Editorial
Die Vermessung der Salienzforschung

Helen Christen (Freiburg i. Ü.), Evelyn Ziegler (Duisburg-Essen)

http://dx.doi.org/10.13092/lo.66.1568


 

Das vorliegende Themenheft versammelt neben ausgewählten Beiträgen, die in der Sektion "Wahrnehmungsdialektologie und Dialektsoziologie" auf dem IGDD Kongress 2012 an der CAU Kiel gehalten wurden, zusätzlich eingeworbene Beiträge. Die Idee zu diesem Themenheft ergab sich aus dem Umstand, dass eine ganze Reihe von Beiträgen der IGDD- Sektion "Wahrnehmungsdialektologie und Dialektsoziologie" auf das Salienz-Konzept fokussierte. Dieser Interessenkonvergenz, die so nicht vorhersehbar war, wollten die Herausgeberinnen mit einem Themenheft Rechnung tragen und quasi eine Stichprobe der Salienzforschung zusammenstellen. Diese Stichprobe zeichnet sich vor allen Dingen durch eine Pluralität von theoretischen Modellierungen und methodischen Zugängen aus. Dementsprechend stellt sich die hier präsentierte Salienzforschung als heterogenes Herantasten dar, denn DAS Salienzkonzept gibt es ebenso wenig wie es die die Methode zur Bestimmung von "physiologischer, kognitiver und soziolinguistischer Salienz", so die Einteilung von Auer (in diesem Themenheft), gibt. Insofern ist es schwierig, einen Massstab zu formulieren, an dem sich die verschiedenen Konzeptualisierungen (phänomenbezogene Definitionen, soziolinguistische Definitionen) und methodischen Zugänge (Analyse der Sprachwahrnehmung/-bewertung und des Sprachgebrauchs) der einzelnen Beiträge messen und vergleichen lassen können.

Als kleinster gemeinsamer Nenner der Beiträge kann gelten: Salienz ist ein Wahrnehmungsphänomen und dementsprechend könnte man in einer ersten präzisierenden Annäherung auch von perzeptueller Salienz sprechen. Aber schon die Frage, ob es um die Wahrnehmung des Hörers oder des Sprechers – sozusagen als erster Hörer, der seinen eigenen Sprachgebrauch hört und dabei den Höreindruck des Hörers antizipiert, insbesondere wenn es sich um einen bewusst intentionalen Sprachgebrauch handelt – geht, ist umstritten. Die meisten Beiträge (cf. Anders et al., Auer, Glauninger, Kiesewalter, Lorenz und Purschke) definieren Salienz als ein Phänomen, das die Wahrnehmung des Hörers betrifft. Die Beiträge von Hettler und Jansen bestimmen Salienz dagegen auch sprecherseitig, d.h. mit Blick auf die (erhöhte/geringere) Frequenz, mit der bestimmte Merkmale im Sprachgebrauch auftreten. In dieser Perspektive wird davon ausgegangen, dass sich die Sprecher über die Wahl spezifischer, d.h. salienter Merkmale sozial zu erkennen geben und positionieren – als Sprecher einer bestimmten Region oder als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe. In der jüngeren Forschung wird diese Praxis als stancetaking (cf. Johnstone 2007) bezeichnet. "Stancetaking" via Sprache ist eine Form der Selbstkategorisierung, der Identitätsmarkierung und sozialen Positionierung.

Das Erkenntnis leitende Interesse der Salienzforschung hat sich, das zeigen die Beiträge, in der letzten Zeit verschoben bzw. ist dabei sich zu verschieben. Lange Zeit stand die Frage im Vordergrund: Wann bzw. unter welchen Bedingungen werden sprachliche Merkmale auffällig?, wobei das "Wann" die Qualität und damit die intrinsischen Eigenschaften meint, die Salienz triggern. Es werden in der Forschung ganz verschiedene Qualitäten erwogen; Hickey (2000: 62–66) nennt unter anderem Systemeigenschaften wie die – von ihm phonologisch begründete – akustische Prominenz, homophone Merger, Systemkonformität, Deletion und Insertion, sowie grammatische Restrukturierung. Auch wenn davon auszugehen ist, dass Salienz sich solchen Eigenschaften bzw. Bündeln solcher Eigenschaften verdankt, so scheint es doch mehr als schwierig zu sein, bestimmte innersprachliche Faktoren für die Salienz eines spezifischen sprachlichen Merkmals isolieren zu können. Diese Suche nach begünstigenden Faktoren ist auch deshalb problematisch, weil potenziell alle sprachlichen Merkmale und Strukturen salient werden können. Da aber das Salienzpotenzial nicht entkoppelt von der sozialen Situation seine Wirkung entfaltet bzw. seine faktische Wirkung immer an gesellschaftliche Kontexte geknüpft ist (cf. Mattheier 2005: 1444), drängt sich eine neue Frage in den Vordergrund der Forschung, die noch nicht von allen gleichermassen aufgegriffen wird, nämlich: Wann und wodurch werden potenziell saliente Merkmal tatsächlich salient und ausserdem gesellschaftlich relevant, z. B. im Rahmen von Sprachwandelprozessen? Anders formuliert: Wie lässt sich die Emergenz "soziolinguistischer Salienz" erklären? Mit dieser Frage geraten aussersprachliche Faktoren, d. h. kollektive Wahrnehmungsschemata und Zuschreibungen wie soziale Stereotypisierungen, Stigmatisierungen und Prestigezuweisungen in den Mittelpunkt der Forschung. Wie aber kommt es zu solchen kollektiv wahrgenommenen Auffälligkeiten und Bewertungen?

In soziolinguistischer Perspektive sind also folgende Probleme zu klären:

  • Wie kommt es zur Emergenz von Salienz als sozialem und kulturellem Phänomen?
  • Wie läuft der Prozess der kollektiven Wahrnehmung sprachlicher Merkmale und Strukturen in einer Sprachgemeinschaft ab?
  • Welche sozialen Kategorien der Wahrnehmung im Sinne von Einstellungen, Stereotypen und Ideologemen bestimmen die Auto- und Heteroperzeption?
  • Nicht mehr die materiellen Eigenschaften eines sprachlichen Merkmals, sondern seine gesellschaftliche Bedeutung als subjektiv wahrgenommenes Phänomen wird untersucht. Damit geraten die Kategorien des gesellschaftlichen Wissens in den Fokus. Diese interessieren als kollektive Wahrnehmungsstrukturen, die als Stereotype geteilte Überzeugungen und Zuschreibungen zum Ausdruck bringen. Das soziale Moment wird dabei zweifach relevant: zum einen als sozialer Kontext, in dem Spracheinstellungen produziert und reproduziert wer­den (Entstehungs- und Bedingungskontext) und zum anderen als Evaluierungsschema, in das gesellschaftliche Stereotype einfliessen und so ein wertbesetztes Perzepturteil, eine soziale Etikettierung generie­ren (cf. Tophinke/Ziegler 2006). Da Spracheinstellungen der sozialen Positionierung die­nen und als sozial-erklärende oder sozial-differenzierende Wissensstrukturen zur Konstruk­tion von Identitäten und Alteritäten beitragen, sind sie immer gruppenspezifisch. Sie geben als sol­che einen Einblick in die jeweils spezifischen Relevanzsetzungen. Diese spezifischen Relevanzsetzungen bestimmen auch die Wahrnehmungskategorien, etwa ob die Verwendung bestimmter dialektaler Merkmale vorrangig unter identitären Aspekten (Selbstausdruck, soziale Abgrenzung) oder normativen Gesichtspunkten (situative Angemessenheit, sprachliche Korrektheit) wahrgenommen wird. Die Heterogenität der Wahr­nehmungskategorien ist insofern ein Spiegel sozialer Heterogenität.

    Wenn man Salienz nicht einfach nur als Wahrnehmungsphänomen versteht, sondern im Sinne von Auer als gesellschaftliches Phänomen der Bewertung, dann bieten sich zur Analyse dieser Bewertungsprozesse gesellschaftliche Theorien wie die der feinen Unterschiede (cf. Bourdieu 1987) oder auch die Theorie der Anerkennung (cf. Honneth 2010) an. Geht es Bourdieu primär um Praktiken der Distinktion, ausgeübt von "klassifizierenden Subjekten" (Bourdieu 1987: 752) und der damit verbundenen Kommunikation von Prestige oder Stigmatisierungs-merkmalen, so geht es Honneth in einer intersubjektiven Perspektive um die Kommunikation von gesellschaftlicher Anerkennung oder Nicht-Anerkennung. In beiden Theorieansätzen wird nicht nur der Ort dieser für die Salienz relevanten gesellschaftlichen Bewertungsprozesse in den Blick genommen, sondern auch das Wie dieser Bewertungsprozesse analysierbar. Während Bourdieu diesen Distinktionsprozessen ein instrumentell motiviertes Handeln unterstellt, geht es Honneth einmal um die Behebung eines Mangels an Anerkennung (ersichtlich z. B. in Hyperkorrekturen) und um das Streben nach wechselseitiger Anerkennung (ersichtlich z. B. in Akkommodationsprozessen).

    Die Forschung hat sich bisher hauptsächlich mit der Salienz phonetisch-phonologischer Merkmale beschäftigt. In der Fokussierung auf diese Systemebene, aber auch auf das vertikale Dialekt-Standardspektrum spiegelt sich die dialektologische Tradition, aus der die Salienzforschung hervorgegangen ist. Da Salienz prinzipiell aber auf allen sprachlichen Rängen vorkommen kann und nicht auf die diatopische Variationsdimension beschränkt ist, müssten auch alle Sprachebenen und der gesamte sprachliche Variantenraum untersucht werden. Im vorliegenden Themenheft deuten sich die neuen Forschungsfelder bereits an; so untersucht etwa Jansen neben lautlichen Grössen auch drei Diskursmarker. Gerade von Untersuchungen zu Phänomenen höherer sprachlicher Beschreibungsebenen, wie dies etwa "kommunikative Praktiken" (cf. Linke 2010: 259), z. B. Formen des Begrüssens, des Bedankens, des Entschuldigens, sind, darf man sich für die Salienz-Forschung Relevantes versprechen, kann mit Linke (op. cit.) doch argumentiert werden, dass kommunikative Praktiken im Spracherwerb bewusst, d.h. durch gezielte Instruktion in konkreten Interaktionszusammenhängen gelernt werden. Auch Merkmale geschriebener Sprache resp. des Schreibens als social practice (cf. Sebba 2012) könnten aus der Perspektive der Salienz betrachtet werden. Aus historischer Perspektive sind Merkmale interessant, die sich in ihrer Thematisierung durch zeitliche Kontinuität auszeichnen und als Elemente des Alltagswissens die Wahrnehmung steuern.

    Die zuletzt genannten Bereiche sind insofern untersuchungswürdig, weil sie die Prozesse der Genese und Tradierung des Wissens um saliente Sprachmerkmale transparent machen. Wie diese Prozesse untersucht werden können, zeigt beispielhaft die materialreiche Studie von Davies und Langer (2006) zur Geschichte der Stigmatisierung morphosyntaktischer Merkmale im Rahmen der Standardisierung des Deutschen. Als Grundlage der untersuchten "salient Zweifelsfälle of modern German" (so der Klappentext) dienen Texte von Grammatikern und sprachinteressierten Laien in der Zeit von 1600 bis 2005, die verschiedene Gründe der Stigmatisierung und ihrer Dauerhaftigkeit zu erkennen geben. Für diesen Zusammenhang könnte sich möglicherweise auch das Konzept des enregisterment, wie es von Agha (2003) eingeführt wurde, als fruchtbar erweisen. Am Beispiel der Received Pronounciation zeigt er die im sozialen und zeitlichen Raum verlaufenden Prozesse, innerhalb derer ein bestimmtes sprachliches Register den Rang eines gesellschaftlichen Statussymbols erwerben kann.

    Vernachlässigt wird bisher auch die soziolinguistisch sensibilisierte Untersuchung von Einflussfaktoren der Wahrnehmungssituation. Nicht nur bei den Merkmalen, die bisher in den Fokus der Salienzforschung geraten sind, macht sich der dialektologische Traditionsstrang bemerkbar, sondern auch bei den empirischen Methoden: Experimente und elizitierte Hörerurteile sind die bisher am meisten genutzten Erhebungsinstrumente in der Salienzforschung (cf. Anders et al., Hettler, Jansen, Kiesewalter, Lorenz in diesem Themenheft). Ohne die Resultate aus solchen Untersuchungen als methodische Artefakte diskreditieren zu wollen – sie haben die gleiche Berechtigung wie elizitierte objektsprachliche Daten – so ist doch zu fordern, dass das Methodeninventar zu ergänzen ist um die Analyse von (sprachlichem) Handeln in sozialen Kontexten, die nicht für wissenschaftliche Zwecke arrangiert wurden (cf. Auer in diesem Band). Erst "in vivo"-Daten (cf. Macha 1991) können erhellen, welche situativen Faktoren und welche sozialen Faktoren der beteiligten Interaktanten Salienz als Wahrnehmungsphänomen beeinflussen. Wie dies Deppermann/Helmer (2013) für die Herausbildung des gesprochenen Standarddeutschen geltend machen, wären für das Aufzeigen des sozialen Wirksamwerdens salienter Grössen sowohl die Arbeit mit grossen Korpora unterschiedlicher Textgattungen als auch Einzelbeschreibungen von Mikrokontexten vonnöten. Und zweifellos braucht es weiterhin ein Nachdenken über die angemessene Modellierung von Salienz als einer linguistisch relevanten Grösse der Wahrnehmung, wozu die Beiträge von Auer, Glauninger und Purschke in diesem Themenheft einen – wie wir hoffen: nachhaltigen – Anstoss geben.

    Danken möchten wir der Herausgeberin der Zeitschrift Linguistik online, Elke Hentschel, und ihrem Team für die Aufnahme des Themenheftes sowie Rebecca Minder für ihr gewissenhaftes Korrektorat. Darüber hinaus gilt unser besonderer Dank den Gutachterinnen und Gutachtern, die mit ihrer Kritik und ihren konstruktiven Hinweisen das Themenheft entscheidend mitgeprägt und zur Kohärenz der Aufsätze beigetragen haben.


    Literatur

    Agha, Asif (2003): "The Social Life of Cultural Value". Language and Communication 23: 231–273.

    Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Davies, Winifred/Langer, Nils (2006): The Making of Bad Language. Lay Linguistic Stigmatisations in German: Past and Present. Frankfurt a. M.: P. Lang.

    Deppermann, Arnulf/Helmer, Henrike (2013): "Standard des gesprochenen Deutsch. Begriff, methodische Zugänge und Phänomene aus interaktionslinguistischer Sicht". In: Hagemann, Jörg et al. (eds.): Pragmatischer Standard. Tübingen, Stauffenburg: 111–142.

    Hickey, Raymond (2000): "Salience, Stigma and Standard". In: Wright, Laura (ed.): The Development of Sandard English 13001800. Theories, Descriptions, Conflicts. London, Cambridge University Press: 57–72.

    Honneth, Axel (2010): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 6. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Johnstone, Barbara (2007): "Linking Dialect and Identity through Stancetaking". In: Englebretson, Robert (ed.):Stancetaking in Discourse. Subjectivity, Evaluation, Interaction. Amsterdam/Philadelphia, Benjamins: 49–68. (= Pragmatics & Beyond New Series 164).

    Linke, Angelika (2010): "'Varietät' vs. ‚kommunikative Praktik'. Welcher Zugang nützt der Sprachgeschichte?" In: Gilles, Peter/Scharloth, Joachim/Ziegler, Evelyn (eds.): Variatio delectat. Empirische Evidenzen und theoretische Passungen sprachlicher Variation. Frankfurt a. M., P. Lang: 255–273.

    Macha, Jürgen (1991): Der flexible Sprecher. Köln: Böhlau.

    Mattheier, Klaus (2005): "Dialektsoziologie". In: Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus (eds.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/New York, de Gruyter: 1436–1446.

    Sebba, Mark (2012): "Orthography as Social Action. Scripts, Spelling, Identity and Power". In: Jaffe, Alexandra et al. (eds.): Orthography as Social Action. Scripts, Spelling, Identity and Power. Berlin/New York, de Gruyter: 1–20. (= Language and Social Processes 3).

    Tophinke, Doris/Ziegler, Evelyn (2006): "'Aber bitte im Kontext': Neue Perspektiven in der dialektologischen Einstellungsforschung". In: Voeste, Anja/Gessinger, Joachim (eds.): Dialekt im Wandel. Perspektiven einer neuen Dialektologie: 203–222. (= Obst 71).