Geschweige setzt zwei Einheiten zueinander in eine spezifische semantische Beziehung, deren Bedeutung jeweils der eines Satzes entspricht. Einheiten, die eine solche semantische Verknüpfungsleistung erbringen, werden "Konnektive" oder "Konnektoren" genannt. Die syntaktischen Einheiten, die durch einen Konnektor semantisch zueinander in Beziehung gesetzt werden, nenne ich "Konnekte".
Der deutsche Konnektor geschweige gehört vornehmlich der Schriftsprache an. (In den am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim über das Recherche-System COSMAS verfügbaren Korpora gesprochener Sprache finden sich nur drei Belege.) Er wird mit unmittelbar nachfolgendem oder ohne nachfolgendes denn verwendet. Ein Bedeutungsunterschied zwischen diesen beiden Varianten ist nicht festzustellen. Bevorzugt wird allerdings, wie die COSMAS-Belege erkennen lassen, die Verwendung mit denn. Wenn ich im Folgenden von geschweige spreche, meine ich immer beide formalen Varianten. Die Belege unter den nachfolgenden Beispielen für die Verwendung von geschweige sind zum überwiegenden Teil den COSMAS-Korpora der geschriebenen Sprache entnommen.
Geschweige wird mit negativem erstem Konnekt verwendet. Vgl.:
(1) | Bei allen drei Zwischenfällen ist niemand verletzt worden, geschweige denn ums Leben gekommen. (Mannheimer Morgen, 29.3.1985, S. 13: Wie sicher sind die neuen Tunnels?) |
Es kommen aber auch - allerdings recht selten - Verwendungen mit affirmativem erstem Konnekt vor. Vgl.:
(2) | ..., wir haben heute schon Mittel der Kommunikation, geschweige denn morgen und übermorgen, Mittel der Kommunikation, die uns die Welt ins Haus liefern, ... (Max Frisch: Homo faber. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1957, 131.-145. Tausend (1965), S. 126) |
Bei einem negativen ersten Konnekt kann geschweige (denn) bedeutungswahrend durch und erstrecht nicht oder durch understrecht sowie einen anderen unmittelbar folgenden Negationsausdruck ersetzt werden (im Falle von (1) durch erst rechtniemand), bei einem affirmativen ersten Konnekt wie bei (2) nur durch understrecht. Entstanden ist der Konnektor geschweige aus der ersten Person Singular Indikativ Präsens des nicht mehr gebräuchlichen, aber noch bei Goethe belegten Verbs geschweigen (cf. Paul 1992: Stichwort geschweige, wo angegeben ist, dass geschweige seit dem 16. Jh. "zur Konjunktion erstarrt" ist).
Ich möchte im Folgenden eine Hypothese darüber vorstellen, wie diese beiden semantisch unterschiedlichen Gebrauchsweisen von geschweige(denn) auf ein und dieselbe aussagenlogische Verknüpfung zurückgeführt werden können. Außerdem möchte ich einen Vorschlag dazu unterbreiten, wie die in jüngerer Zeit zu beobachtende Spezialisierung des Konnektors auf Verwendungen mit einem negativen ersten Konnekt zu analysieren ist.
Syntaktisch ist geschweige schwer zu klassifizieren. Sein zweites Konnekt muss formal kein Satz sein. Vgl.:
(3) | Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken, weil sie kein Sonntagskleid hat, geschweige eine Kutsche. (Erwin Strittmatter: Ole Bienkopp. Berlin: Aufbau-Verlag, 1963, S. 163) |
In diesem Satz sind die Konnekte von geschweige die Ausdruckskette sie kein Sonntagskleid hat und eine Kutsche. Das zweite Konnekt von geschweige kann allen möglichen Wortgruppen- (Phrasen-) Typen angehören. Darin ähnelt geschweige einer koordinierenden Konjunktion, einem Konjunktor, wie und und oder. Der Kategorisierung als Konjunktor stehen jedoch mehrere syntaktische Besonderheiten von geschweige entgegen:
- Anders als bei Konjunktoren darf das zweite Konnekt von geschweige zwar ein Verbletztsatz, aber kein auf geschweige folgender deklarativer Verbzweitsatz sein. Vgl. (4) vs. (5):
(4) | Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken, weil sie kein Sonntagskleid hat, und ihr niemand ein gutes Kleid leihen würde/ geschweige ihr jemand ein gutes Kleid leihen würde. |
(5) | Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken. Sie hat kein Sonntagskleid, und sie hat keine Kutsche/ *geschweige sie hat eine Kutsche. |
- Entsprechend kann das zweite Konnekt von geschweige zwar ein Prädikat aus einem Verbletztsatz sein kann, nicht jedoch ein Prädikat aus einem Verbzweitsatz; vgl. (6) vs. (7):
(6) | So kommt es, daß die spärliche Innendurchgliederung der Wandflächen, die sich heute im Langhaus vorfindet, kaum in Erscheinung tritt, geschweige denn raumformend sein könnte. (Dellwig, H.: Studien zur Baukunst. Kunstwissenschaftliche Studien: Band XLIII, S. 106-113) |
(7) | Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken. Sie hat kein Sonntagskleid, und hat keine Kutsche/ *geschweige hat eine Kutsche. |
(8) | Kaum eine der Frauen im Publikum schaut den dreien zu, geschweige denn, daß sie den Tänzerinnen mit Blicken und Pfiffen einheizen. (Die Tageszeitung, 8.3.1997, S. 16: Gestatten, Bond. Jane Bond.) |
(9) | Kaum eine der Frauen im Publikum schaut den dreien zu, und kaum eine heizt den Tänzerinnen mit Blicken und Pfiffen ein/ * und daß kaum eine den Tänzerinnen mit Blicken und Pfiffen einheizt. |
Diese Möglichkeit, das zweite Konnekt als dass-Satz zu bilden, ist eine Folge der oben genannten Herkunft des Konnektors geschweige.
- Ein weiterer Unterschied zu Konjunktoren liegt darin, dass geschweige das Vorfeld des zweiten Konnekts bilden kann, wenn dieses ein Verbzweitsatz ist:
(10) | Die ständige personelle Verstärkung der Polizei hat keine Entlastung gebracht, geschweige denn hat sie Spannungen abgebaut. (Die Zeit, 15.8.86, S. 37: Ohne Bürger kein Staat) |
Wenn das zweite Konnekt diese Form hat, kann es, wie eine Durchsicht der Belege in den IDS-Korpora vermuten lässt, nicht mit einem subordinierten ersten Konnekt verknüpft werden; vgl. (3'):
(3') | ?Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken, weil sie kein Sonntagskleid hat, geschweige denn hat sie eine Kutsche. |
Einheiten, die das Vorfeld eines Verbzweitsatzes bilden können, sind Adverbien. Adverbien wiederum können nicht nur das Vorfeld bilden, sondern auch im Mittelfeld auftreten. Dies kann geschweige nicht.
Geschweige kann auch nicht als subordinierender Konnektor klassifiziert werden. Der wichtigste Grund hierfür ist, dass sein zweites Konnekt im Unterschied zu subordinierenden Konnektoren kein Verbletztsatz sein kann, wenn sein erstes Konnekt kein Verbletztsatz ist. Vgl. im Gegensatz zu (4) - Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken, weil sie kein Sonntagskleid hat geschweige ihr jemand ein gutes Kleid leihen würde. - (4'):
(4') | Die Bäuerin Sophie Bummel muß daheim hocken. Sie hat kein Sonntagskleid, *geschweige ihr jemand ein gutes Kleid leihen würde. |
Die aufgeführten Beschränkungen der syntaktischen Möglichkeiten von geschweige zeigen, dass geschweige aus den traditionell unterschiedenen syntaktischen Konnektorenklassen herausfällt. Im Projekt "Handbuch der deutschen Konnektoren", an dem ich mitarbeite, haben wir uns deshalb entschieden, geschweige keiner syntaktischen Klasse zuzuweisen. Vielmehr führen wir in einem Lexikonteil bei geschweige alle seine kombinatorischen Möglichkeiten als syntaktische Merkmale an, um eine korrekte syntaktische Verwendung des Konnektors zu ermöglichen. (Auf dieselbe Weise behandeln wir übrigens alle Konnektoren, die aufgrund ihrer syntaktischen Merkmale nicht einer bestimmten syntaktischen Klasse zuzuweisen sind.)
Anders als die im Literaturverzeichnis angegebenen Wörterbücher suggerieren, kann geschweige mit seinem zweiten Konnekt innerhalb des ersten Konnekts auftreten. Vgl.:
(11) | Er stand auf und diktierte dem Schreiber die Antwort: im Evangelium selbst, geschweige denn in den Büchern des Alten Bundes, lasse kein Wort sich finden, das die Vielweiberei ausdrücklich verböte. (Thomas Mann: Der Erwählte. Frankfurt: S. Fischer Verlag, 1960, Bd. 7, Erste Buchausgabe: Frankfurt 1951, S. 240) |
Ich halte für die folgenden semantischen Betrachtungen von geschweige-Konstruktionen fest: geschweige hat zwei Konnekte. Das eine folgt ihm unmittelbar; es bildet das Konnekt, das ich als das zweite Konnekt bezeichnet habe. Das andere Konnekt - das ich als das erste Konnekt bezeichnet habe - geht ihm unmittelbar voraus oder schließt geschweige mitsamt seinem zweiten Konnekt in sich ein. Allerdings zeigt die Beleglage in den IDS-Korpora, dass die häufigere Abfolge von geschweige und seinen Konnekten die Reihenfolge erstes Konnekt < geschweige < zweites Konnekt ist.
Die meisten Sprecher stehen Sätzen mit einem affirmativen ersten Konnekt von geschweige wie (2) ablehnend gegenüber. In Wörterbüchern wird der Gebrauch von geschweige nach einem affirmativen ersten Konnekt als veraltet bezeichnet. Geschweige kommt nach Auskunft der Wörterbücher "nur nach negativen Sätzen" (cf. Paul 1992) bzw. "nur nach einer verneinten oder einschränkenden Aussage" (cf. Duden 1977 und Duden 1993) bzw. "verneinenden oder einschränkenden Aussagen" (cf. HDG 1984) vor. Diese Angaben sind, wie (2) und im Folgenden (12) zeigen, korrekturbedürftig.
(12) | ...; so hätte Deutschland das Recht zum Kriege vor Frankreich, England, Italien, geschweige vor Rußland. (Thomas Mann: Reden und Aufsätze, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1960, Bd. 12, Vorwort. "Welt-Zivilisation", Arizona, 1945 (Lagerzeitung dt. Kriegsgefan.), S. 180) |
Allerdings muss man zugeben, dass die Beleglage in den IDS-Korpora zeigt, dass das Vorkommen mit affirmativem erstem Konnekt von der Art, wie sie die Belege (2) und (12) verkörpern, heutzutage sehr selten sind, während sie bei Goethe noch häufig sind, wie die IDS-Korpora zeigen. (Auf einen Grenzfall zwischen Affirmativität und Negativität des ersten Konnekts komme ich noch zu sprechen.)
Die Wörterbuchangaben zum Vorkommen der Negation müssen jedoch nicht nur relativiert werden, sie sind auch präzisierungsbedürftig, was den Ort der Negation anbetrifft. Die geforderte Negation bzw. Verneinung oder Einschränkung darf nicht irgendwo im Kontext, der geschweige vorausgeht, auftreten. Vielmehr muss sie für das erste Konnekt, d.h. für den Satz gegeben sein, der dem Konnektor unmittelbar vorausgeht oder in dem der Konnektor mit seinem ihm unmittelbar folgenden, d.h. zweiten Konnekt auftritt (zu Letzterem siehe (11)). Dabei kann die für das erste Konnekt zu interpretierende Negation entweder im ersten Konnekt selbst ausgedrückt sein (wie in (1), (3), (5), (6), (8) und (10)) oder für das erste Konnekt aus einem negierenden Kontext, in den das erste Konnekt, ja die gesamte geschweige-Konstruktion syntaktisch eingebettet ist, abzuleiten sein. Letzeres ist der Fall in folgender Konstruktion:
(13) | Doch außer ein paar ebenso allgemeinen wie wohlfeilen Worten weist nichts darauf hin, daß sich unsere Freunde und Verbündeten, geschweige denn die Sowjetunion, dieser Probleme grundsätzlich annehmen wollten. (Die Zeit, 8.9.1989, S. 1: Kleine Schritte - was sonst?) |
In (13) wird das erste Konnekt von geschweige durch daß sich unsere Freunde und Verbündeten ... dieser Probleme grundsätzlich annehmen wollten gebildet. Dieses ist nun nicht an sich schon Ausdruck einer Negation. Es drückt vielmehr das Gegenteil einer Negation aus, nämlich eine Affirmation. Die Negation kommt der durch diesen Satz ausgedrückten Proposition vermittels der Negation zu, die durch den übergeordneten Satz weist nichts darauf hin ausgedrückt wird. Ich halte fest: Wenn für das erste Konnekt eine Negation interpretiert werden soll, so kann sie entweder durch das erste Konnekt ausgedrückt sein oder einen dem ersten Konnekt syntaktisch übergeordneten Satz. (Weitere Beispiele finden sich im Anhang)
Darüberhinaus kann der Ausdruck der Negation im ersten Konnekt graduell sein, indem außer Negatoren wie nicht, niemand, kein oder weder, also direkt negierenden Ausdrücken, auch Ausdrücke erscheinen können, für die - wie im Folgenden in (16) bis (19) - nur indirekt die Interpretation einer Negation abgeleitet werden kann. Vgl.:
(14) | Daß die Kriminalität im Osten des vereinten Deutschlands den Westen längst nicht eingeholt, geschweige denn überholt hat, beweist eine Nachricht aus Hessen vom selben Tage. (die tageszeitung, 15.3.1991, S. 28: West-östliche Kriminaliätsvergleiche) |
(15) | So bleibt nur die allgemeine, aber nahezu sichere Prognose, daß sich die Situation im November weder stabilisieren, geschweige denn verbessern wird. (Berliner Zeitung, 8.11.1990, S. 16: ABM ist im Moment noch keine Zauberformel) |
(16) | Weil es aber kaum gedrucktes Material, geschweige denn theoretische Arbeiten zum Thema Malerei und Fernsehen gibt, muß man sich an eine Analogie halten. (Die Zeit, 25.1.1985, S. 41: Von der Auflösung des Bildes) |
(17) | Die unmittelbar betroffene Zone, etwa 30 Kilometer im Durchmesser, ist ein zu geringer Teil der Ukraine, geschweige denn des ganzen Landes, als daß daraus negative Auswirkungen für die Erträge, für die Ernte, für die Wirtschaft entstehen. (Die Zeit, 9.5.1986, S. 9: Der SuperGAU von Tschernobyl) |
(18) | Es ist ganz schwer, Vertrauen zu bewahren, geschweige denn, Vertrauen neu zu gewinnen. ("...die Karre durch den Dreck bringen!" Erste deutsch-deutsche Gemeinschaftsinterviews (Broschüre), 31.12.1990, S. 10) |
(19) | Da muß es freilich auch Helmut Kohl grausen, das Asylthema zum Kabinettsthema, geschweige denn Wahlkampfthema zu machen.(Die Zeit, 5.9.1986, S. 6. Der Kanzler hält still) |
Während bei (14) im ersten Konnekt die Negation durch einen ausschließlich negierenden Ausdrucks - nicht - repräsentiert ist, ist sie in anderen Fällen durch Ausdrücke repräsentiert, die neben der Negation noch etwas anderes ausdrücken, wie niemand in (1), kein in (3) und (11), nichts in (13) und weder in (14). Diese drücken eine Negation eines weiteren Bedeutungsbestandteils aus : niemand die Negation einer indefiniten Komponente, wie sie auch durch jemand ausgedrückt wird, nichts die Negation einer indefiniten Komponente, wie sie auch durch (et)was ausgedrückt werden kann, weder die Negation einer Komponente, die auf eine weitere Negation hindeutet (cf. Pasch 1986). In den mit diesen negierenden Ausdrücken gebildeten geschweige-Konstruktionen lässt sich geschweige problemlos durch und erstrechtnicht ersetzen. Das heißt, das erste Konnekt von geschweige kann zweifelsfrei als negativer Ausdruck betrachtet werden. Nicht so eindeutig liegen die Dinge für kaum in (6), und (16), zu geringer in (17) und schwer in (18). Zwar können diese Ausdrücke als Negationsausdrücke im weitesten Sinne interpretiert werden, da sie sich ohne Veränderung der Wahrheitsbedingungen der betreffenden Sätze durch Ausdrücke ersetzen lassen, die einen negierenden Teilausdruck aufweisen. So kann kaum in (5), (8) und (16) durch fastnicht ersetzt werden, zu gering in (17) durch nicht hinreichend groß, in (18) ganz schwer durch nicht leicht und grausen in (19) durch nicht angenehm sein. Hier mag eine Ersetzung von geschweige durch die von den Wörterbüchern als Bedeutungsbeschreibungen angebotenen Wendungen erst rechtnicht (cf. WDG 1978, HDG 1984 und Paul 1992) und schon garnicht (cf. Duden 1977, Duden 1993 und Brockhaus-Wahrig 1981) bei kaum noch angehen, bei den anderen genannten Ausdrücken jedoch ist sie zweifelhaft. Geeigneter als understrechtnicht ist bei (6), und (16) als Ersatz für kaum die von den Wörterbüchern als Bedeutungsbeschreibung angebotene Wendung noch(viel)weniger (cf. Duden 1977, Duden 1993, WDG 1978, Brockhaus-Wahrig 1981 und Paul 1992). Als Ersatz von geschweige geeignet sind in (17) bis (19) schließlich nur die von den Wörterbüchern angebotenen Bedeutungsbeschreibungen garnicht zuredenvon (cf. WDG 1978), das semantisch mit ihm zusammenhängt, und ganzzuschweigenvon (cf. Duden 1977 und Duden 1993), das semantisch und etymologisch mit geschweige zusammenhängt.
Anders als bei (2) und (12) ist in den Beispielen unter (16) bis (19) aber auch die Ersetzung von geschweige durch und erstrecht unbefriedigend. Ich denke, wegen des Eindrucks einer Negation im ersten Konnekt.
Einen ähnlichen Grenzfall zwischen negativem und affirmativem Gebrauch stellt auch (20) dar:
(20) | So begann die Sitzung mit einem ziemlichen Eklat und drohte kurzfristig im Chaos zu versinken, noch bevor man überhaupt zum ersten Tagesordnungspunkt, geschweige denn zur Wahl der Regierung vorangekommen war. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.4.1990, S. 3: Die Volkskammer muß mühsam das Sprechen wieder lernen) |
Hier kann man geschweige durch beide genannten Umschreibungen - understrecht und und erst rechtnicht - gleich gut bzw. gleich schlecht ersetzen. Das heißt, es ist nicht entscheidbar, ob das erste Konnekt mehr als affirmativ oder mehr als negativ empfunden wird. Dies liegt daran, dass bevor impliziert, dass der Sachverhalt, den der von ihm subordinierte Satz bezeichnet, zu dem Zeitpunkt, zu dem der vom übergeordneten Satz bezeichnete Sachverhalt eine Tatsache ist, nicht als Tatsache gegeben ist. (cf. Thompson/Longacre 1985, S. 182.) Dass bevor eine solche Negation impliziert, sieht man auch daran, dass auch in Fällen ohne geschweige, in denen der von bevor subordinierte Satz keine Tatsache bezeichnet, die Setzung des Negators nicht zu beobachten ist, obwohl sie für die Bedeutung, die für das Satzgefüge intendiert ist, nicht notwendig ist. Vgl.:
(21) | Brunetti war sich nicht ganz sicher, was er meinte, und er merkte, daß er keine klaren Fragen stellen konnte, bevor er nicht die Unterlagen in dem blauen Ordner identifiziert hatte. (Donna Leon: Venezianische Scharade. Commissario Brunettis dritter Fall. Roman. Aus dem Amerikanischen von Monika Elwenspoek. Diogenes Taschenbuch 22990. Zürich: Diogenes Verlag 1997, S. 46) |
Dass dies an der Bedeutung von bevor liegt und nicht etwa an bevor selbst, kann man daraus folgern, dass eine Negation im subordinierten Satz auch bei ehe, das bedeutungsgleich mit bevor ist, und bis auftritt, sowie auch in anderen Sprachen bei Äquivalenten von bevor und ehe (cf. Thompson/Longacre 1985, S. 182):
(22) | Aber ich kann da noch nichts Endgültiges sagen, ehe ich ihn nicht noch mal vernommen habe. (H. Martin: Spiel ohne drei. 1978, S. 31; Beleg aus Kürschner 1983, S. 182) |
(23) | ...gab keine Ruhe, bis nicht das Haus renoviert ... wurde (S2 Kultur, 18.7.1998, Kulturnotizen) |
Allerdings verlangen die genannten temporalen Konnektoren die Negation im subordinierten Satz nicht. Vielmehr ist bei ihnen in den hier angeführten Belegen der Negationsausdruck nicht als wörtlich verwendet zu interpretieren.
Wie lässt sich nun der offensichtliche historische Wandel von geschweige ohne Negationsforderung an sein erstes Konnekt zu geschweige mit Bevorzugung, wenn nicht gar Forderung nach einer Negation in seinem ersten Konnekt erklären? Als Antwort auf diese Frage biete ich die im Folgenden beschriebene Hypothese an.
Wenn man die Bedeutungen der beiden Ausdrücke, die in einer geschweige-Konstruktion die gleiche syntaktische Funktion ausüben, als fokussiert - als Foki - ansieht und die Bedeutung des Restes der Konstruktion als Hintergrund zum zweiten Fokus, dann bildet jeder der beiden Foki zusammen mit dem Hintergrund eine Satzbedeutung - allgemeiner: eine Proposition. Die Proposition, die für das erste Konnekt zu interpretieren ist, wird damit durch die Bedeutung des Ausdrucks für den ersten Fokus in seiner durch Interpretationsregeln festgelegten Verbindung mit dem Hintergrund konstituiert. Ich bezeichne diese Proposition im Folgenden als p. Die Proposition, die für das zweite Konnekt zu interpretieren ist, wird damit durch die Bedeutung des Ausdrucks für den zweiten Fokus in seiner durch Interpretationsregeln festgelegten Verbindung mit dem Hintergrund konstituiert. Diese Proposition bezeichne ich als q. Zum Beispiel ist in (2) - ..., wir haben heute schon Mittel der Kommunikation, geschweige denn morgen und übermorgen - der Ausdruck für den ersten Fokus die Ausdruckskette heute schon und der Ausdruck für den zweiten Fokus die Ausdruckskette morgen und übermorgen. Der Hintergrund wird durch wir haben ... Mittel der Kommunikation ausgedrückt. In (2') illustriere ich die Verhältnisse zwischen den Begriffen "Konnekt", "Hintergrundausdruck" und "Fokus-Ausdruck", wie sie im Beispiel (2) gegeben sind, schematisch:
(2') | wir haben heute schon Mittel der Kommunikation: erstes Konnekt |
heute schon: Ausdruck des ersten Fokus | |
morgen und übermorgen: zweites Konnekt und Ausdruck des zweiten Fokus | |
wir ... haben Mittel der Kommunikation: Ausdruck des Hintergrunds |
Wenn beide Konnekte Sätze sind oder Sätze enthalten, wie in (8) und (10), ist der Hintergrund leer, die Bedeutungen der beiden Sätze sind in der Verknüpfung fokussiert.
Bei der Ersetzung einer geschweige-Konstruktion durch eine und-erst-recht-Konstruktion ist die entstehende Propositionenverknüpfung p 'und erst recht' q nur dann wahr, wenn p und q wahr sind. Die gleiche Wahrheitsbedingung gilt für die entsprechende geschweige-Konstruktion. Die Bedeutung von geschweige ist also die logische Konjunktion von p und q. Bei der Ersetzung einer geschweige-Konstruktion durch eine und-erst-recht-nicht-Konstruktion ist die entstehende Propositionenverknüpfung p 'und erst recht nicht' q nur dann wahr, wenn p die Negation einer Proposition p' ist und p wahr ist und wenn q falsch ist. Die gleiche Wahrheitsbedingung gilt für die entsprechende geschweige-Konstruktion. Die Bedeutung der geschweige-Konstruktion ist also in diesem Falle die logische Konjunktion der Negationen von p' und q. (Die Apostrophe sollen anzeigen, dass es sich bei der von ihnen eingeschlossenen Ausdruckskette um die Beschreibung der Bedeutungen der entsprechenden deutschen Ausdrücke handelt.)
Die Tatsache, dass bei geschweige-Konstruktionen mit einem negativen ersten Konnekt und mit einem zweiten Konnekt in Nichtsatzformat die entsprechende Konstruktion auf der Basis von und erst recht nur eine Konstruktion mit zwei Negationen, d.h. nur eine und-erst-recht-nicht-Konstruktion sein kann, weist darauf hin, dass die Negation im ersten Konnekt nicht die Bedeutung des zweiten Konnekts in ihrem Skopus haben kann, d.h. dass die Bedeutung des zweiten Konnekts nicht im Geltungsbereich einer Negation aus dem ersten Konnekt liegen kann, auch nicht einer durch nicht ausgedrückten. Es muss dann erklärt werden, wie es kommt, dass geschweige sich von einem Konnektor, der allgemein durch und erst recht ersetzt werden kann, zu einem Konnektor entwickelt, der eine Negation der durch sein zweites Konnekt ausgedrückten Proposition setzt und damit im Unterschied zu erst recht einen separaten Ausdruck für diese Negation verbietet. Der für sein zweites Konnekt eine Negation setzende Konnektor geschweige lässt sich auch unter bestimmten Bedingungen und unter der Voraussetzung, dass die beiden Konnekte nicht korreferent sind, durch oder gar , ganz allgemein jedoch durch oder ersetzen, ohne dass beim zweiten Konnekt eine Negation auftritt. Vgl. als alternativen Ausdruck zu (14) - Daß die Kriminalität im Osten des vereinten Deutschlands den Westen längst nicht eingeholt, geschweige denn überholt hat, beweist eine Nachricht aus Hessen vom selben Tage. - die Konstruktion (14'):
(14') | Daß die Kriminalität im Osten des vereinten Deutschlands den Westen längst nicht eingeholt oder gar überholt hat, beweist eine Nachricht aus Hessen vom selben Tage. |
Diese Möglichkeit entspricht der zweiten de Morganschen Regel der Aussagenlogik, nach der die (logische) Konjunktion der Negationen zweier Aussagen äquivalent mit der Negation der (logischen) Alternative dieser Aussagen ist: ( (p ( q) ( ( p ( ( q. Die oder (gar)-Konstruktionen sind dann Repräsentanten der Negation der Alternative der zwei Aussagen (Propositionen) und die und-erst-recht-nicht-Konstruktionen sind Repräsentanten der Konjunktion der Negationen der zwei Propositionen, wenn man hier einmal p mit p' aus den angeführten geschweige-Konstruktionen identifiziert.
Welche der beiden Aussagenverknüpfungen aus der zweiten de Morganschen Regel verkörpern nun die geschweige-Konstruktionen? Bei der Antwort auf diese Frage ist zu berücksichtigen, dass die de Morgansche Regel zwar die Ausdrucksalternativen für negative geschweige-Konstruktionen erklären kann, sie kann aber nicht den Zusammenhang dieser Konstruktionen mit den geschweige-Konstruktionen mit affirmativem erstem Konnekt erklären. Eine Erklärung findet sich, wenn man von Folgendem ausgeht: a) Die Bedeutung von geschweige basiert auf der logischen Konjunktion von p und q. Die Bedeutung der geschweige-Konstruktionen mit negativem erstem Konnekt basiert nicht auf der Negation der Alternative der durch die Konnekte ausgedrückten Propositionen, sondern auf der auch durch die und-erst-recht-nicht-Konstruktionen ausgedrückten Konjunktion der Negationen der zwei für die Konnekte zu interpretierenden Propositionen p' und q. Die negativen Propositionen, die in diesem Falle durch die beiden Propositionen ausgedrückt werden, sind Spezialfälle von p bzw. q bei geschweige. b) In den geschweige-Konstruktionen mit negativem erstem Konnekt liegt eine durch die Negation im ersten Konnekt koordinativ gestützte Weglassung des zweiten Negationsausdrucks vor, also eine Ellipse. Das heißt, die Negation ist nicht fokussiert, sondern gehört mit zum Hintergrund der geschweige-Konstruktion, weshalb sie nur einmal ausgedrückt werden muss.
Eine Ellipse ist nun aber kein obligatorischer Verzicht auf den eigenständigen Ausdruck einer bestimmten Bedeutung, allgemeiner: konzeptuellen Struktur. Ein solcher liegt aber im Falle der Weglassung des zweiten Negationsausdrucks bei geschweige-Konstruktionen mit negativem erstem Konnekt vor. Man muss also davon ausgehen, dass die Gebrauchsbedingungen von geschweige sich in der Weise alternativ spezialisiert haben, dass bei einem negativen ersten Konnekt für das zweite Konnekt die Interpretation einer Negation der für das zweite Konnekt zu interpretierenden Proposition abzuleiten ist, d.h. dass diese Negation unter der genannten Bedingung durch die Verwendung von geschweige gesetzt und ihr Ausdruck außerhalb von geschweige untersagt wird. Vgl. die folgende schematische Beschreibung der Gebrauchsbedingungen von geschweige:
(24) | geschweige bedeutet
|
wobei p die für das erste Konnekt und q die für das zweite Konnekt zu interpretierende Proposition ist und "+" für "Affirmation" steht.
Geschweige ist also in seiner heutigentags vorherrschenden Verwendung ein Konnektor, der die Bedeutung seines zweiten Konnekts negiert und an sein erstes Konnekt die Forderung stellt, dass die Negation der für das erste Konnekt zu interpretierenden Proposition interpretiert werden kann. Hierin geht geschweige mit noch aus weder ... noch zusammen. (Dieses noch teilt übrigens mit geschweige noch die syntaktische Besonderheit, dass es nicht wie ein Konjunktor vor einem Verbzweitsatz als zweitem Konnekt stehen kann, sondern nur dessen Vorfeld bilden kann. Vgl. Ich bin weder krank, noch habe ich zu wenig geschlafen/ *noch ich habe zu wenig geschlafen.)
Was die Bedeutungsaspekte von geschweige betrifft, die über die aussagenlogische Basis der Bedeutungen von geschweige, nämlich die logische Konjunktion, hinausgehen, so stellt die Beschreibung als 'understrecht' einen Notbehelf dar, denn was heißt erst recht? Eine Graduierung der Negationen, wie sie die erwähnte von Wörterbüchern angebotene Bedeutungsbeschreibung noch (viel) weniger suggeriert, kann hier nicht im Spiel sein, denn eine Graduierung der Negation ist nicht möglich. Es kann sich bei der Interpretation der neben der logischen Konjunktion anzunehmenden spezifischen Beziehung zwischen p und q nur um die Präsupposition einer weiteren Beziehung handeln. Bei dieser freilich könnte eine Graduierung im Spiel sein. Ich gehe davon aus, dass diese Beziehung die folgende Präsupposition (konventionelle Implikatur) ist: 'die Wahrscheinlichkeit, dass' q 'wahr ist, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass' p 'wahr ist'.
(24) | ist dann zu (24') abzuwandeln:
geschweige induziert die Präsupposition 'die Wahrscheinlichkeit, dass' q 'wahr ist, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass' p 'wahr ist'. geschweige induziert die Präsupposition 'die Wahrscheinlichkeit, dass' (q 'wahr ist, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass' p 'wahr ist'. |
(I-1) | Zwei Mittelgroße schließen sich da zusammen, ohne dadurch wirklich groß, geschweige denn stark zu werden. (Mannheimer Morgen, 21.01.88, S. 06: Eine Dame ohne Unterleib?) |
(I-2) | Nach ihrer Überzeugung hat der Bund darauf keinen Anspruch, da er allein mit der DDR verhandelt und die Länder unzureichend informiert werden, geschweige denn mitentscheiden können. (Die Zeit, 27.04.90, S. 27: Giftige Lobby) |
(I-3) | Ohne Predigt, vernunftgemäß und geruhig, wenn auch selbst tief ergriffen von meiner Kunde, will ich den Fragen Rede stehen, die ihr mit gerungenen Händen, unter vielen "ja, sag uns um Gottes willen" und "Mönch, erwäge doch, wie denn aber" stellen mögt, und deren erste natürlich dahin geht, wie sich derBüßer auf dem nackten Felsen denn auch nur kurze Zeit, geschweige denn siebzehn Jahre lang ernährt habe. (Thomas Mann: Der Erwählte. S. Fischer Verlag 1960, Bd. 7, Erste Buchausgabe: Frankfurt 1951, S. 190) |
II Negation im übergeordneten Satz
(II-1) | "Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß die CDU/CSU-geführte Bundesregierung auch nur solche Überlegungen angestellt hat, geschweige denn jemals dem Export des deutschen Atommülls zur Endlagerung in China zustimmen wird", sage er. (Mannheimer Morgen, 21.07.87, S. 01: Kritik an Atommüll-Export) |
(II-2) | "Ich habe drüben noch niemanden getroffen", behauptet Rolf Wernstedt, 50, Bildungsexperte der Niedersachsen-SPD, "der in der DDR eine Hauptschule einrichten, geschweige denn besuchen will". (Der Spiegel, 14.05.90), S. 42: Ein bißchen Zauberei) |
(II-3) | Auch viele kritische Mitglieder der SED blieben lieber in der inneren Emigration, als daß sie sich untereinander, geschweige denn mit der linken Opposition außerhalb der SED zu verständigen suchten. (Vereinigte Linke, Extraausgabe/Oktober 1989, S. 934-936, Dokumente, S. 934) |
Brockhaus-Wahrig (1981): Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden. Herausgegeben von Gerhard Wahrig, Hildegard Krämer, Harald Zimmermann. Dritter Band. Wiesbaden/Stuttgart.
Duden (1977): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. Band 3. Mannheim etc.
Duden (1993): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. Band 3. Mannheim etc.
HDG (1984): Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. In zwei Bänden. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Günter Kempcke. Band 1. Berlin.
Kürschner, Wilfried (1983): Studien zur Negation im Deutschen. Tübingen.
Pasch, Renate (1986): "Negationshaltige Konnektive. Eine Studie zu den Bedeutungen von ohne daß, statt daß, "Negation ... sondern" und weder ... . noch". In: Linguistische Studien des ZISW der AdW der DDR, Reihe A (Arbeitsberichte) 143. Berlin: 63-171.
Paul, Hermann (1992): Deutsches Wörterbuch. 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper-Jensen. Tübingen.
Shopen, Timothy (ed.) (1985): Language Typology and Syntactic Description. Vol. II: Complex Constructions. Cambridge.
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Weisgerber, Bernhard (1960): " 'Bevor' und 'bevor nicht'. Sprachdummheit oder Sprachausbau?" In: Muttersprache 70: 299-307.