Zur Geschichte von Partikeln: russisch uzhe und uzh

Imke Mendoza (München)



0 Vorbemerkung

Im vorliegenden Beitrag soll der Bedeutungsentwicklung der russischen Lexeme uzhe und uzh nachgegangen werden.

In den Wörterbüchern der russischen Standardsprache wird die Bedeutung beider Lexeme als teilweise synonym bezeichnet. Uzhe ist ein Adverb mit der Bedeutung 'schon', uzh kann laut Wörterbüchern ebenfalls 'schon' heißen, hat aber darüber hinaus noch eine oder mehrere Bedeutungen als Modalpartikel und eine Bedeutung als Eröffnungspartikel.1 Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß uzh im modernen Russischen nur noch als Modalpartikel verwendet wird und die Bedeutung 'schon' allein von uzhe vertreten wird.2 Das Russische hat also die Bedeutung als Adverb und die Bedeutung(en) als Modalpartikel auf zwei verschiedene Lexeme aufgeteilt, wohingegen in anderen Sprachen beide Bedeutungen in einem Lexem vertreten sein können, vgl. dt. schon oder poln. juzh in Äußerungen wie Idzcie juz stad 'geht schon weg'.

Bevor ich die Entwicklung von uzh und uzhe bzw. seinen Vorgängern und den formal verwandten Lexemen anhand von Wörterbüchern und ausgewählten Texten darstelle, möchte ich die Situation im modernen Russischen ausführlicher darstellen.


1 Die Situation im heutigen Russischen

Das Lexem uzhe wird in den russischen normativen Wörterbüchern und Grammatiken meistens als Adverb bezeichnet, in der Partikelliteratur oft auch als logische Partikel. Seine Bedeutung entspricht ziemlich genau dt. schon, vgl. (1):

(1) Ivan prishel uzhe v desjat' chasov.
  Ivan kam schon um 10 Uhr.

Die Bedeutung von uzhe, wie sie in (1) vorliegt, kann durch folgende Explikation beschrieben werden3:

(2) uzhe (E, t)
  (a) ordnet ein Ereignis E einem Zeitpunkt t zu;
  (b) führt einen Bezugszeitpunkt4tref ein, der vor dem Ereigniszeitpunkt t liegt;
  (c) wobei der Abstand zwischen tref und t gering ist.

Die Beurteilung des Abstands zwischen tref und dem Ereigniszeitpunkt t wird hinsichtlich der Erwartung des Sprechers, einer bestimmten Norm und ähnlichen Vergleichsgrößen vorgenommen.

Wendet man die Explikation auf Beispiel (1) an, liest sich dies folgendermaßen: das Ereignis E ist die Ankunft von Ivan, der Ereigniszeitpunkt t ist 10 Uhr. Der Bezugszeitpunkt tref liegt vor t, der Abstand zwischen dem Bezugszeitpunkt ist kürzer als erwartet: der Sprecher hat einen längeren Abstand erwartet, hat mit der Ankunft Ivans also später gerechnet.

Für Beispiele wie (3), in denen uzhe markiert, daß ein Ereignis schon unerwartet weit fortgeschritten ist, muß man die Explikation wie in (2a) dargestellt ändern:

(3) Temperatura vody doshla uzhe do tridcati gradusov.
  Die Wassertemperatur hat schon 30 Grad C erreicht.
   
(2a) uzhea (E, t)
  (a) ordnet ein Ereignis E einem Zeitpunkt t zu;
  (b) führt einen Bezugszeitpunkt tref ein, der vor dem Ereigniszeitpunkt t liegt;
  (c) wobei sich E zum Zeitpunkt t in einem nach Ansicht des Sprechers fortgeschrittenen Stadium befindet.

Für Beispiel (3) heißt das, daß die Wassertemperatur zum Ereigniszeitpunkt schon wärmer oder kälter ist, als der Sprecher erwartet hat, als allgemein üblich ist usw.

Unter diese Variante fallen auch Beispiele wie (4), bei denen uzhe 'später als erwartet' zu implizieren scheint, wodurch seine Bedeutung in Gegensatz zu der in (1) geraten würde. Betrachtet man nun das Fortschreiten der Zeit als Ereignis E und sejchas 'jetzt', also den Sprechzeitpunkt als Zeitpunkt t, läßt sich auch (4) nach der Explikation (2a) erklären.5

(4) Sejchas uzhe desjat' chasov.
  Jetzt ist es schon 10 Uhr.

Diese für temporales uzhe geltenden Explikationen sind mutatis mutandis auch auf nicht-temporales uzhe anwendbar, wenn also ein Objekt in einer anderen als der räumlichen Dimension lokalisiert wird. So wird in Sätzen wie Straßburg liegt schon in Frankreich ein Ort räumlich fixiert.

Für die Modalpartikel uzh nehme ich ebenfalls eine Grundbedeutung an, von der die meisten anderen Bedeutungen bzw. Verwendungen abgeleitet werden können. Mit der Partikel markiert der Sprecher einen Sachverhalt oder ein Element als gültig und gleichzeitig einen anderen Sachverhalt oder ein anderes Element als nicht gültig (5):

(5) uzh
  (a) markiert einen Wert W als gültig;
  (b) wobei es einen Wert W' impliziert, der nicht gültig ist;
  (c) wobei W' implizit oder explizit im Vortext auftaucht oder erschlossen werden kann.

Die Modalpartikel uzh kann im Deutschen auf verschiedene Weise wiedergegeben werden, z.B. mit den Partikeln schon, gewiß, wohl (6), den Adverbien wirklich, tatsächlich, einer bestimmten syntaktischen Konstruktion und/oder Kontrastakzent (7)6:

(6) - A ne zabluditsja Tanja v lesu? - Uzh ne zabluditsja! Ne pervyj raz po griby xodit.
  - Wird sich Tanja nicht im Wald verirren? - Sie wird sich schon/gewiß nicht verirren! Sie geht ja nicht das erste Mal Pilze suchen.
   
(7) Uzh jumora u nego xvataet.
  Wenn sonst nichts, Humor hat er genug. ((6) und (7) aus Zybatow 1990)

Sowohl uzh als auch uzhe werden noch in bestimmten, mehr oder weniger festen Kombinationen verwendet, in denen ihre Bedeutung von den obigen Explikationen abweicht.

Dazu gehören die Verbindungen raz uzh(e), esliuzh(e) 'wenn schon, da ja', die als komplexe Konnektoren bezeichnet werden können. Sie leiten einen Nebensatz ein und präsentieren die darin zum Ausdruck gebrachte Proposition als präsupponiert wahr.

Uzh kann außerdem mit Intensifikatoren wie ochen' 'sehr', slishkom 'sehr' (ochen' uzh, uzh slishkom 'gar zu sehr, schon ziemlich') kombiniert werden.

In Verbindung mit der Negationspartikel ne und der Fragepartikel li wird uzh in Fragen verwendet, die eine bestimmte Sprecherhaltung hinsichtlich der zu erwartenden Antwort ausdrücken: der Sprecher hat ursprünglich damit gerechnet, daß der beschriebene Sachverhalt p nicht zutrifft, es sind aber kurz vor der Sprechzeit Umstände eingetreten, die ihn veranlassen, anzunehmen, daß p doch zutrifft. Vgl. (8), wo p durch die Proposition 'Ivan hat eine Wohnung bekommen' repräsentiert wird:

(8) U Ivana novyj nomer telefona. Uzh ne poluzhil li on nakonec kvartiru?
  Ivan hat eine neue Telefonnummer. Hat er etwa doch endlich eine eigene Wohnung bekommen? (aus Zybatow 1990)

Die Partikelkombination uzh ne ... li hat eine ganz ähnliche Bedeutung wie die Partikel neuzheli7, in der die Negationspartikel ne, die Fragepartikel li und das Adverb uzhe zu einer neuen Partikel univerbiert wurden:8

(9) Neuzheli ty ne pojdesh' vmeste so mnoj?
  Gehst du etwa nicht mit mir mit?

Vergleicht man nun die Bedeutungen von uzh und uzhe, stellt man fest, daß sie sich insofern ähnlich sind, als bei beiden Lexemen zwei Werte im Spiel sind, von denen der eine als gültig und der andere als nicht gültig markiert wird.

Der Unterschied zwischen ihnen besteht in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind bei uzhe die Werte auf einer Skala angeordnet, wobei die Anordnung durch uzhe angezeigt wird: uzhe legt fest, daß der erwartete Zeitpunkt dem tatsächlichen Ereigniszeitpunkt folgt (2) bzw. der erwartete Wert dem tatsächlichen logisch vorausgeht (2a). Bei uzh hingegen hängt die Anordnung der Werte nicht von der Partikel ab. Zum anderen muß bei uzh der "Gegenwert" W' explizit oder implizit aus dem Kontext hervorgehen bzw. aus ihm erschlossen werden können, bei uzhe spielt das jedoch keine Rolle.

Die Bedeutungen beider Partikeln können sich nun im Text unter bestimmten Umständen einander annähern. Dies ist dann der Fall, wenn die Werte W und W' Zeitpunkte sind oder auf einer Skala angeordnet sind und ihre Anordnung aus dem Kontext hervorgeht, m.a.W., wenn gleichzeitig die Bedingungen sowohl für uzhe als auch für uzh vom Kontext her schon vorgegeben sind. Dies ist der Fall bei den oben erwähnten Verbindungen von uzh mit Intensifikatoren (ochen' uzh, uzh slishkom) oder in Kontexten wie (10):

(10) - Kogda pridet Ivan? - On uzh davno prishel.
  - Wann kommt Ivan? - Er ist doch schon lange da.

Bei den komplexen Konnektoren raz/esli uzh(e) können uzh und uzhe ausgetauscht werden, ohne daß sich die Bedeutung des komplexen Konnektors ändert:9
(11) Raz uzh/uzhe my nachali govorit', to luchshe dogovorit' vse do konca.
  Da wir ja schon angefangen haben zu sprechen, bringen wir es besser zu Ende.

Der Zusammenhang dieser Konnektoren mit der Bedeutung 'schon' ist folgendermaßen zu erklären: wenn ein bestimmter Sachverhalt eingetreten ist, ist es sinnlos, ihn in Frage zu stellen oder darüber zu diskutieren, man muß ihn als gegeben hinnehmen.

An dieser Stelle muß auch noch die Partikel uzho erwähnt werden, die der sog. niederen Umgangssprache (prostorechie), also dem Substandard, angehört und die eigentlich lautgesetzliche Form von uzhe ist.10Uzho hat allerdings andere Bedeutungen als uzhe und uzh. Es heißt zum einen 'gleich, später', verweist also auf einen Zeitpunkt nach dem Sprechzeitpunkt. Zum anderen wird es als Illokutionsverstärker in Sprechakten verwendet, in denen eine für den Adressaten unangenehme Handlung angekündigt wird, wie z.B. in der Drohung in (12):

(12) Uzho pogodi, zadam ja tebe! (Chechov, Step'; zit. nach SSRLJa)
  Warte nur, ich werd's dir schon geben!

Im folgenden wird der Übersichtlichkeit halber ein Lexem mit der Bedeutung 'schon' als Adverb bezeichnet und ein Lexem mit der Bedeutung von russ. uzh, wie sie in (6), (7) und (10) vorliegt, als Modalpartikel und in Fällen wie (13) als Eröffnungspartikel:

(13) Uzh kak pal tuman na sine more. (Lied; zit. nach SRJa)
  Da fiel der Nebel auf das blaue Meer.

2 Die Entwicklung von uzh und uzhe

2.1 Etymologie

Die wahrscheinlichste Etymologie von uzhe und uzh, die ja eine gemeinsame Vorstufe haben, ist die Herleitung aus der Kombination der beiden urslav. Partikeln *ju (< ig. *You) und *zhe.11 In den ältesten Sprachdenkmälern kommt neben der zusammengesetzten Form auch die einfache Variante (j)u vor, vgl. aks. u, uzhe, ju, juzhe 'schon', u ne, ju ne, uzhene, juzhene 'nicht mehr', 'noch nicht', aruss. uzhe 'schon', russ.-ks. ju 'schon', ne ju 'nicht mehr'. Anschlüsse in anderen Slavinen findet man v.a. im Ost- und Westslavischen: ukr. uzhe/vzhe, poln. juzh, tschech. jizh (< juzh). Außerslavische Entsprechungen sind lit. jaû, lett. jàu, apr. iau, got. ju, ahd. ju, iu.

2.2 Wörterbücher

In den Wörterbüchern, die das Lexikon historischer Texte oder älterer Sprachstufen wiedergeben, ist unter den fraglichen Lemmata folgendes verzeichnet.

Das große Wörterbuch des Altkirchenslavischen12, das Lexicon linguae palaeoslovenicae (1958ff.), klassifiziert u, ju und uzhe, juzhe sowohl als Adverb als auch als Partikel. Für uzhe/juzhe werden auch Verbindungen mit Konjunktionen, nämlich kogda uzhe, ashte uzhe mit der Bedeutung "wenn schon", "sobald" angegeben.

Eine Form (j)uzh taucht nicht auf, wäre aber ursprünglich im Altkirchenslavischen gar nicht möglich gewesen, weil die Silbenstruktur des Altkirchenslavischen bzw. Gemeinslavischen eine offene Silbe verlangt.

Das Adverb uzhe/juzhe wird folgendermaßen übersetzt:

  1. "schon", in Verbindung mit der Negation ne "nicht mehr" und "noch nicht",
  2. "schon endlich",
  3. "fast, beinahe".
Für die Partikel wird angegeben:
  1. "schon, eben, gewiß, sogar",
  2. Funktion als
    1. Marker für das nächste Argument oder für Schlußfolgerungen in Argumentationen ("dann, also"),
    2. Marker in Frage- und Aufforderungssätzen ("denn", "nun (also)"),
  3. als Eröffnungspartikel "und so".

Die Bedeutungen 1. und 2.b. können im heutigen Russischen durch die Modalpartikel uzh wiedergegeben werden, die dritte Bedeutung liegt in der Eröffnungspartikel uzh vor, die, wie schon erwähnt, stilistisch deutlich markiert ist.

In Sreznevskijs (1893-1903) Materialien zu einem Wörterbuch des Altrussischen13 (materialy dlja slovarja drevnerusskago jazyka) werden ebenfalls nur (j)u und (j)uzhe aufgeführt. Als Bedeutung für (j)u wird 'jetzt', 'so', 'dann', für (j)uzhe 'schon', 'jetzt, gleich', 'und', 'dann, in diesem Fall' angegeben.

Lunts (1970) kurzgefaßtes Wörterbuch des Altrussischen erwähnt juzhe mit den Bedeutungen 'schon', 'dann', also den Bedeutungen des Adverbs und der Eröffnungspartikel.

Im Wörterbuch der russischen Akademie (Slovar' akademii rossijskoj 1806-1822) kommt als isoliertes Lexem ebenfalls nur uzhe vor, uzh taucht nur in Verbindungen mit der Negationspartikel ne und der Fragepartikel li (ne uzheli, ne uzhli) sowie der Partikel to (ne uzhto 'wirklich') auf. Auch das Lexem uzho 'bald, gleich' ist aufgeführt und als substandardsprachlich markiert.

Im Pushkin-Wörterbuch (slovar' jazyka Pushkina 1956-1961), das alle Wörter und Wortformen, die im Werk Pushkins vorkommen, verzeichnet, werden uzh, uzhe und uzho erwähnt. Für uzh werden eine Bedeutung als Adverb und drei Bedeutungen als Partikel unterschieden, wobei zwei Bedeutungen der Bedeutung als Modalpartikel und die dritte der Bedeutung als Eröffnungspartikel entsprechen. Für uzhe werden neben der Bedeutung als Adverb ('schon') noch zwei zu uzh synonyme Bedeutungen als Modalpartikel angegeben14. Die Partikel uzho schließlich wird als Illokutionsverstärker für Sprechakte wie Drohungen beschrieben, außerdem wird für sie eine Bedeutung 'schon' verzeichnet.

Dal' (1880-1882) gibt als Bedeutung von uzhe, uzh nur 'schon' an, vermerkt aber, daß die Partikel im Dialog eine etwas andere Bedeutung annehmen kann. Die Beispiele, die zur Illustrierung dieses uneigentlichen Gebrauchs folgen, sind allesamt Beispiele mit uzh. Unter dem Lemma uzhe wird auch uzho erwähnt, mit der Bedeutung 'gleich, später' sowie der Funktion als Illokutionsverstärker bei Sprechakten wie Drohungen etc.

Das russisch-deutsche Wörterbuch von Pavlovskij (31900) führt als Bedeutung von uzhe 'schon, bereits' an, uzh wird als Abkürzung von uzhe bezeichnet. Es werden auch Beispiele zitiert, in denen uzh als Modalpartikel fungiert, allerdings nicht kommentiert. Außerdem erwähnt Pavlovskij die Partikelverbindung neuzhto, neuzh-to 'wirklich'.

Zusammenfassend kann man feststellen, daß uzh laut Wörterbüchern erst in der Mitte des 19. Jhdts. auftaucht, in Verbindung mit anderen Elementen, nämlich ne...li und -to, schon etwas früher.

2.3 Texte

Bevor ich zur Analyse ausgewählter Texte komme, möchte ich noch eine Bemerkung zur Geschichte des Russischen machen.

Die sprachliche Situation im russischen Mittelalter war durch eine Diglossie oder zumindest diglossie-ähnliche Situation gekennzeichnet.15 Das Altrussische oder Altostslavische16 und das Kirchenslavische russischer Redaktion standen zueinander mehr oder weniger in komplementärer Distribution17, wobei dem Kirchenslavischen die Rolle der "high variety" zufiel und das Altrussische die "low variety" darstellte. So wird durch die Sprache, in der ein Text oder ein Textstück verfaßt ist, dieses dem sakralen (Kirchenslavisch) oder dem profanen (Altostslavisch) Bereich zugeordnet. Zwischen dem Altostslavischen und dem Kirchenslavischen gibt es jedoch zahlreiche Interferenzerscheinungen. Außerdem findet man richtiggehende Mischtexte, so z.B. die Chroniken.

Aus frühester Zeit existieren wenige echt altostslavische Schriftdenkmäler. Diese sind dann meist Urkunden, Gesetzestexte oder auch private Mitteilungen.

Die Diglossie mündet Uspenskij zufolge im 17. Jhdt. in einen Bilingualismus, d.h. ein gleichberechtigtes Nebeneinander zweier Sprachen. Im 18. Jhdt. begann dann die Entwicklung einer russischen Schrift- und Standardsprache, deren endgültige Formierung eigentlich erst mit Pushkin, also im 19. Jhdt. abgeschlossen war.

Bei Beurteilungen von Phänomenen der russischen Sprachgeschichte muß man sich diese besondere Situation immer vor Augen halten, d.h., sich immer darüber Rechenschaft ablegen, wie das Verhältnis zwischen Russisch und Kirchenslavisch im jeweiligen Text ist. Das gilt natürlich auch für die Untersuchung von Partikeln.

Bei der Auswahl der Texte, die ich auf uzhe und uzh hin untersucht habe, habe ich mich nach folgenden Kriterien gerichtet. Zum einen sollte der Text möglichst repräsentativ für die jeweilige Epoche sein und außerdem einen größtmöglichen Anteil an Altostslavisch bzw. Russisch aufweisen. Ein weiteres Kriterium war die thematische Eignung der Textsorte. So sind z.B. in Gesetzestexten oder Schenkungsurkunden kaum Modalpartikeln zu erwarten. Schließlich habe ich nur Prosatexte verwendet, weil die Wahl zwischen uzhe und uzh in gebundener Rede auch durch die Silbenzahl bedingt sein kann.

2.3.1 Die älteste Periode (11.-15. Jhdt.)

Zu den wichtigsten Sprachdenkmälern, die Aufschluß über das Altostslavische geben, gehören die sog. Birkenrindenurkunden, kurze Mitteilungen, die auf Birkenrinde eingeritzt sind. Die Birkenrinden wurden im nordwestlichen Teil Rußlands gefunden - die meisten davon in und um Novgorod - und stammen aus dem 11.-15. Jhdt.

Die Sprache dieser Urkunden ist in den allermeisten Fällen altostslavisch, wobei man je nach Herkunft der Urkunden verschiedene Dialekte unterscheiden kann, die sich von einem von Zaliznjak postulierten "Standardaltostslavischen" (standartnyj drevnerusskij jazyk) unterscheiden, so z.B. den altnovgoroder Dialekt (vgl. Zaliznjak 1995, 3ff.). Es gibt allerdings auch einige kirchenslavische Birkenrindenurkunden.

Als Textgrundlage habe ich Zaliznjak (1995) benutzt. Dort sind nahezu alle Birkenrindenurkunden verzeichnet, die bis Ende 1994 ausgegraben wurden, sowohl altostslavische als auch kirchenslavische. Nicht angeführt sind Birkenrinden, auf denen weniger als zwei Wörter entzifferbar sind und solche, die keinen Text darstellen, z.B. Abecedarien. Außerdem werden noch einige altnovgoroder Aufschriften sowie Pergament- und Papierurkunden zitiert (s. op.cit., 211).

In diesen Texten kommt uzhe zweimal sicher und einmal unsicher vor. Alle drei Urkunden sind Birkenrindenurkunden und weisen den altnovgoroder Dialekt auf.

Die Urkunde Nr. 439 aus dem späten 12. oder frühen 13. Jhdt. zeigt uzhe in der Verbindung mit der Negationspartikel ne mit der Bedeutung 'nicht mehr':

(14) [.]18uzhe mne ne exati vo suzhedale [.]19
  ich muß nicht mehr nach Suzdal' fahren

In der Urkunde Nr. 752 (1080er-1100er Jahre) kommt uzhe in Kombination mit ci vor, einer Konjunktion, die von Zaliznjak üblicherweise mit esli 'wenn' oder ili 'oder' übersetzt wird. In dieser Urkunde hingegen gibt er die Verbindung ci uzhe mit neuzheli wieder (op. cit., 229), hier mit etwa übersetzt:

(15) [.] a jazb tja esmehla aky bratb sobeh ci uzhe ti esmb zadehla sbljuci [.]
(Anmerkung der Redaktion: mit b ist hier der sogenannte "hintere jer" des Altslawischen gemeint.)
  Ich habe mich zu dir wie ein Bruder verhalten. Habe ich dich etwa verärgert, weil ich [nach dir] geschickt habe?

Die unsichere Stelle sei hier nicht angeführt. Sie stammt aus der Urkunde Nr. 356 (vermutlich 1. Hälfte des 14. Jhdts.), wo ein  (zh) zu lesen ist, gefolgt von einem Buchstaben, der ein b sein könnte, das wiederum für e steht. Der erste Buchstabe kann überhaupt nicht mehr gelesen werden. Nach Zaliznjak (1995, 468) besteht die Möglichkeit, daß es sich hier um uzhe handelt.

Eine weitere wichtige Textsorte des russischen Mittelalters sind die Chroniken. Sie sind Mischtexte, d.h. manche Teile sind auf russisch-kirchenslavisch, andere wiederum auf altostslavisch verfaßt, je nach dem, ob vom Autor eine Zugehörigkeit zum profanen oder zum sakralen Bereich intendiert ist.

Ich habe die Nestorchronik auf Vorkommen und Bedeutung der zur Debatte stehenden Lexeme untersucht. Die älteste Abschrift der Nestorchronik ist die Laurentiushandschrift, die aus der zweiten Hälfte des 14. Jhdts (1377) stammt.

Im folgenden beziehe ich mich auf die Ausgabe von Müller (ed.) (1977-1986). Im Wörterverzeichnis dieser Ausgabe kommen uzhe und u vor. Die Bedeutung von uzhe wird als 'schon, bereits, jetzt' und von uzhe ne als 'nicht mehr' angegeben. Es werden insgesamt 42 Stellen aufgeführt. Vgl. (16), wo uzhe die Bedeutung 'schon, bereits' hat:

(16) azb mbstila uzhe obidu muzha svojego (58, 24)
(Anmerkung der Redaktion: mit b ist hier der sogenannte "hintere jer" des Altslawischen gemeint.)
  ich habe das Unrecht, das an meinem Mann begangen wurde, schon gerächt

In der Nestorchronik findet sich jedoch auch die andere Bedeutung 'gleich, bald', die im heutigen Russischen in der Partikel uzho des Substandards vorliegt. Im Wörterverzeichnis von Müller (ed.) (1977-1986) findet sich kein Hinweis auf diese Bedeutung. Vgl. Beispiel (17), wo eine solche Übersetzung passender scheint als schon:

(17) i beh gladb velikb i stvorisha vehche v gorodeh i rehsha se uzhe xochemb pomereti otb glada (127, 20)
(Anmerkung der Redaktion: mit b ist hier der sogenannte "hintere jer" des Altslawischen gemeint.)
  und es war eine große Hungersnot und sie hielten eine Ratsversammlung in der Stadt ab und sie sagten dieses: wir werden gleich vor Hunger sterben.

Für u werden a.a.O. zwei Stellen angeführt, die allerdings nicht in der Laurentiushandschrift vorkommen. Als Bedeutung dieses Lexems wird 'jetzt, so, da' angegeben. Beide Belege werden als nicht sicher bewertet.

2.3.2 Das 17. Jahrhundert

Eine höchst interessante Quelle für das gesprochene Russische vom Anfang des 17. Jhdts. ist Tönnies Fennes russisch-niederdeutsches Gesprächsbuch des gesprochenen Russischen (1607). Dieses Gesprächsbuch gibt ungefähr das Russische jener Zeit aus der Gegend um Pskov wieder. Tönnies Fenne war ein niederdeutscher Kaufmann, der sich eine Zeitlang in Pskov aufgehalten und das Russisch, das dort gesprochen wurde, aufgezeichnet hat. Sein Gesprächsbuch enthält Wortlisten, Wendungen, kurze Gespräche und Sprichwörter.

Bei Tönnies Fenne kommt 18mal uzho und siebenmal uzh vor. Die Form uzho taucht zweimal in den Wortlisten auf und wird mit ndt. balde 'bald, gleich, schnell' und ndt. thorstundt 'jetzt', 'sogleich', 'sofort'20 übersetzt. Am häufigsten, nämlich neunmal, kommt sie in Fragesätzen vor, wovon einer ein indirekter Fragesatz ist, sechsmal in Aussagesätzen und einmal in einem Aufforderungssatz. In Fragesätzen steht es in der überwiegenden Zahl von Fällen (achtmal von neunmal) mit der Fragepartikel li, wie in Beispiel (18):

(18) Vszol ty tie sukna vidal lubo tebe al ne lubo.
  Heffstu de laken gesehen, geleuen se dy edder nicht.
  Have you seen these cloths? Do they please you or not? (459, 3) 21

Als Übersetzung kommt vor al 'schon' (7x), tho handt 'jetzt, schon, bereits' (1x, in der indirekten Frage) oder es wird unübersetzt gelassen (1x). Die Übersetzung von uzho in den Aussagesätzen erfolgt durch al 'schon' (2x), thorstundtt 'sofort', 'jetzt' (2x) oder itzundtt 'jetzt' (1x), einmal bleibt es unübersetzt. Vgl. (19), einen Aussagesatz, wo es mit thorstundtt wiedergegeben wird:

(19) Vso ia tzelovieka potebe poslu, ty csesza tovo pridi komnie.
  Ich wyll thor stundt eynem mahne tho dy senden vnd so kum du hastigen tho my.
  I will send a man after you at once; (and then) come to me right now. (351, 3)

Das uzho im Aufforderungssatz wird ebenfalls mit thorstundt 'sofort', 'jetzt' ins Niederdeutsche übersetzt:

(20) Isoslol tebe tolko sa tovari ffzæt, kak ia tebe daval na to mnie vszo dai otvestie.
  Dendt dy sovehle vor de wahre tho nehmen, alß ich dy gebaden hebbe, darup giff my thor stundt eyn antwordt.
  Can you manage to take as much for the goods as I offered you? Give me an answer on that at once. (376, 2)

Die Form uzh hingegen kommt nur mit der Fragepartikel vor und wird in der überwiegenden Anzahl der Fälle mit al 'schon' übersetzt, bis auf zweimal, wo es unübersetzt bleibt. Vgl. (21), wo uzhdurch al wiedergegeben wird:

(21) Vsli to diela obrædil.
  Is dat werk al geschehen.
  Has that work already been done? (347, 4)

Im folgenden Beispiel, einer der beiden eben erwähnten Fälle, bei denen uzh unübersetzt bleibt, paßt die Bedeutung 'schon' für uzh jedoch nicht, vielmehr scheint der ganze Komplexvsli die Rolle der Fragepartikel zu übernehmen:

(22) Vsli tebe isoslo to sa suoium tovari ffzæt, tzto ia tebe sa iovo daval.
  Dendt ydt dy vor dyne wahre tho nehmen alß ich dy gebaden hebbe.
  Can you manage to take for your goods what I offered you for them? (422, 1)

Als Fazit kann man festhalten, daß bei Tönnies Fenne uzhe nicht vorkommt, sondern nur uzho und uzh. Ersteres hat sowohl die Bedeutung 'schon', als auch die Bedeutung 'jetzt, gleich'. In Fragesätzen steht es meistens mit der Fragepartikel li und heißt dann immer 'schon'. Die Form uzh hingegen kommt nur in Fragesätzen und immer in Kombination mit li vor. In dieser Verbindung heißt es ebenfalls 'schon', außer in einem Fall, wo der ganze Ausdruck vsli (uzh li) als Fragepartikel zu fungieren scheint.

G. Kotoshixin, ein Beamter des Außenamtes, verfaßte in der Mitte des 17. Jhdts. den Bericht "Rußland unter der Herrschaft Aleksej Michajlovichs" (O Rossii v carstvovanie Alekseja Michajlovicha 1666/7). In diesem Text werden russische und kirchenslavische Elemente gemischt.

Im Index der Ausgabe von Pennington (ed.) (1980) sind unter dem Stichwort uzh(e) vier Stellen vermerkt, als Übersetzung wird already angegeben. Im Text kommt jedoch nur die Form uzh vor und weist in allen Fällen die von Pennington angeführte Bedeutung als Adverb auf. Vgl. (23), eine Beschreibung der Hochzeitszeremonie am Zarenhof:

(23) a kak crju o tom vehdomo uzhinitca chto uzh iz mylni vyshla (17v)
  und wenn dem Zaren bekannt gemacht wird, daß sie bereits das Badehaus verlassen hat

Nur wenige Jahre später (1672/73-1676) entstand die Autobiographie des Protopopen Avvakum (Zhitie protopopa Avvakuma im samim napisannoe), eines der prominentesten Gegner der Nikonschen Kirchenreformen. Seine Sprache ist vorwiegend russisch, an der sog. einfachen Volkssprache orientiert, jedoch mit zahlreichen Kirchenslavismen und Bibelzitaten versetzt.22

Die Autobiographie Avvakums liegt in drei Fassungen vor, von denen die erste im Original erhalten ist, die anderen beiden nur in Abschriften.

Insgesamt kommt uzh zwölfmal vor, einmal davon allerdings nur in der dritten Fassung. Uzhe kommt neunmal vor, viermal davon nur in der dritten Fassung. Uzh wird als Modalpartikel (4x), als Adverb (6x, davon 1x in Verbindung mit der Negation ne) und als Bestandteil eines komplexen Konnektors (2x) verwendet. (24) ist ein Beispiel für die Bedeutung von uzh als Modalpartikel, hier in Kombination mit der Partikel da, (25) illustriert den Gebrauch als Adverb:

(24) Kazhetsja potomu, i zhal' emu menja, da ush (sic!) to volja bozhija tak lezhit.
  ich tat ihm wohl leid. Aber dies war nun einmal der Wille Gottes.23
 
(25) Stanu opjat' pro svoe gore govorit', kak vy menja zhaluete-podchivaete: 20 let tomu uzh proshlo.
  Ich werde nun wieder von meinem Elend erzählen, womit ihr mich so liebevoll bedenkt: 20 Jahre lang währt es nun schon.
Beispiel (26) illustriert den Gebrauch von uzhe, das ausschließlich als Adverb mit der Bedeutung 'schon' vorkommt:
(26) I inoe koe-chto bylo, da shto mnogo govorit'? Proshlo uzhe to!
  Manches noch geschah damals, aber was soll ich jetzt weiter davon reden? Es liegt ja alles schon hinter uns!

Bezüglich der Verteilung der Adverbien uzh und uzhe im Hinblick auf eher russisch oder eher kirchenslavisch gekennzeichnete Textpartien läßt sich keine Regelmäßigkeit oder Vorliebe erkennen, es kommen beide Lexeme sowohl in russischer als auch in kirchenslavischer Umgebung vor.

2.3.3 Das 18. Jahrhundert

Auch im18. Jhdt. wird sowohl uzh als auch uzhe verwendet, uzhe als Adverb mit der Bedeutung 'schon' und uzh als Synonym zu uzhe sowie als Adverb. In folgendem Beispiel aus den Reisebeschreibungen Radishchevs wird uzh als Adverb in Verbindung mit der Negation gebraucht:

(27) Spasibo barin, - skazala starucha, - v ètom teper' uzhnet nuzhdy. (Radishchev, Puteshestvie iz Peterburga v Moskvu, 1790)
  "Danke, Herr", sagte die Alte, "aber das brauchen wir jetzt nicht mehr". (Radishchev, Eine Reise von Petersburg nach Moskau)

Wie (28) und (29) zeigen, kann uzhe auch in Verbindungen mit Elementen vorkommen, die im heutigen Russischen typischerweise mit uzh stehen, wie Intensifikatoren oder der Negationspartikel ne und der Fragepartikel li. So verwendet Sumarokov im folgenden Beispiel uzhe und nicht uzh mit dem Intensifikator ochen':

(28) [Sostrata:] Valerija vidno ostavil on radi togo, chto ochen' by uzhe podozritel'no bylo oboix poterjat' mladencev kolybel'nyx (Sumarokov, Opekun, 1765)
  [Sostrata:] Valerij hat er offenbar deswegen behalten, weil es schon gar zu verdächtig gewesen wäre, wenn er zwei Säuglinge verloren hätte (Sumarokov, Der Vormund)

In (29) wird uzhe mit der Negationspartikel und der Fragepartikel kombiniert. Die Elemente sind nicht zu neuzheli univerbiert und stehen zudem in einer anderen Anordnung, als wir es aus der modernen russischen Verbindung uzh ne ... li kennen:

(29) [Vikul (odin)]: Ne za tem li uzhe graf ko mne xochet pozhalovati, chtoby za zhenoju moeju povolochit'sja? (Sumarokov, Rogonosec po voobrazheniju, 1772)
  [Vikul (alleine:] Der Graf möchte mich doch nicht etwa deswegen besuchen, um meiner Frau den Hof zu machen? (Sumarokov, Der eingebildete Hahnrei)

2.3.4 Das 19. Jahrhundert

Von den Texten des 19. Jhdts. habe ich vorwiegend Texte von Pushkin und Lermontov untersucht. Sie bieten ein ganz ähnliches Bild, wie ich es in den Texten des 18. Jhdts. vorgefunden habe: uzh kommt sowohl als Synonym zu uzhe und als Modalpartikel vor, uzhe als Adverb mit der Bedeutung 'schon' und in Verbindungen mit anderen Elementen, in denen heute in der Regel uzh steht und bei denen sich uzh und uzhe in ihrer Bedeutung annähern. (30) illustriert die Verwendung von uzh als Adverb:

(30) My exali rjadom, molcha, raspustiv povod'ja, i byli uzh pochti u samoj kreposti: tol'ko kustarnik zakryval ee ot nas. (Lermontov, Geroj nashego vremeni, 1840)
  Wir ritten schweigend nebeneinander her, die Zügel hängen lassend, und waren schon fast bei der Festung, nur das Gebüsch verbarg sie vor uns. (Lermontov, Ein Held unserer Zeit)

In (31), einem Beispiel aus Pushkins 'Der Schuß', kommt uzh in Kombination mit Negation und Fragepartikel vor, in zwar in der heute üblichen Anordnung:

(31) Ach! vashe sijatel'stvo, prodolzhal ja, dogadyvajas' ob istine, izvinite ... ja ne znal ... uzh ne vy li? (Pushkin, Vystrel, 1830)
  Ach, Eure Erlaucht, - fuhr ich fort, die Wahrheit erratend, - entschuldigen Sie, ich wußte ja nicht ..., das sind doch nicht etwa Sie? (Pushkin, Der Schuß)

Wie oben erwähnt, gibt das Pushkin-Wörterbuch für uzhe neben der Bedeutung 'schon' noch zwei Bedeutungen als Modalpartikel an. Betrachtet man jedoch die einzelnen Fälle, so stellt man fest, daß es sich dabei zum einen um diejenigen Fälle handelt, bei denen sich die beiden Partikeln in ihrer Bedeutung nur unwesentlich unterscheiden, nämlich in Verbindung mit Intensifikatoren oder als Bestandteil eines komplexen Konnektors, zum anderen um Kombinationen mit der Partikel vot. Im heutigen Russischen ist vot uzh eine Partikelkombination, deren Bedeutung m.E. als gesamter Komplex untersucht werden muß, wobei die Bedeutung des Komplexes womöglich nicht der Summe der Bedeutung seiner Bestandteile, also vot und uzh, entspricht. Bei den im Pushkin-Wörterbuch angeführten Verbindungen von vot und uzhe hingegen handelt es sich um zwei einzelne Lexeme in Juxtaposition und uzhe bedeutet durchwegs 'schon', ist also Adverb. Vgl. (32):

(32) Vot   uzhe mesjac kak ot tebja ni strochki ne vizhu. (Pushkin, P.A. Pletnevu, 1831)
  Jetzt habe ich schon einen Monat keine Zeile mehr von Dir gesehen. (Pushkin, Brief an Pletnev)

Für uzho führt das Pushkin-Wörterbuch neben Stellen, bei denen es eine illokutionsverstärkende Funktion hat, eine einzige Stelle an, wo die Partikel die Bedeutung 'schon' hat:

(33) U nas dozhdi idut vot uzho druga nedelja (Pushkin, Dubrovskij, 1833)
  Bei uns regnet es jetzt schon die zweite Woche (Pushkin, Dubrovskij)

Der Beleg ist aus dem Brief der Kinderfrau Vladimir Dubrovskijs. Ihre Sprache ist als Substandard bzw. "volkssprachlich" charakterisiert.


3 Zusammenfassung

Die Form uzh taucht erst relativ spät auf und kommt in überwiegend kirchenslavischen Texten nicht vor. Laut Wörterbüchern erscheint es als selbständiges Lexem erst Mitte des 19. Jhdts., in Verbindung mit anderen Partikeln schon zu Anfang des 19. Jhdts. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Wörterbücher keineswegs die gesamte Entwicklung des Ostslavischen und später Russischen dokumentieren, also mit Sicherheit ein unvollständiges Bild wiedergeben.

In Tönnies Fennes Gesprächsbuch des gesprochenen Russischen, das das um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jhdt. gesprochene Russisch aus der Gegend um Pskov beschreibt, kommen uzh und uzho mit der Bedeutung 'schon' vor, nicht aber uzhe, das von seiner Lautgestalt her ja als Kirchenslavismus bezeichnet werden muß. In Texten der Schriftsprache kommt uzho mit dieser Bedeutung nicht vor. In Kombinationen mit Intensifikatoren und in Verbindungen mit der Negationspartikel und der Fragepartikel werden bis ins 19. Jhdt. sowohl uzhe als auch uzh verwendet.

Man könnte aufgrund der untersuchten Texte und Wörterbücher folgende Entwicklung annehmen. Das Lexem uzhe hatte zu Beginn vier Bedeutungen:

  1. 'schon'
  2. als Modalpartikel,
  3. 'gleich, später' und schließlich
  4. als Einleitungspartikel 'und, und so'.

Als die Form uzh aufkam, verlor uzhe die Bedeutungen 2), 3) und 4). Die Bedeutungen als Modalpartikel und als Eröffnungspartikel wurden von uzh übernommen, das gleichzeitig auch als Adverb mit der Bedeutung 'schon' verwendet wurde. Die Bedeutung 'gleich, später' ist im Standardrussischen verschwunden und steckt noch im substandardsprachlichen uzho.

Als letzte Stufe der Entwicklung verlor uzh seine Bedeutung als Adverb und wird im zeitgenössischen Russischen nur noch als Modalpartikel verwendet. Lediglich als Bestandteil eines komplexen Konnektors (razuzh(e), esliuzh(e)) sind uzhe und uzh heute noch austauschbar.

Diese These muß nun noch anhand einer größeren Materialbasis überprüft werden, wobei insbesondere auch altkirchenslavische Texte berücksichtigt werden müssen. Zur Vervollständigung des Bildes sollte außerdem die Entwicklung der Bedeutung als Eröffnungspartikel detailliert beschrieben werden.

Ich möchte U. Schweier für seine Kommentare zu Vorversionen dieses Beitrages herzlich danken. Alle verbleibenden Mängel habe ich selbstverständlich allein zu verantworten.


Anmerkungen

1 Diese Bedeutung ist stilistisch als "volkstümlich-poetisch" (narodno- poèticheskoe, SRJa) markiert und wird im folgenden nur am Rande eine Rolle spielen. [Zurück]
2 Vgl. dazu Mendoza (1999). [Zurück]
3 Zur Herleitung und Begründung der Explikationen in (2), (2a) und (4) s. Mendoza (1999). [Zurück]
4 Der Begriff des Bezugszeitpunktes wird von Boguslavskij (1992, 76) zur Erklärung des Unterschiedes zwischen uzhe 'schon' und eshche 'noch' in Äußerungen, in denen sie scheinbar synonym sind (vgl. uzhe/eshchevtrigodaonnachalrisovat' 'er fing schon mit drei Jahren an zu malen'), herangezogen. Er macht den Bezugszeitpunkt jedoch nicht zum Bestandteil der Grundbedeutung von uzhe. [Zurück]
5 Zur Möglichkeit, beide Verwendungsweisen im Rahmen einer einzigen Bedeutung zu erklären vgl. Boguslavskij (1992). [Zurück]
6 Zu den Übersetzungsmöglichkeiten von uzh ins Deutsche s. Rathmayr (1989), Zybatow (1990: 118ff.). [Zurück]
7 bzw. veraltet uzheli, uzhel'. [Zurück]
8 Zu neuzheli und v.a. seiner Abgrenzung gegenüber razve, das ebenfalls eine bestimmte Haltung des Sprechers gegenüber der zu erwartenden Antwort markiert, s. Baranov (1986), Bulygina/Shmelev (1982), Kiseleva/Pajar (1998, 293ff.). [Zurück]
9 Nach Aussage der AG (1980, 582) ist im Fall von raz/esli uzhe noch die Bedeutung von uzhe als Adverb vorhanden. Meinen Informanten zufolge besteht jedoch kein Unterschied zwischen Sätzen mit raz/esliuzh und raz/esliuzhe. Es ist mir auch nicht gelungen, ein Minimalpaar zu konstruieren. [Zurück]
10 Im Ostslavischen und einigen westslavischen Sprachen bzw. Dialekten (Polnisch, Sorbisch, Kaschubisch, Slovinzisch) wird unter jeweils unterschiedlichen Bedingungen e nach (palatalisiertem) Konsonanten zu o. Im Russischen wurde dieser Lautwandel bei betontem e vor hartem Konsonanten und im Auslaut durchgeführt. [Zurück]
11 Vasmers Annahme, daß im ostslav. zwei ig. Stämme zusammengefallen seien (urslav. *ju und urslav. *u, vgl. gr. 'wiederum', lat. aut 'oder', got. auk 'aber, doch') ist mit ÈSSJa nicht überzeugend, ebenso Meillets (und mit ihm Fraenkels und (Chernyx) Annahme, daß *ju mit *ju-n- 'jung' zusammenhängt. Nach ÈSSJa ist ein solcher Bedeutungszusammenhang typologisch wenig wahrscheinlich. [Zurück]
12 Das Wörterbuch des Altkirchenslavischen sei hier der Vollständigkeit halber aufgeführt, obwohl ich nur russische bzw. russisch-kirchenslavische Texte untersucht habe. [Zurück]
13 Bei Sreznevskij (1893-1903) und Lunt (1970) wird mit dem Begriff Altrussisch (drevnerusskij, Old Russian) nicht das Altostslavische im Unterschied zum Russisch-Kirchenslavischen bezeichnet, sondern das gesamte sprachliche Material aus jener Epoche, das Altostslavisch und Russisch-Kirchenslavisch umfaßt (vgl. auch Abschnitt 2.3). [Zurück]
14 Siehe dazu jedoch unten, Abschnitt 2.3.4. [Zurück]
15 Die Frage, wie die sprachliche Situation in der Kiever und Moskauer Rus' ausgesehen hat und ob sie mit dem von Ferguson geprägten und von Uspenskij modifizierten Begriff "Diglossie" adäquat charakterisiert werden kann, sowie das damit zusammenhängende Problem der Entstehungsgrundlage der russischen Literatursprache gehört zu den umstrittensten Themen in der Russistik. Die Diskussion darüber kann hier nicht auch nur ansatzweise referiert werden, ich verweise deshalb lediglich auf einige grundlegende Arbeiten: Hüttl-Folter (1978) und (1984), Isachenko (1980-1983), Uspenskij (1983), (1987) und (1994), Worth (1978). Eine teilweise sehr polemisch geführte Auseinandersetzung mit der Diglossie-Theorie und ihren Befürwortern findet in Alekseev (1986), Klimenko (1986), Kolesov (1986) und Rusinov (1986) statt. Eine Zusammenfassung der Diglossie-Diskussion bieten Kretschmer (1994) und Rehder (1989), ein informativer Überblick über die Entstehung der russischen Literatursprache unter Diskussion der wichtigsten Theorien ist Keipert (1999). [Zurück]
16 Zur Bezeichnung der Sprachstufen bis zum 14. Jhdt. ist der Terminus "altostslavisch" korrekter, weil die damit bezeichnete Sprachform der gemeinsame Vorgänger der heutigen ostslavischen Sprachen ist. [Zurück]
17 Das Kriterium der komplementären Distribution wurde in dieser strengen Formulierung von Uspenskij eingeführt und findet sich bei Ferguson in einer wesentlich weniger kategorischen Form: "In one set of situations only H [high variety, I.M.] is appropriate and in another only L [low variety, I.M.], with the two sets overlapping only very slightly." (Ferguson 1959, 328). [Zurück]
18 Auslassungen von mir. [Zurück]
19 Bei der Wiedergabe der Birkenrindentexte in lateinischer Schrift habe ich die Orthographie in der Hinsicht vereinfacht, daß ich graphische Varianten außer acht gelassen habe. So werden oy und y immer als u wiedergegeben, A und  immer als ja. Ähnliches gilt für die Chroniktexte. - Die späteren Texte transliteriere ich nach der modernen russischen Orthographie, d.h. das harte Zeichen am Wortende enfällt und das weiche Zeichen wird, wie heute üblich, als ' wiedergegeben. [Zurück]
20 Übersetzung der niederdeutschen Ausdrücke ins Neuhochdeutsche nach Gernentz (1986). [Zurück]
21 Transliterierung und Übersetzungen aus Hammerich/Jakobson (eds.) (1970). [Zurück]
22 Im Gegensatz zur Sprache Kotoshichins, die laut Isachenko "einen beachtlichen Grad syntaktischer Strukturierung und stilistischer Ausgeglichenheit aufwies, wobei sich ksl. und russische Elemente organisch zu einer Einheit verbanden" (Isachenko 1980-1983, 337), fehlt Avvakums Werk jeglicher Schliff und ist mit Isachenko als "sehr uneinheitlich, sprachlich disparat und unorganisiert" zu bewerten (op. cit., 334). [Zurück]
23 Übersetzungen aus Hildebrandt (1965). [Zurück]

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