Dialektologie ist in der deutschsprachigen Schweiz die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Sprache der Mehrheit der SchweizerInnen, denn in der diglossischen Situation der deutschsprachigen Schweiz nimmt die Mundart die Stellung der Alltagssprache ein. Eine Schichtung von Substandardvarietäten zwischen der Hochsprache und den Dialekten, wie sie in Deutschland und in Österreich vorkommt, existiert in der Schweiz kaum. Eine Ausnahme stellt das Dusselns dar, der Subsidiärdialekt der Deutschwalliser (K. Schnidrig 1986), der offenbar auch in Bosco Gurin vorkommt (C. V. J. Russ in diesem Band). Die schweizerische Alltags- oder Umgangssprache deckt sich also weitestgehend mit dem Dialekt. Dieser stellt dabei aber nicht eine Museumsvarietät der NORMs (non-mobile, old, rural men) dar, sondern ist als lebendige Varietät aller sozialen Schichten in kleinen Weilern und in den großen Städten offen für Einflüsse aus Nachbar- und Kultursprachen. Dementsprechend gibt es auch eine situative und soziolinguistische Variation innerhalb der Mundart. Das wird besonders im offenen System des Wortschatzes deutlich, wo Anglizismen genauso Einzug in die Mundart halten wie in die deutsche Standardsprache: Die hard disk existiert im Schweizerdeutschen ebenso wie in der Standardsprache, und die entsprechende deutsche Lehnbildung Festplatte findet sich in mundartlicher Lautung Feschtplatte auch im Schweizerdeutschen. Dagegen sind Morphologie und Lautung relativ stabil. Sie ermöglichen, wie H. Christen (1998) gezeigt hat, immer noch eine genaue geographische Zuordnung der meisten SprecherInnen des Schweizerdeutschen.
Diese starke Position des Dialekts hat zur Folge, dass Dialekte in der Schweiz schon sehr früh auch unter einer (prä-)soziolinguistischen Perspektive betrachtet wurden und nicht nur unter den klassischen Disziplinen der Lexikographie, Grammatik und Sprachgeographie. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in Basel und Bern Varietäten einzelner sozial unterschiedlicher Stadtquartiere als Sondersprachen unterschieden. Variationslinguistische Ansätze finden sich im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts immer wieder, und mit H. Wolfensbergers (1967) Arbeit zum Mundartwandel in Stäfa sind die bisherigen dialektologischen Konzepte dahingehend weiterentwickelt worden, dass sie in vielem dem Labovschen Ansatz entsprechen, ohne auf diesen zu rekurrieren. Die Soziolinguistik ist in der Schweiz deshalb nicht als neues Konzept aufzufassen, sondern in weiten Teilen als Weiterführung der Dialektologie, wobei natürlich neue Ansätze Einzug gehalten haben. Vielleicht nicht ganz in dieser pointierten Weise, in Grundzügen jedoch Ähnliches lässt sich zu pragmatischen, zu psycholinguistischen Fragestellungen, zur Spracherwerbs- wie auch zur Sprachkontaktforschung in der Schweiz sagen, die sich zumindest auf der Datenebene immer auch mit den mundartlichen Varietäten der Schweiz beschäftigen müssen. Gleichzeitig bieten die spontan gesprochenen Mundarten in ihrer pragmatischen und stilistischen Breite auch ein Testfeld für Theorien, die sich ursprünglich mehrheitlich an Standardvarietäten orientierten; um nur einige zu nennen: Kognitive Linguistik, Typologie, Kommunikationsforschung und Prosodieforschung.
In diesen Forschungssträngen sind auch die Beiträge in diesem Band von Linguistik online angesiedelt. Alle stellen Beschreibungen des Schweizerdeutschen aus unterschiedlicher Perspektive dar, sie sind in diesem Sinne dialektologische Arbeiten. Gleichzeitig zeichnet alle Beiträge ein jeweils spezifischer Blick von außen aus, sie lassen sich alle in gewisser Weise als Dialektologie 'vom Rand her' bezeichnen.
Als klassisch dialektologisch lässt sich Charles V. J. Russ' (York) Beschreibung der Mundart von Bosco Gurin bezeichnen. Aufgrund historischer Daten und aktueller Aufnahmen zeichnet C. V. J. Russ ein Bild der isolierten Sprachinselmundart, die sich in die Rheinwalder Gruppe der Walsermundarten einbettet, gleichzeitig auch durch die Kontaktsituation mit den tessinischen Varietäten und dem Italienischen geprägt ist und trotz und wegen dieser Einbettung und Sprachkontakten eine Eigenständigkeit entwickelt hat. C. V. J. Russ' Text ist eine Sicht auf die Peripherie des Schweizerdeutschen, denn die Tessiner Sprachinsel steht mit ihren weniger als hundert Einwohnern außerhalb des zusammenhängenden Gebietes des Schweizerdeutschen.
Lorenz Hofer (Basel) betrachtet dagegen den nördlichen Rand des Schweizerdeutschen. In "Sprachliche und politische Grenzen im (ehemaligen) Dialektkontinuum des Alemannischen am Beispiel der trinationalen Region Basel (Schweiz) in Karten von SprecherInnen" skizziert er im Sinne einer folk dialectology die Wahrnehmung sprachlicher Grenzen durch Basler Studierende. Der 'Rand' der Dialektologie offenbart sich insofern, als einerseits neben sprachlichen Grenzen vor allem die individuellen Wahrnehmungsgrenzen eine Rolle spielen, andererseits darin, dass mit der folk dialectology die Grenzen der traditionellen Dialektologie so weit überschritten werden, dass die Sprache selbst nicht mehr Teil der Untersuchung ist, sondern nur noch der Auslöser für individuelle Strukturierungen von Varietätenkonzepten.
Mit der Darstellung von "Linguistic Politeness and Greeting Rituals in German-speaking Switzerland" zeigt Felicity Rash (Queen Mary, London) einen anderen 'Rand' der Dialektologie. Es geht auch hier nicht um grammatische Strukturen, sondern um pragmatische Handlungszusammenhänge, in denen Sprache einen Teil der Kommunikation darstellt. F. Rash zeigt mit ethnographischem Blick - geschärft durch die externe Beobachterposition der Engländerin - wie SchweizerInnen Grußrituale vollziehen. Sprache, Dialekt wird damit als Ausdruck der deutschschweizerischen Kultur und Identität untersucht. Mit dieser Arbeit wird die in jüngerer Zeit vernachlässigte Zusammenarbeit von Volkskunde und Dialektologie aufgegriffen und dialektologische Forschung in den Zusammenhang der aktuellen Höflichkeitsdiskussion gestellt.
Raphael Berthele (Freiburg i. Ue.) zeigt in "Wenn viele Wege aus dem Fenster führen - Konzeptuelle Variation im Bereich von Bewegungsereignissen", wie die Dialektologie die Typologie befruchten kann, wenn nicht nur standardsprachliche Varietäten berücksichtigt werden. Einmal mehr werden die Dialekte damit zum Testfeld für Theorien aus anderen Teildisziplinen der Linguistik. Gleichzeitig wird auch deutlich, wie typologische Fragen für die Dialektologie fruchtbar gemacht werden können. Der 'Rand' zeigt sich hier als typologisch-semantisches Forschungsgebiet der Disziplin, das bislang ausgeblendet war und nun ins Blickfeld des Interesses gerückt wird.
Stephan Schmid (Zürich) geht mit der Untersuchung der "Vokalquantität in der Mundart der Stadt Zürich" zurück auf ein ursprüngliches Zentrum der Dialektologie: die Phonetik. Instrumentalphonetische Untersuchungen zum Schweizerdeutschen fristen aber im Gegensatz zu Untersuchungen mit auditiven Analysen innerhalb der Dialektologie eher eine Randexistenz, obwohl in den letzten Jahren jährlich mehrere Publikationen erschienen sind. S. Schmid zeigt, dass die phonologische Quantitätsopposition bei den Vokalen als phonetische Dauer realisiert wird, und er zeigt - sozusagen als Nebenprodukt auf qualitativer Ebene -, dass das Zürichdeutsche über ein vierstufiges Vokalsystem verfügt. Mit Antworten auf diese Fragen zur Organisation des Lautsystems gehört die Arbeit ins Zentrum der Dialektologie.
Die vorliegenden Aufsätze zeigen also die Vielschichtigkeit dialektologischer Fragen auf, die sich an das Schweizerdeutsche stellen lassen. Gerade die unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen der einzelnen Arbeiten machen aber deutlich, dass Grenzen einen zentralen Aspekt der Dialektologie darstellen. Dabei stehen die (sprach-)geographischen Grenzen schon seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum, während soziale, kommunikative, kognitive und mentale Grenzen später das Interesse geweckt haben, wie in diesem Band deutlich wird. Weil die Dialektologie mit ihrer empirischen Basis einen Beitrag leistet zur Überprüfung von Theorien, ist der wissenschaftliche Rand der Disziplin gleichzeitig konstitutiv für die Dialektologie.
Als Herausgeber möchte ich den AutorInnen herzlich für ihre Arbeit und den GutachterInnen für die Bewertung der eingereichten Manuskripte danken.
Christen, Helen (1998): Dialekt im Alltag. Eine empirische Untersuchung zur lokalen Komponente heutiger schweizerdeutscher Varietäten. Tübingen. (= RGL 201).
Schnidrig, Kurt (1986): Das Dusseln. Ein Subsidiärdialekt im Deutschwallis. Bern. (= Europäische Hochschulschriften I, 938).
Wolfensberger, Heinz (1967): Mundartwandel im 20. Jahrhundert. Dargestellt an Ausschnitten aus dem Sprachleben der Gemeinde Stäfa. Frauenfeld. (= Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung 14).