werden, die Aufschluss über den Entstehungskontext einer Aufnahme und Hinweise auf weiterführendes Quellenmaterial geben konnten. Das exemplarische Verzeichnis des Tagebucheintrags vom Januar/Februar 1973 (s. Tabelle 2) zeigt das archivalische Verweissystem auf, welches aus der vergleichenden Quellenanalyse entwickelte wurde. Das Quellenstudium bildete folglich eine methodisch richtungsweisende Grundlage für den Bewertungsentscheid.
S | Dateiname | Unterkapitel | Hauptkapitel | EZ | D | FA | F | B |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
103 | NL-Walter-Heim_00000103_025 | »Militärputsch liess nicht auf sich warten» | [Montevideo, Uruguay] | 15.1.- 21.2. 1973 | 38 | 63, 64, 66-69 | - | [10.2.1973: Militärputsch; Beginn der politischen Krise bis Staatsstreich am 27.6. AZ, B] |
Tabelle 2: Verzeichnis des Tagebuchs mit Verweisen (Ausschnitt) (2020). Legende: S: Signatur, FA: Fotoalbum, EZ: Entstehungszeitraum, F: Film, D: Dia-Dossierschachtel, B: Bemerkungen
Selektion und Kassation: Die Autorin sah die Kassation all jener Dia-Dossiers vor, die nach 1980 entstanden waren. Begründet wurde der Bewertungsentscheid aufgrund von Heims Berufstätigkeit bis zu diesem Zeitpunkt. Bei den kassierbaren Dossiers handelte es sich um private Reiseaufnahmen, die bereits einen geringen Primärwert aufwiesen, jedoch aufgrund Heims akribischem Ordnungssystem einen hohen Informationswert besassen, aber voraussichtlich keinen zukünftigen Sekundärwert aufweisen würden. Die übrigen Dia-Dossiers waren nach Anwendung der Bewertungsmatrix und der Quellenanalyse nicht nur kontextualisierbar, sondern auch für Dritte interpretierbar.
Zum Sekundärwert: Zwei historische Ereignisse spielten sich vor dem Hintergrund Heims fotografischer Dokumentation ab: 1. Der Militärputsch 1972 in Uruguay und 2. der Militärputsch 1975 in Bangladesch. Mit Blick auf (post-)kolonial-, wirtschafts-, und politikhistorische Forschungsfragen kann der fotografische Bestand im Rahmen einer Global oder Entangled History zur Schweizer Wirtschaftsgeschichte im (post-)kolonialen Kontext (1940-1980)20 oder für eine transnationale Geschichtsschreibung über die Schweizer Diplomatie während des Kalten Kriegs untersucht werden. Der Bewertungsbeschluss sah vor, dass alle Dia-Dossiers, die von der Autorin als kassierbar bewertet worden waren, vom restlichen Bestand getrennt und für eine spätere Kassation vorbereitet wurden.
Erfassung, Dokumentation, Digitalisierung: Das Bewertungsverfahren wurde von der Erfassung der Metadaten in der Archivierungssoftware CMI AIS und der Verfassung einer Dokumentation in Form der MAS-ALIS-Masterarbeit begleitet. Die Digitalisierung des fotografischen Bestands zur digitalen Langzeitarchivierung und Vermittlung bildete den Abschluss der Überlieferungsbildung und erfolgte ab August 2020.
Der vierstufige Bewertungsprozess hat sich bewährt. Am Ende lag dem AfZ eine transparente Bewertungsempfehlung vor, die eine ressourcengerechte digitale Langzeitarchivierung des fotografischen Bestands rechtfertigte und überlieferungswürdige Redundanzen ausschloss. Der analytische Vergleich mit dem im Nachlass vorhandenen Quellenmaterial war für die selektive Bewertung des Sekundärwerts und Kassationsentscheids entscheidend. Dieses Vorgehen ermöglichte die wissenschaftlich systematische Ausarbeitung der Bewertungsempfehlung und die Vermeidung von redundanten Mehrfachüberlieferungen.
Ein Bewertungsentscheid kann trotz eines methodisch-analytischen Bewertungsverfahrens nicht zweifelsfrei gefällt werden. Ausschlaggebend waren die Bewertungskriterien, die im Sinne einer diskursiven Bewertungsstrategie eines verantwortungsvollen Abwägungsprozesses dazu dienten, die Bewertungsempfehlung mit den Archivleitern einerseits im Abgleich mit der Akquisitionspolitik, den Nutzungsinteressen und zukünftigen Forschungsfragen und anderseits in einem transparenten Wissensaustauch innerhalb und ausserhalb der eigenen Institution, festzulegen.
Eine methodische Erkenntnis war, dass sich nicht allein aus den Dia-Aufnahmen als provenienzorientierter Instanz die aussagekräftigen Informationen gewinnen liessen. Der Sekundärwert liess sich erst in der quellenkritischen Vergleichsanalyse von audiovisuellen und schriftlichen Archivmaterialien aus dem Evidenz- und Informationswert heraus erschliessen. Das interdisziplinäre Vorgehen ermöglichte es, ein umfassendes «Bild» des historischen Entstehungskontexts zu rekonstruieren. Aus diesem Grund war das alleinige Vorhandensein von Dia-Dossiers zu einem bestimmten Thema (z.B. dem Informationswert: die diplomatische Gesellschaft in Uruguay 1972) nicht das ausschlaggebende Bewertungskriterium. Entgegen dem Verdichtungsprinzip wurden bewusst, im Sinne des Sekundärzwecks, inhaltliche Doppelüberlieferungen in Fotoalben und Filmen als überlieferungswürdig bewertet. Der Vergleich mit der Bewertung von 2013, die ohne eine Bewertungsmatrix stattgefunden hatte und der keine quellenkritische Analyse voraus gegangen war, zeigt, dass fünf Dossiers aus dem Zeitraum 1968 und 1975 kassiert worden wären. Die Bewertung 2020 erachtete diese Dossiers aufgrund der Bewertungskriterien, der Quellenanalyse, und im Abgleich mit der Akquisitionspolitik, dem Sammlungsprofil, der Benutzer*innenanfragen und den internationalen Forschungstrends jedoch als überlieferungswürdig. Umgekehrt wären in der Bewertung von 2013 drei Dossiers aus der Pensionszeit (nach 1980) überliefert worden, die nach der Bewertung von 2020 kassiert wurden.
Die «dokumentarische Bedeutung»21 bei Mathys entspricht, im Vergleich mit der AfZ-Bewertungsmatrix, in etwa dem Kriterium des symbolischen und/oder dokumentarischen Werts. Der Vergleich zeigt, dass bei Mathys die dokumentarische Bedeutung aus der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz zu beantworten versucht wird.22 Das Kriterium suggeriert in gewisser Weise eine objektive Bewertungsinstanz. Die herausfordernde Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz qua dokumentarischem Bewertungsentscheid stellt eine Kernfrage jeder Bewertung dar. In der AfZ-Bewertungsmatrix wird sie im Zusammenspiel mehrerer Kriterien zu beantworten versucht. Mit dem Kriterium des historiographischen Werts wird beabsichtigt, die gesellschaftliche Relevanz, im Sinne Mathys, zu evaluieren, indem der Anwendungsnutzen für zukünftige Themenfelder und Forschungsfragen ausgelotet wird. Im Unterschied dazu fokussiert das Kriterium des dokumentarischen Werts in der AfZ-Bewertungsmatrix auf die Frage nach dem Informationswert und vernachlässigt den Evidenzwert, dem Mathys eine zentrale Bedeutung zuspricht, wie weiter unten noch gezeigt wird.
Kriterien einer zeitlichen Achse («historische Epoche» und «Zeitspanne»)23 fehlen als inhaltliche Kategorie in der AfZ-Bewertungsmatrix. Ein Grund dafür mag ein methodischer Standpunkt der Geschichtswissenschaft sein, der das Entstehen von Forschungstrends als eine wechselseitige Reaktion auf gesellschaftspolitische Konjunkturen begreift, wie das aktuelle Beispiel der Pandemieforschung belegt. Ein zeitliches Kriterium ist hingegen in der Bewertungsmatrix auf der Ebene der Akquisitionspolitik von Bedeutung. Neben thematischen, geographischen und medientypischen Kriterien zählt es zu den «Killerkriterien» (Kap. 4.3).
Ein entscheidender Unterschied zwischen Mathys und dem AfZ ist der Verzicht der AfZ-Bewertungsmatrix auf fotospezifische Kriterien. Es wird davon ausgegangen, dass audiovisuelle Quellen mit neun identischen Kriterien bewertet werden können, ohne foto-, oder filmhistorische Eigenheiten besonders hervorzuheben. Es stellt sich folglich die Frage, ob es medienspezifische Kriterien bräuchte, die, neben dem Informationswert, den Evidenzwert expliziter berücksichtigen müssten?
Mathys ist der Ansicht, dass «die Bedeutung, die ein Bestand für den Aktenbildner selber hatte, für eine Bewertung aus archivischer Sicht neben der ‹Dichte der Kontextinformationen›, der ‹dokumentarischen Bedeutung› und der ‹fotohistorischen Bedeutung› ein zentrales Kriterium» sei.24 «Nur unter Berücksichtigung der einstigen Absichten des Aktenbildners lässt sich der Bestand im Nachhinein in seiner Bedeutung für das Unternehmen bewerten.»25 Bei Mathys finden wir aus diesem Grund das Kriterium der «fotohistorischen Bedeutung». Dieses fragt nach der Technik, den Themen, der Epoche, der Intention der Beteiligten, dem Umfang, der Arbeitsweise und der Autor*in.26 Das Technik-Kriterium richtet ein besonderes Augenmerk auf die «erstmalige Abbildung/Erscheinung einer Technik».27 Das Themen-Kriterium rückt wiederum die «erstmalige Visualisierung eines Themas» in den Fokus.28 Die Bewertungsfragen nach der zeitlichen Erstmaligkeit und thematischen Einzigartigkeit sind für das Kriterium der «fotohistorischen Bedeutung» zentral.
Wie werden diese wichtigen Bewertungsfragen im AfZ berücksichtigt? Sowohl bei Filmquellen als auch bei fotografischen Erzeugnissen können mit den Kriterien der Einzigartigkeit, Seltenheit und Beispielhaftigkeit die film- oder fotohistorische Bedeutung abgefragt werden. Im Unterschied zu Mathys legt die AfZ-Bewertungsmatrix den Fokus auf den Informationswert, d.h. auf die dokumentarische Bedeutung, und setzt deren Gewichtung höher an als den des Evidenzwerts. Diese unterschiedliche Gewichtung in der Bewertung ist eine sammlungsstrategische Entscheidung, die schliesslich eng mit der Akquisitionspolitik und dem Sammlungsprofil einer Institution zusammenhängt. Damit einher geht die Ausrichtung der Sammlungstätigkeit auf mehrere Medientypen oder als Spezialsammlung auf einen bestimmten Medienträger.29
Im Fall des fotografischen Bestands des Amateurfotografen Heim war für den Bewertungsentscheid ausschlaggebend, dass die Kriterien der dokumentarischen Erstmaligkeit und Einzigartigkeit stärker gewichtet wurden als die des Evidenzwerts. Andernfalls hätte der Bewertungsentscheid womöglich anders ausfallen können. Ein Beispiel: Heims private Aufnahmen in Uruguay um 1972, die dem Genre einer reportageartigen Dokumentarfotografie zugeordnet werden können, wurden aufgrund des Kriteriums der Einzigartigkeit als «Unikat in Bezug auf den dokumentarischen Inhalt» für überlieferungswürdig erachtet.30 Heims Reiseaufnahmen, wie sie bereits in x-facher Ausführung in der visuellen Gedächtniskultur der Schweiz eingegangen sind, wurden hingegen aufgrund ihres relativ geringen Evidenzwerts und ihrer fotohistorischen Redundanz («altbekanntes Fotothema»31) kassiert, obschon gewisse Fotografien vor 1980 entstanden sind.
Der Vergleich zeigt, dass audiovisuelle Quellen mit neun Kriterien ausreichend bewertet werden können, solange medientechnische Spezifika zur technischen Qualität32 in einem Technik-Kriterium abgefragt werden und der Evidenzwert nachrangig gewichtet wird. Wie die Gewichtung der Bewertungskriterien vollzogen wird, ist jeder Institution selber überlassen. Der Vergleich veranschaulicht, dass die Priorisierung hinsichtlich Evidenz- und Informationswert bereits für die erste Phase der Akquisition als prospektive Bewertung handlungsrelevante Konsequenzen hat und den späteren Bewertungsverlauf sowohl auf Bestandsebene als auch auf Dossier-/Einzelbildebene beeinflusst.
Mathys führt die zusätzliche Kategorie der «Emotion» als Kriterium der «persönliche[n] Vorliebe» an.33 Als ein emotionshistorisches Bewertungskriterium wäre dieses allenfalls erkenntnisreich, um den Verwendungszweck einer fotografischen Quelle, beispielsweise als Illustration in einem Geschichtsbuch, entgegen ihres ursprünglich Primärzwecks, zu analysieren. Damit würde ein neuer Aspekt des Sekundärzwecks zur Vermittlung und Forschungsrelevanz beleuchtet, welcher die fotografische Wirkungsästhetik auf Dritte miteinbeziehen würde.
Ein weiterer Unterschied lässt sich im Kriterium des ökonomischen Werts festmachen. Dieser lasse sich, laut Mathys, aus dem Kriterium des «Objekts» (Vintage-Print, signiert oder neuer Massenabzug mit Schäden) und der «Nachfrage» erschliessen.34 Dieses Kriterium ist im Fall des Ringier-Bildarchivs virulent. Im Rückgriff auf Pfeiffers Kritik an «ökonomischen Strategien»35 sollte dennoch in Betracht gezogen werden, dass gewisse Institutionen jahrelang keine Nutzungsanfragen für einen bestimmten Bestand erhalten. Ausgelöst durch eine gesellschaftspolitische Sensibilisierung, wie im Fall der Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen bei «Verdingkindern», kann eine Nachfrage seitens der Öffentlichkeit entstehen. Ein unmittelbarer ökonomischer Wert sollte gegenüber dem Sekundärwert folglich, falls möglich, eher nicht priorisiert werden. Ein Beispiel eines längerfristigen ökonomischen Nutzens stellen Digitale Archive dar, die ihre Sammlung über eine linked-data-based Plattform vernetzen. Dieses proaktive Vorgehen erhöht die Chance, dass ein ‹verborgener› Bestand Aufmerksamkeit erhält und Vermittlungsprojekte im Sinne der Digital Humanities mit verschiedenen internationalen Partnerinstitutionen entstehen können.36 In diesem Zusammenhang sieht die AfZ-Bewertungsmatrix urheberrechtliche Fragen nicht als ein generisches Bewertungskriterium an, da diese langfristig erlöschen werden. In einer Sammlungspolitik kann jedoch festgehalten werden, dass auf eine Akquisition urheberrechtlich geschützter Fotografien verzichtet wird.
Der Vergleich legt offen, dass sich die Verfasser*innen der Bewertungskataloge einerseits auf einen kleinen gemeinsamen Kanon zur Bewertung fotografischer Bestände beziehen, andererseits dennoch institutionenabhängige Unterschiede bestehen. Der Vergleich mündet in der Erkenntnis, dass eine Priorisierung des Evidenz- oder des Informationswerts eine unmittelbare Auswirkung auf die Akquisitionspolitik einer Institution haben kann – und umgekehrt.
Mit Blick auf den Trend zu «ökonomischen» Bewertungsstrategien ist ein von Memoriav angeführtes Bewertungskriterium hervorzuheben, nämlich das des Vermittlungsprojekts. Es stellt die grundlegende Frage nach dem Sinn und Zweck einer Akquisition. Memoriav empfiehlt folglich vor einer Akquisition in Form einer prospektiven Bewertung zu prüfen: «Wird nur ein Teil des Bestands für ein Vermittlungsprojekt verwendet?»37 Wenn ja, sollte der Bestand womöglich einer geeigneteren Institution angeboten werden. Mit dieser Empfehlung lenkt Memoriav die Aufmerksamkeit auf die verantwortungsvolle Vermittlungsfunktion der Gedächtnisinstitutionen.
Angesichts der in den nächsten Jahren steigenden Zahl digitaler Bilddateien im Zuge der Digital Humanities scheint es umso wichtiger, institutionskritisch eine standardisierte Bewertungsstratgie zu entwickeln, welche einerseits das Sammlungprofil, die Nutzungsbedürfnisse und Forschungsrelevanz im Blick hat und andererseits spätestens in der retrospektiven Bewertungsphase eine ressourcengerechte fotohistorische Quellenanalyse durchführt, um den Bewertungsentscheid transparent und nachvollziehbar für Dritte zu dokumentieren. Die längerfristige Herausforderung besteht darin, dieses Verfahren als Selbstverständlichkeit in die zukünftige Archivpraxis zu integrieren, um den Erhalt und die Vermittlung des fotografischen Kulturguts in der Schweiz für die kommenden Generationen sicherzustellen.
Archiv für Zeitgeschichte: Walter Heim (1915-2006). Fotografischer Nachlass. Bestandssig-natur: BA Walter Heim, Findmittel zu den Beständen des Archivs für Zeitgeschichte, Zürich 2007.
Ders: Walter Heim (1915-2006). Kopienbestand Bestandssignatur: NL Walter Heim, Findmittel zu den Beständen des Archivs für Zeitgeschichte, Zürich 2006.
Arnold, Jonas; Länzlinger, Stefan: Bewertung und Selektion audiovisueller Dokumente, MAS-ALIS 2016-2018, Modul 2018: «Audiovisuelle Unterlagen archivieren. Theorie und Praxis», Bern 06.09.2018, Vortragsskript.
Charbonneau, Normand: The Selection of Photographs. In: Archivaria 59 (2005), S. 119–138.
Hollmann, Michael: Archivpraktiken. Bestandspolitik. In: Lepper, Michael; Raulff, Ulrich (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 199–206.
Kefer, Tamara: Überlieferungsbildung - Grundlagen, Ziele und Methoden. In: MiRKO, 1 (2016), S. 12–27.
Leary, William: The Archival Appraisal of Photographs. A RAMP Study with Guidelines, Paris 1985.
Leimgruber, Walter; Mathys, Nora; Schürpf, Markus u. a.: Das Fotoerbe sichern. In: Leimgruber, Walter; Mathys, Nora; Voellmin, Andrea (Hg.): Über den Wert der Fotografie. Zu wissenschaftlichen Kriterien für die Bewahrung von Fotosammlungen, Baden 2013, S. 150–155.
Mathys, Nora: Welche Fotografien sind erhaltenswert? Ein Diskussionsbeitrag zur Bewertung von Fotografennachlässen. In: Der Archivar 60 (2007), S. 34–40.
Dies.: Das visuelle Erbe. Ein Produkt des Zufalls und der Überlieferung? In: Dies.; Leimgruber, Walter; Voellmin, Andrea (Hg.): Über den Wert der Fotografie. Zu wissenschaftlichen Kriterien für die Bewahrung von Fotosammlungen, Baden 2013, S. 91–103.
Memoriav (Hg.): Foto. Die Erhaltung von Fotografien. Memoriav Empfehlungen 2017, Online-Publikation 2017.
Menne-Haritz, Angelika: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft, Marburg 2006.
Dies.: Archivische Bewertung: der Prozess der Umwidmung von geschlossenem Schriftgut zu auswertungsbereitem Archivgut. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte H. 4, 51 (2001), S. 448–460.
Metz, Alex: Nicht jedes Bild sagt mehr als tausend Worte - Überlegungen zur archivischen Bewertung von Fotobeständen. In: Rundbrief Fotografie H. 4, 14 (2007), S. 14–22.
Niklaus, Sibylle: Erhalt und Bewertung analoger Fotoarchive in Bibliotheken. Ein Diskussionsbeitrag am Beispiel des Walter-Rutishauser-Archivs in der Bibliothek am Guisanplatz, Online-Publikation 2015 (Bibliothek am Guisanplatz 64).
Pfeiffer, Michel: Wie können Bildbestände bewertet werden? Auswahl-, Erhaltungs- und Vermittlungsstrategien im Rahmen von Digitalisierungsprojekten. In: Zeithistorische Forschungen. Studies in contemporary history H. 2, 12 (2015), S. 317–325.
Pütz, Karl Heinz: (Urheber-)Rechtliche Probleme in öffentlich-rechtlichen Sammlungen und Archiven. In: Rundbrief Fotografie H. 9, 4 (2002), S. 37–40.
Schellenberg, Theodore R.: Modern archives. Principles and techniques, Chicago 1956.
Stiegler, Bernd: Fotografie zwischen Wegwerfobjekt und Kulturgut. In: Fotogeschichte H. 149, 38 (2018), S. 39–48.
Vilas, Cécile: Schnappschüsse für die Ewigkeit? Gedanken zum audiovisuellen Kulturgut der Schweiz. In: Knoch-Mund, Gaby; Reimer, Ulrich; Roth-Lochner, Barbara (Hg.): Informationswissenschaft: Theorie, Methode und Praxis. Arbeiten aus dem MAS ALIS 2016-2018, 2020, S. 10–20.
Zwicker, Josef: Erlaubnis zum Vernichten. Die Kehrseite des Archivierens. In: Arbido 7–8 (2004), S. 18–21.
Vgl. Mathys 2007, S. 34.↩︎
Vgl. Menne-Haritz 2006, S. 70, 90, 91, 97f.↩︎
Vgl. Schellenberg 1956, Leary 1985, Menne-Haritz 2001, Charbonneau 2005, Mathys 2007, Metz 2007, Niklaus 2015.↩︎
Biografische Angaben: Walter Heim (1915-2006), Kaufmann, Kanzlist, Konsul. Geb. in Neu-Arlesheim (BL); 1916 Umzug nach Bern; 1926-1931 Gymnasium; 1931 Beginn Tagebuchaufzeichnungen; 1932 Beginn kaufmännische Lehre in Bern; 1935-1936 Mitarbeiter bei «Mittelpresse» (SMP), Rekrutenschule und WKs, «Swiss Mercantile School» in London, dort Kontakt zu «Union Trade Company»; 1937-1945 Angestellter der UTC in Basel und ab 1940 in britischer Kolonie «Goldküste» (später: Ghana). 1946 Heirat mit Erika Heim und Eintritt in den konsularischen Dienst des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD), Konsul-Lehre beim EPD (EDA); 1946 Stagiaire im Schweizer Konsulat in Nancy; 1947-1949 Kanzlist in der Schweizer Gesandtschaft in Warschau und Konsularagentur in Danzig; 1947 Geburt Janina Heim in Polen; 1950-1952 Kanzlist (Registratur und Archive, Verwaltungsangelegenheiten) im Eidg. Politischen Departement in Bern; 1951 Geburt von Isabel Heim in der Schweiz; 1953-1955 Vertreter «Fremder Interessen» der USA und Kanzleichef in Schweizer Gesandtschaft in Sofia (Bulgarien); 1956-1962 Kanzleiadjunkt (Handelsangelegenheiten) in Schweizer Botschaft in Bogotá (Kolumbien) und 1958 temporär im Schweizer Generalkonsulat in La Paz (Bolivien); 1959 temporär in Schweizer Konsulat in Cali (Kolumbien); 1963-1965 Buchhalter im Eidg. Politischen Departement in Bern (Wohnsitz in Fribourg); 1965 temporär in Schweizer Botschaft in Moskau; 1966-1969 Geschäftsträger a.i. und Postenchef in Schweizer Botschaft in San José (Costa Rica) und Konsulat in Managua Nicaragua; 1970-1973 Botschaftssekretär u. l. dipl. Mitarbeiter und Konsul in Schweizer Botschaft in Montevideo (Uruguay); 1974-1976 Geschäftsträger a.i., Postenchef und Konsul in Schweizer Botschaft in Dhaka (Bangladesch); 1976-1980 Konsul in Schweizer Konsulat in Malaga (Spanien); ab 1980-2006 Pensionierung in Rohrbach (BE) und Verfassen des Memoiren-Manuskripts «Die Welt ist meine Heimat». Vgl. 91 Ordner «Lebensdaten, Reisen Ereignisse, Sonderbarheiten (Übersicht)», 92 Ordner «Lebenslauf, Sehenswertes», Verzeichnisse, NL Walter Heim, AfZ.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 94.↩︎
Vgl. Niklaus 2015, S. 31.↩︎
Vgl. https://www.afz.ethz.ch/ueber_uns/fachreferate/politische-zeitgeschichte, 26.6.2021.↩︎
Vgl. Archiv für Zeitgeschichte 2006, S. 1.↩︎
Vgl. Archiv für Zeitgeschichte 2007, S. 1.↩︎
Vgl. Memoriav 2017, 7, Hollmann 2016, S. 204.↩︎
Vgl. Pfeiffer 2015, S. 322, Memoriav 2017, S. 7.↩︎
Z.B. Empfehlungen des «Kompetenzzentrums Foto» von Memoriav,https://memoriav.ch/foto/kompetenznetzwerk-foto/, 10.6.2021.↩︎
Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 27.09.2019, in Kraft seit 01.04.2020 (AS 2020 1003; BBl 2018 591).↩︎
Vgl. u.a. Zwicker 2004, S. 19, Leimgruber u. a. 2013, Stiegler 2018, Vilas 2020.↩︎
Vgl. Arnold; Länzlinger, 2018, S. 35.↩︎
Vgl. Kefer 2016, S. 20f.↩︎
Vgl. Niklaus 2015, S. 29.↩︎
Passt die audiovisuelle Quelle(nsammlung) sowohl thematisch, zeitlich, geographisch und hinsichtlich des Medientyps in die Sammlungspolitik? Diese Frage kann mit «Ja» oder «Nein» beantwortet werden. Dabei handelt es sich um sogenannte «Killerkriterien». Ein «Nein» würde eine Vermittlung des Bestands an eine geeignetere Institution oder eine Kassation bedeuten.↩︎
Vgl. AfZ 2007, S. 1.↩︎
Das älteste Fotoalbum entstand zwischen 1940 und 1945, in einer Zeit, als Heim für die «Union Trade Company» in der britischen Kolonie «Goldküste» als Kaufmann arbeitete und buchhalterische Verwaltungsaufgaben übernahm.↩︎
Mathys 2013, S. 95, 99.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 99.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 100.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 96.↩︎
Vgl. ebd.↩︎
Vgl. ebd., S. 100.↩︎
Vgl. ebd.↩︎
Vgl. ebd.↩︎
Vgl. Vilas 2020, S. 10.↩︎
S. Tab. 1.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 100.↩︎
S. Tab. 1.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 100.↩︎
Vgl. Mathys 2013, S. 101.↩︎
Vgl. Pfeiffer 2015, S. 320.↩︎
Das AfZ verlinkt ihre Bestände im Rahmen ihrer Vermittlungsstrategie auf https://www.archives-online.org/Search, 26.6.2021.↩︎
Memoriav 2017, 54.↩︎