http://dx.doi.org/10.13092/lo.76.2811
Bei den Aufsätzen, die im vorliegenden Themenheft versammelt sind, handelt es sich um die überarbeiteten Versionen der Präsentationen der TeilnehmerInnen am taiwanesisch – österreichischen Symposion „Wissenschaftliche Schreibforschung in Österreich und Taiwan: Ergebnisse, Perspektiven und gemeinsame Interessen“, das am 3. und 4. Oktober 2014 an der National Kaohsiung First University of Science and Technology stattgefunden und vom österreichischen FWF unter der Projektnummer AJS 372 sowie von MOST, Taiwan und der Kulturabteilung der österreichischen Botschaft in Taiwan finanziell gefördert wurde.
Die terminologische und konzeptuelle Vielfalt jenes Zweiges der Schreibforschung, der sich mit Unterschieden (und nur sehr selten mit den Übereinstimmungen) zwischen wissenschaftlichen Aufsätzen beschäftigt, die in verschiedenen Sprachen (bzw. in verschiedenen Disziplinen) verfasst wurden, spiegelt wahrscheinlich auch die Unsicherheit über die generelle Adäquatheit des Kulturkonzepts wider, die – mit zeitlicher Verzögerung – auch die kulturvergleichende, interkulturelle oder transkulturelle Schreibforschung erfasst hat. Liest man den folgenden Ausschnitt aus dem Standardwerk „Culture“ der beiden Stammväter der amerikanischen Ethnographie, Kroeber/Kluckhohn, so könnte dieses Zitat auch als Leitmotiv für die frühen kulturvergleichenden Studien des wissenschaftlichen Schreibens gedient haben, wie sie von Kaplan (1966) begründet wurde (für einen Überblick über diese frühe Forschung s. Connor 1996):
(Kroeber/Kluckhohn 1966: 357)
Trotzdem hat sich bereits in diesen frühen Untersuchungen die Problematik eines statischen, verallgemeinernden Kulturbegriffs wie er im obigen Zitat formuliert wird, darin gezeigt, dass weder in der klassischen Studie von Kaplan, noch in jenen Untersuchungen, die die rhetorischen Unterschiede, die zwischen wissenschaftlichen Texten verschiedener Sprachen gefunden wurden, auf Galtungs „intellektuelle Stile“ (vgl. Galtung 1985) zurückführten, die für die textuellen Unterschiede verantwortlichen „Kulturen“ wirklich überzeugend und nachvollziehbar definiert werden konnten. Kaplan etwa subsumiert unter seiner Kulturbezeichnung „Orientalisch“ typologisch völlig verschiedene Sprachen, deren „kulturelle“ Gemeinsamkeit darin besteht, alle geographisch im fern(er)en Osten lokalisiert zu sein.
Für Galtungs Klassifikation intellektueller Stile (obwohl mit Bezeichnungen versehen, die eine Verbindung zu geographisch-sprachlich definierten Entitäten nahe legen) sind hauptsächlich Merkmale der (universitären) Wissenschaftsorganisation ausschlaggebend. Anders ist es nicht zu erklären, dass er den slawischen intellektuellen Stil aufgrund der weitgehend aus dem deutschen Sprachraum übernommenen Art der Universitäts- und Wissenschaftsorganisation dem „teutonischen“ Stil zuschlägt und die skandinavischen Länder weitgehend mit dem „sachsonischen“ Stil identifiziert.
Methodisch ist für diese frühen kulturvergleichenden Untersuchungen der (schriftlichen) Wissenschaftsrhetorik typisch, dass sie weitgehend produkt- ( d.h. text-) orientiert waren, die Ergebnisse ihrer Textuntersuchungen auf globale wissenschaftliche Sprachkulturen verallgemeinerten und sehr häufig englische wissenschaftliche Aufsätze (research articles) als Bezugsgröße für die Untersuchung von „Differenzen“ zwischen englischsprachigen Texten und Texten in der Sprache „X“ dienten.
Diese frühen kulturvergleichenden Studien der Wissenschaftsrhetorik wurden bereits seit den 90er Jahren als zu generalisierend kritisiert (vgl. Connor 2004) und die sog. „interkulturelle Rhetorik“ als neues Paradigma der kontrastiven wissenschaftlichen Schreibforschung ausgerufen, das der zunehmenden Internationalisierung des Wissenschaftsbetriebs und seiner gleichzeitigen internen Differenzierung und Hybridisierung (durch interdisziplinäre Zusammenarbeiten) Rechnung tragen sollte (vgl. Connor 2004). Die „großen“ (Sprach-) Kulturen werden in diesem Ansatz durch „kleine“ (fach- und institutionenspezifische) Kulturen ergänzt bzw. modifiziert (vgl. Atkinson 2004; Holliday 1999).
Dieser Ansatz ist auch mit neueren Ansätzen in der disziplinspezifischen Schreibforschung kompatibel. Parallel zum kulturvergleichenden Paradigma hat sich während der 80er Jahre mit den interdisziplinären New Rhetoric Studies zur Wissenschaftskommunikation (vgl. beispielhaft Bazerman 1988; Berkenkotter/Huckin 1995) eine zweite Forschungsrichtung etabliert, deren zentrales explanatives Konzept das der (fachspezifischen) „Kultur“ ist. Während Aspekte der „sprachlichen“ Kultur hier bis vor Kurzem keine große Rolle spielten (Ausnahmen stellen einige neuere Arbeiten dar, die die Wichtigkeit „lokaler“ Wissenschaftssprachen abseits des Englischen für die individuelle Wissenschaftssozialisation betonen, vgl. Gnutzmann/Rabe 2014; Hyland 2009a, 2013; Mauranen/Perez-Llantada/Swales 2010), liegt dem Konzept der fachspezifischen Wissenschaftskulturen häufig ein ähnliches Kulturkonzept zugrunde wie es im obigen Zitat von Kroeber/Kluckhohn zum Ausdruck kommt (vgl. z. B. Arnold et al. 2001). Erst in neueren Arbeiten im Rahmen des sog. Academic Literacies Ansatzes (Barton/Hamilton 2000; Clark/Ivanič 1997; Jones/ Turner/Street 1999; Lea 1999) werden neben den (umfassenden) disziplinspezifischen auch lokale institutionelle und individuelle biographische Faktoren zur Erklärung der Entwicklung (unterschiedlicher) wissenschaftlicher Schreibkompetenzen herangezogen. Dieser Ansatz vermeidet verallgemeinernde Erklärungen für unterschiedliche wissenschaftliche Schreibkompetenzen und versucht sie stattdessen weitgehend aus dem Zusammenspiel fachspezifischer, institutioneller und biographischer Faktoren zu erklären. Damit reichen diese Erklärungen häufig aber auch nicht weit über die (intensiv untersuchten und dokumentierten) Einzelfallstudien hinaus.
Während also in der interkulturellen Rhetorik die Unzulänglichkeiten des traditionellen Kulturkonzepts mittels Zusatzannahmen kompensiert werden sollen (was ein bisschen an die Versuche erinnert, die Unregelmäßigkeiten der Planetenbahnen, die sich im ptolemäischen geozentrischen Weltbild ergaben, durch die Annahme von zusätzlichen Epizykel in Einklang mit den empirischen Beobachtungen zu bringen), verabschiedet sich der Wissenschaftsliteralitäten Ansatz weitgehend von generalisierenden Interpretationen und beschränkt sich auf die akribische Dokumentation und Interpretation von Einzelfällen. Dennoch sagt uns unsere Alltagserfahrung im Wissenschaftsbetrieb, dass es Unterschiede zwischen den Schreib- und Kommunikationsstilen von WissenschaftlerInnen mit offensichtlich verschiedener geographischer wie auch fachlicher Wissenschaftssozialisation gibt.
In einem nun schon 10 Jahre alten Aufsatz hat einer der frühen Kritiker eines statischen Kulturbegriffs in der Ethnographie, Michael Agar (2006), den traditionellen, statischen und generalisierenden Kulturbegriff der frühen ethnographischen Forschung einem prozesshaften, relationalen Begriff von Kultur als Übersetzungsleistung gegenüber gestellt. Nach Agars Konzeption erleben wir immer wieder „reichhaltige Momente“ (rich points) mit Personen (bzw. ihren sprachlichen Handlungen, ihrer „Linguakultur“), die offensichtlich bestimmte Gemeinsamkeiten haben. Reichhaltige Momente sind Erfahrungen, in denen wir irgendetwas am Handeln der anderen Person nicht problemlos verstehen und mit unseren Erwartungshaltungen in Einklang bringen können und deshalb versuchen, die problematische Handlung in unser Voraussetzungssystem zu übersetzen. Das Ergebnis dieser Übersetzungsarbeit sind Annahmen über die Kultur des/der „Anderen“:
(Agar 2006, n. p.)
Die Annahmen über „Kultur“ sind dabei vorläufige Theorien „mittlerer Reichweite“ (vgl. Albert 2008), die tentativ erklären sollen, warum ein reichhaltiger Moment aufgetreten ist und welche Gründe er haben könnte. Dieses Kulturkonzept ist relational, es setzt voraus, dass eine Person (mit einem bestimmten sozialen, individuellen etc.) Hintergrund Hypothesen über die Handlungen einer anderen Person (mit einem merkbar anderen sozialen, individuellen etc.) Hintergrund aufstellt, um zu verstehen, warum der/die Andere so handelt wie sie handelt. Es ist aber auch relativ (nicht aber relativistisch), denn je nachdem von welchem Ausgangspunkt („Ausgangskultur“) die Handlungen des/der Anderen „übersetzt“ werden, werden sich unterschiedliche Arbeitshypothesen über deren „Kultur“ ergeben. Und schließlich ist dieses Kulturkonzept selbstreflexiv, d. h. es zwingt die Person, die eine „Arbeitshypothese“ bildet um die musterhaften Handlungen anderer zu verstehen, sich darüber bewusst zu werden, wieso bestimmte Handlungsmuster den eigenen Erwartungen widersprechen und welche eigenen Erwartungsmuster bei der „Übersetzung“ involviert sind. Inwiefern kann (oder könnte) uns ein derartiges Kulturkonzept in der Untersuchung nationaler und fachspezifischer Wissenschaftskulturen zu neuen Erkenntnissen verhelfen? Zum Ersten würde die Anwendung des „Kultur als Arbeitshypothese“-Konzepts vor vorschnellen Generalisierungen über nationale oder disziplinäre Schreibkulturen schützen. Denn es erinnert uns immer daran, dass wir es bei bestimmten Textmerkmalen, die uns einen „reichhaltigen Moment“ (d. h. ein Verständnisproblem) bescheren, unter Umständen mit lokalen Besonderheiten einer (definierbaren) Gruppe von wissenschaftlich Schreibenden zu tun haben könnten. Darüber hinaus impliziert dieses Kulturkonzept, dass ein Textmerkmal, das für einen Untersuchenden zu einem „reichhaltigen Moment“ führt, für einen anderen mit anderem sprachlichen und/oder fachlichen Hintergrund nicht oder in anderer Form manifest werden würde.
Das führt uns zum zweiten Punkt, nämlich dass dieses Konzept uns vor der oft konstatierten „anglozentristischen“ (oder auch jeder anderen „Sprache ‚X‘-zentristischen“) Sichtweise der Unterschiede zwischen sprachspezifischen Schreibkulturen bewahren würde. Denn jede Untersuchung eines „kulturellen Kontrasts“ würde es erfordern, nicht nur die (rhetorischen) Besonderheiten in den Texten der Zielsprache sondern auch die der Ausgangssprache zu dokumentieren und zu untersuchen um die „reichhaltigen Momente“ und die jeweilige Übersetzungsleistung, die sie (in beide Richtungen) erfordern, überhaupt erst nachvollziehbar zu machen. Eine derartige reflexive Untersuchungsperspektive hätte auch wichtige Anwendungsgesichtspunkte, denn die rhetorischen Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Aufsätzen in zwei verschiedenen Sprachen (oder auch Disziplinen) würden dann immer aus zwei Blickwinkeln (bzw. von zwei Ausgangspunkten aus) modelliert werden müssen – einmal aus dem Blickwinkel von Sprache (oder Disziplin) X und dann aus dem Blickwinkel der Sprache (oder Disziplin) Y. Das hätte den anwendungsorientierten Vorteil, dass aus einer derartigen Untersuchung leicht didaktische Konzepte für Angehörige beider Sprachen oder Disziplinen entwickelt werden könnten.
In welchen Bereichen sind nun „reichhaltige Momente“ zu erwarten, wenn deutsche bzw. chinesische wissenschaftliche Aufsätze als Ausgangspunkt genommen werden und welche zusätzlichen Faktoren müssten beachtet werden? – Der folgende kurze Literaturüberblick über bisherige Untersuchungen zu den sprachlich-rhetorischen Merkmalen von wissenschaftlichen Aufsätzen in den beiden Sprachen kann als Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen dienen. Vorauszuschicken ist, dass wissenschaftliche Aufsätze in beiden Sprachen (sowohl im älteren kulturvergleichenden wie auch im neueren interkulturellen Forschungsparadigma) zum größten Teil mit englischsprachigen Texten (und damit mit „der“ Lingua Franca des modernen Wissenschaftsbereichs) verglichen wurden, womit auch ihre je spezifischen Merkmale auf dieser Folie zu interpretieren sind. Direkte Vergleiche zwischen deutschsprachigen und chinesischen wissenschaftlichen Aufsätzen fehlen bisher. Generell hat sich gezeigt, dass sich bei Texten aus den Natur- und Sozialwissenschaften (Texte aus typischen geisteswissenschaftlichen Fächern wie Geschichte oder Literaturwissenschaft wurden bisher keinerlei kontrastiv-rhetorischen Analysen unterzogen) Unterschiede kaum auf der makrotextuellen Ebene aber dafür umso mehr auf der meso- und mikrotextuellen Ebene zeigten (für das Deutsche s. etwa Gnutzmann/Lange 1990; Busch-Lauer 2001; Hutz 1997; Oldenburg 1992; Petkova-Kessanlis 2009; für das Chinesische s. z. B. Taylor/Chen 1991; Loi 2010). Makro- und mesotextuelle Textmerkmale wurde dabei meist unter Anwendung des Swalesschen Textsortenmodells in seiner „klassischen“ Version (Swales 1993) festgestellt, in den meisten Fällen wurden allerdings keine vollständigen Texte sondern häufig nur funktionale Textabschnitte wie Einleitungen (Gnutzmann/Lange 1990; Taylor/Chen 1991, Loi 2010), Abstracts (Busch-Lauer 2001; Hutz 1997) oder Zusammenfassungen (Oldenburg 1992) untersucht. Dabei zeigte sich, dass die im Swalesschen Modell für die jeweiligen funktionalen Textabschnitte angenommenen rhetorischen „Züge“ (moves) sich auch in den jeweiligen deutschen oder chinesischen Textteilen fanden, aber zum Teil in anderen Reihenfolgen oder in unterschiedlicher Ausführlichkeit.
Die Relevanz des ersteren Ergebnisses wird allerdings dadurch relativiert, dass Swales (2004) in einer späteren Reformulierung seines eigenen Modells die strikte lineare Abfolge von Zügen innerhalb einzelner funktionaler Abschnitte, die in seinem Modell von 1993 vorgesehen ist, zugunsten von zyklischen Strukturen, in denen einzelne Züge wiederholt werden können, aufgegeben hat. Darüber hinaus fanden Lin (2014) und Lin/Evans (2012) in einer Untersuchung von (englischsprachigen) wissenschaftlichen Aufsätzen aus verschiedenen technischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen Makrostrukturen, die nicht der klassischen IMRD Struktur entsprechen, sondern einen Literaturüberblick zwischen der Einleitung und dem Methodenteil enthalten und somit eine ILMRD Struktur (Lin/Evans 2012) realisieren. Das Swalesssche Modell scheint damit bei weitem nicht jene disziplinübergreifende Gültigkeit zu haben, die häufig unterstellt wurde und wird. Darüber hinaus wurden in jenen Studien, die deutschsprachige mit englischsprachigen Aufsätzen verglichen, in sprachwissenschaftlichen Aufsätzen stärkere sprachspezifische Unterschiede als in sozial- oder naturwissenschaftlichen Texten gefunden. Auf die Relevanz der jeweiligen Disziplin, in der ein Forschungsaufsatz verfasst wird, weisen auch die Resultate von Grays (2011) korpuslinguistischer Untersuchung von Aufsätzen hin, die in sechs verschiedenen Disziplinen verfasst wurden. Ihre Ergebnisse legen es nahe, die Idee, dass es – in einer Sprache (nämlich dem Englischen) – eine einzige Textsorte „wissenschaftlicher Aufsatz“ geben könnte, überhaupt aufzugeben und vielmehr von einer „Textsortenkolonie“ (Bhatia 2004) der wissenschaftlichen Aufsatzgenres zu sprechen.
Die unterschiedliche Ausführlichkeit mit der einzelne Züge im Vergleich zum Englischen realisiert werden (s. etwa Loi 2010) weist auf die Bedeutung der mikrotextuellen Ebene für etwaige sprachspezifische Unterschiede hin. Loi (2010) fand in ihrer Untersuchung, dass chinesische Schreibende, obwohl sie im Prinzip die gleichen rhetorischen Züge wie englischsprachige AutorInnen in ihren Einleitungen realisieren, diese weniger ausführlich gestalten, weil sie weniger Bezüge zur Forschungsliteratur herstellen und keine Hypothesen präsentieren. Auch Trumpp’s (1998) Vergleich von englischen, französischen und deutschen Aufsätzen aus der Sportwissenschaft zeigte die größten Unterschiede auf der mikro-textuellen Ebene im Bereich des Ausdrucks der Sprecherperspektive, d. h. der sprachlichen Mittel, die AutorInnen einsetzen, um ihren eigenen Standpunkt zur Forschungsliteratur zum Ausdruck zu bringen.
Ein Vergleich verschiedener Formen der Intertextualität in deutschen und englischen Forschungsaufsätzen aus der Sprachwissenschaft weist (neben den sprachspezifischen Unterschieden, die gefunden wurden) auf eine weitere wichtige Variable hin, nämlich die unterschiedliche Schreiberfahrung (und damit das Ausmass ihrer wissenschaftlichen Sozialisation) von wissenschaftlichen Schreibenden (vgl. Griffig 2006). Der Unterschied zwischen „Neulingen“ und „geübten Schreibenden“ wurde bisher sehr selten und hauptsächlich im Rahmen von Einzelfallstudien (Berkenkotter/Huckin 1995; Dressen-Hammouda 2008; Lillis 2001) untersucht, jedoch (mit der Ausnahme von Griffigs (2006) Studie) nicht im Rahmen größerer empirischer Untersuchungen. Das Ausmaß der wissenschaftlichen Schreiberfahrung von AutorInnen könnte damit eine wichtige, wenn auch noch kaum untersuchte, Variable in Forschungsdesigns in der interkulturellen Rhetorik darstellen, wobei unterschiedliche Effekte dieser Variable denkbar sind. Einerseits könnten Schreibende mit einer noch wenig gefestigten Schreibkompetenz in ihrer jeweiligen L1 Texte produzieren, die systematisch (oder auch unsystematisch) von den Texten geübter Schreibender in der jeweiligen L1 abweichen. Andererseits könnten die Texte dieser Gruppe auch systematisch und ausgeprägt Textmerkmale der in den meisten Fächern dominanten Publikationssprache Englisch aufweisen, weil auch Neulinge vielfach die Fachliteratur in dieser Sprache rezipieren. Diese beiden Hypothesen sind allerdings empirisch noch nicht überprüft worden.
Dieser kurze Forschungsüberblick weist darauf hin, dass eine Reihe von Faktoren für die Entstehung „reichhaltiger Momente“ in der schriftlichen Wissenschaftskommunikation verantwortlich sein kann und damit auch, dass diese Faktoren berücksichtigt werden müssen, wenn in die Ergebnisse eines konkreten Vergleichs interpretiert werden sollen. Zu den Faktoren, die der Überblick als potentiell relevant ausweist, gehören neben der Sprache (bzw. sprachlichen Kultur oder „Linguakultur“, Agar 2006) auch die Textebene (d. h. die textuelle Makro-, Meso- oder Mikrostruktur), die Disziplin oder Subdisziplin, in der ein Text verfasst wurde, sowie die Schreiberfahrung des/der AutorIn. Die Auflistung dieser Faktoren zeigt auch, dass systematische Vergleiche zwischen unterschiedlichen „Kulturen“ entweder nur einen sehr begrenzten Bereich untersuchen können und damit auch Ergebnisse von sehr begrenzter Reichweite erbringen können, oder relativ umfassend angelegt sein müssen um allen relevanten Variablen und ihrem möglichen Einfluss Rechnung zu tragen.
Die Beiträge in diesem Themenheft verstehen sich als „bottom-up Studien“ (Agar 2006), die mögliche reichhaltige Momente anhand von differenzierten Einzelfallstudien aufzeigen können, die allerdings dann in einer (oder mehreren) umfassenderen empirischen Untersuchungen systematisch erhoben und analysiert werden müssten. Einige fokussieren auf die Untersuchung (sub-)disziplinärer Unterschiede innerhalb einer Sprache, andere haben die (potentiellen) Unterschiede zwischen chinesischen und deutschen wissenschaftlichen Aufsätzen im Blick. Die Reihenfolge der Aufsätze orientiert sich an der Textebene, deren Untersuchung im jeweiligen Beitrag im Mittelpunkt steht: von Makro- über die Meso- zur Mikroebene.
Helmut Gruber vergleicht in seiner Fallstudie einen wissenschaftlichen Aufsatz, der in einem Seminar zur Personalwirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien als einer von mehreren Pflichtlektüretexten gedient hatte, mit der am besten beurteilten Seminararbeit eines Studenten aus diesem Seminar in Bezug auf die makrostrukturelle Gliederung der beiden Arbeiten. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei der unterschiedlichen institutionellen Stellung der beiden Autoren und dem möglichen Einfluss, den diese divergierenden institutionellen Positionen auf Merkmale der Textstruktur haben können. Die Analyse der beiden Texte erfolgt auf der Makroebene der Gesamttexte und der Mikroebene der beiden Einleitungssequenzen. Da es sich bei dem „professionellen“ Text um eine Pflichtlektüre des Seminars handelt, ist eine Annahme, die der Analyse voraus geht, dass eventuelle makro- und mikrotextuelle Merkmale dieses Texts auch als „Vorbild“ für die studentischen Texte in diesem Seminar gedient haben könnten. Die Analyse beider Textebenen zeigt aber, dass das nicht der Fall ist. Die Untersuchung der Makrotextstruktur zeigt überraschenderweise, dass der studentische Text dem Swalesschen „CARS“-Modell eher entspricht als der „professionelle“ Text, der kaum Gliederungssignale aufweist und in seiner Struktur nur teilweise einem „social science research article“ entspricht. Der Vergleich der Textmikrostrukturen zeigt ebenfalls, dass der studentische Text ausschließlich (aber nicht alle) Phasen realisiert, die das Swalessche Modell postuliert, während der professionelle Text auch hier eine idiosynkratische Struktur aufweist. Allerdings ist die Einleitung des professionellen Texts durchgehend argumentativ, während die studentische Einleitung bei einer tiefergehenden Analyse ihrer rhetorischen Struktur zeigt, dass die Phasen, die das Swalessche Modell vorsieht, nur oberflächlich „simuliert“ werden, während die tatsächlich argumentative Herleitung einer Fragestellung fehlt. Gruber interpretiert diese Resultate abschließend einerseits dahingehend, dass die jeweiligen Textmerkmale den institutionellen und kompetenzmäßigen Status der beiden Autoren widerspiegeln (Student und Neuling im Fach vs. etablierter Fachmann und geübter Schreiber), andererseits aber auch als Indiz dafür, dass deutschsprachige sozialwissenschaftliche Aufsätze auch Textstrukturen aufweisen können, die von den in der Literatur immer wieder beschriebenen Mustern stark abweichen, aber trotzdem funktional sind.
Shing-Lung Chen vergleicht die Einleitungen deutscher und chinesischer germanistisch-linguistischer Magisterarbeiten. Nach einem Überblick über den Forschungsstand zum wissenschaftlichen Schreiben Studierender mit Deutsch als L1 sowie zum deutschsprachigen Schreiben von Studierenden, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, untersucht sie ein Korpus von Einleitungen aus 30 Magisterarbeiten von Studierenden mit Deutsch als Muttersprache und 30 chinesischsprachigen Einleitungen von taiwanesischen Germanistikstudierenden. Dabei wendet sie das Swalessche CARS Modell für Einleitungen an und untersucht quantitativ und qualitativ welche Phasen und Züge in den Einleitungen der Magisterarbeiten aus den beiden Sprachen vorkommen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einleitungen in beiden Sprachen alle drei Phasen realisieren, die das Swalessche Modell annimmt, allerdings werden innerhalb dieser Phasen zum Teil unterschiedliche Züge realisiert (oder stärker gewichtet). Während chinesische Studierende einen Schwerpunkt auf die Darstellung der Wichtigkeit ihrer Untersuchung legen, gehen die deutschsprachigen Studierenden am Beginn der Einleitung häufiger auf die Fachliteratur ein um in der Folge Forschungslücken aufzuzeigen. Chinesische Studierende motivieren ihre Arbeit dafür häufiger mit persönlichen Erfahrungen und kündigen dann die Eigenschaften ihrer Arbeit an, während deutschsprachige Studierende die Einleitung häufig mit der Präsentation der Forschungshypothesen abschließen. Chen schließt ihre Untersuchung mit einigen praktischen Anwendungs- und Umsetzungsmöglichkeiten ihrer Resultate.
Birgit Huemer vergleicht in ihrem Beitrag die Textmakrostrukturen von wissenschaftlichen Aufsätzen aus unterschiedlichen Teildisziplinen der germanistischen Linguistik (Sprachgeschichte, Wortbildung, Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache und Geschichte der Linguistik). Sie präsentiert exemplarisch die Ergebnisse der Analyse der Einleitungen von vier Artikeln, die aus einem Gesamtkorpus von 13 Artikeln stammen. Als Kategorienraster dient ihr eine adaptierte Version der von Swales/Feak (2009) präsentierten „Move“-Struktur englischer wissenschaftlicher Aufsätze aus den Natur- und Sozialwissenschaften, die sich an Lewin, Fine/Young (2001) und ihren eigenen Arbeiten orientiert. Ihre Ergebnisse zeigen, dass sich die Mehrzahl der Einleitungen an der Struktur des „Social Science Research Text“ orientiert. Huemer führt das darauf zurück, dass in den meisten Aufsätzen Studien referiert werden, in deren Rahmen empirische Daten erhoben und analysiert und die Ergebnisse diskutiert werden. Damit entspricht das methodische Vorgehen in diesen Arbeiten dem der empirischen Sozialwissenschaften. Abweichungen von dieser Struktur findet die Autorin nur in Aufsätzen, die sich einer gänzlich anderen Methodik und Vorgehensweise bedienen (wie etwa im Teilbereich „Geschichte der Linguistik“). Huemer interpretiert diese Ergebnisse dahingehend, dass abweichende (alternative) Textstrukturen wissenschaftlicher Aufsätze nicht einfach auf den Einfluss unterschiedlicher Subdisziplinen zurückgeführt werden können, sondern dass die Untersuchungsmethodik einen genrekonstituierenden Einfluss hat. Um diese Interpretation zu stützen würde es allerdings der Untersuchung eines größeren Textkorpus mit Texten aus verschiedenen Disziplinen bedürfen, die verschiedene Methoden der wissenschaftlichen Analyse und Erkenntnisgewinnung anwenden.
Ursula Doleschal und Anzhelika Scherling untersuchen ein Pilotkorpus von 10 deutschsprachigen slawistisch-linguistischen Aufsätzen, die im Rahmen einer Slawistik-Einführungslehrveranstaltung für StudienanfängerInnen als Pflichtlektüre verwendet werden. Ihr analytisches Herangehen an das Textkorpus ist durch eine enge Verzahnung einer theoretischen mit einer anwendungsorientierten Fragestellung gekennzeichnet. Sie orientieren sich in ihrer Analyse an den Fragen, die den Studierenden in der Lehrveranstaltung zu den Texten gestellt werden, nämlich der Definition wichtiger Termini, der Angabe des grundlegenden theoretischen Hintergrunds und der Formulierung einer Forschungsfrage, sowie der Darstellung der Forschungsmethode. Damit wählt ihr analytischer Ansatz den „umgekehrten Weg“ traditioneller textanalytischer Untersuchungen: anstatt die Textstruktur zu eruieren und dann festzustellen, welche Inhalte an welchen Stellen in der Textstruktur präsentiert werden, fragen die beiden Autorinnen nach konkreten Inhalten in den Texten und untersuchen, ob sie die Antworten darauf in allen Texten systematisch an denselben Stellen finden können. Das Ergebnis der Untersuchung ist ernüchternd: einige der Fragen können anhand einiger Texte gar nicht beantwortet werden, zu anderen Fragen wiederum finden sie die Antworten in verschiedenen Texten an verschiedenen Stellen. Das heißt nichts anderes, als dass die untersuchten Texte keine einheitliche Makro- bzw. Mesostrukturen haben. Doleschal/Scherling führen dieses Ergebnis nicht auf eine mangelnde Qualität der Texte sondern vielmehr auf die geringe Größe der scientific community der slawistischen LinguistInnen zurück, die sich beinahe alle persönlich kennen. Damit kann in den Texten vieles implizit bleiben, weil die intendierte Leserschaft (d. h. die FachkollegInnen und nicht StudienanfängerInnen) ein großes implizites Vorwissen zur Lektüre mitbringt, was bei größeren Diskursgemeinschaften nicht der Fall ist. Die Autorinnen weisen mit dieser Arbeit auf eine wichtige zusätzliche Variable hin, die in der bisherigen Forschung zu disziplinären (aber auch sprachlichen) Wissenschaftskulturen nicht berücksichtigt wurde, dass nämlich die Größe eine Diskurs- (und möglicherweise auch Sprach-) gemeinschaft, die (impliziten) rhetorischen Normen und Erwartungen grundlegend beeinflussen kann.
Hung-Cheng Liu vergleicht die Argumentation auf der Satz- und Textebene in einem Pilotkorpus deutschsprachiger und chinesischer wissenschaftlicher Aufsätzen aus dem Bereich der Sprachwissenschaft. Durch den quantitativen Vergleich von Diskursmarkern, die argumentative Relationen und argumentative Konsequenzen ausdrücken, werden unterschiedliche argumentative Perspektiven auf der Mikro- und der Mesotextebene in den beiden Sprachen aufgezeigt. Im Deutschen überwiegt auf der Satzebene eine konditionelle (rückblickende) Argumentationsperspektive, während im Chinesischen eine vorwärtsblickende inferentielle Perspektive überwiegt. Auf der (Meso-)Textebene finden sich im Deutschen ergänzende, verstärkende Argumentationen während im Chinesischen vermehrt anreihende, verweisende Argumentationen zu finden sind.
Karin Wetschanow untersucht die verschiedenen Arten der Intertextualität, die in Einleitungen aus fünf deutschsprachigen Aufsätzen aus dem Bereich der Linguistik gefunden werden können. Aus einer detaillierten Auseinandersetzung mit Swales‘ CARS-Modell für Einleitungen wissenschaftlicher Aufsätze leitet sie ab, dass der Bezug zu anderen relevanten Arbeiten gerade in der Einleitung eines wissenschaftlichen Aufsatzes einen zentralen Stellenwert einnimmt. Sie entwickelt, gestützt auf die bestehende Forschungsliteratur, ein differenziertes System zur Klassifikation formaler und funktionaler Merkmale von intertextuellen Verweise in Einleitungen, das sie ihrer Untersuchung zugrunde legt. Ihre Ergebnisse formuliert sie im Rahmen von acht Hypothesen, da ihr bewusst ist, dass die qualitative Untersuchung von fünf Einzeltexten für eine generalisierende Interpretation der Ergebnisse bei weitem nicht ausreichend ist. Ihre Ergebnisse zeigen (ähnlich wie die von Huemer), dass die meisten untersuchten Einleitungen im Prinzip mit der Struktur von Swales‘ CARS Modell übereinstimmen, dass aber manchmal einzelne Züge, die das Modell annimmt, entfallen bzw. in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit realisiert werden können. Quellverweise (intertextuelle Bezüge) finden sich in den gesamten Einleitungen von Wetschanows Textkorpus, sie sind nicht auf einzelne Züge konzentriert. Ihre Ergebnisse zeigen auch, dass es Zusammenhänge zwischen formalen Varianten der Intertextualität (direkte vs. indirekte Zitate) und bestimmten funktionalen Zügen zu geben scheint. Wetschanows Arbeit kann als Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen von Form und Funktion von Intertextualität in verschiedenen Disziplinen ebenso wie in verschiedenen Sprachen dienen.
Brigitte Krenn beschreibt in ihrem Beitrag ein computerlinguistisches Tool (die FemSMA Corpus Workbench, CWB), das aus der Zusammenarbeit zwischen Computer- und TextlinguistInnen entstanden ist und dazu dient, Postings in social media (Facebook, Twitter etc.) zu analysieren. Mit der Entwicklung der CWB wurden zwei Ziele verfolgt: (1) aus relevanten Textmerkmalen das Geschlecht (Gender) des/der PosterIn zu eruieren und (2) ein Referenzkorpus zu erstellen, das es erlaubt, statistische Modelle zu entwickeln, die automatisch Genderklassifizierungen aufgrund von Textmerkmalen durchführen und aufgrund der Ergebnisse ihre eigene Treffsicherheit verbessern können. In der CWB werden diese Funktionalitäten in zwei Schritten entwickelt. Zuerst wird ein Pilotkorpus durch TextlinguistInnen qualitativ untersucht und manuell annotiert und diese Ergebnisse dienen dann den ComputerlinuistInnen als Input für eine Modellierung automatisierter Such- und Analyseroutinen. Nach einer ausführlichen Darstellung der verschiedenen Elemente und Funktionalitäten der CWB zeigt Krenn in ihrem Beitrag, wie dieses Tool, das ursprünglich für die Bearbeitung einer völlig anderen Fragestellung entwickelt wurde, auch für die automatisierte Analyse von Zitationspraxen und –mustern wie sie Wetschanow in ihrem Beitrag beschreibt, adaptiert und angewendet werden könnte. Ihr Beitrag zeigt damit eine interessante und vielversprechende Neuentwicklung auf, die aus einer engeren Verbindung zwischen (qualitativen) text- und diskursanalytischen Methoden zur Analyse relative begrenzter Textkorpora mit den Möglichkeiten, die die computerlinguistische Automatisierung dieser Analyseprozesse bietet, erwachsen könnte.
Chen-Li Kuo präsentiert eine korpuslinguistische Studie der Verwendung des chinesischen Negationsmorphems bù in wissenschaftlichen Aufsätzen und Alltagsgesprächen. Sie stellt zuerst die verschiedenen Verwendungsweisen dieses Negationsmorphems im Chinesischen sowie seine verschiedenen Bedeutungsvarianten dar. Dabei unterscheidet sie sieben verschiede Verwendungsweisen des Morphems, die im Rahmen von unterschiedlichen Wortklassen und mit verschiedenen Konnotationen realisiert werden können. Im empirischen Teil wird ein Korpus von 30 chinesischen wissenschaftlichen Aufsätzen aus dem Bereich der germanistischen Linguistik, die von chinesischen MuttersprachlerInnen verfasst wurden, mit einem Referenzkorpus von Alltagsgesprächen, die in taiwanesischem Mandarin geführt wurden, verglichen. Die Segmentierung und Analyse der beiden Korpora erfolgte automatisch durch computerlinguistische Verfahren. Die Analyse zeigt, dass das Negationsmorphem in seiner Realisierung als alleinige Negation in den wissenschaftlichen Texten deutlich seltener auftritt als im Korpus der Alltagsgespräche. In den wissenschaftlichen Texten überwiegen hingegen zusammengesetzte Wortbildungen (Adverbien und Verben), in denen bù die Negationskomponente ausdrückt. Diese Ergebnisse weisen in eine ähnliche Richtung wie korpuslinguistische Studien des Englischen, in denen in wissenschaftlichen Texten ebenfalls weniger explizite Negationsausdrücke als in Alltagsgesprächen bei einem gleichzeitigen Überwiegen von Konstruktionen (bzw. Wortzusammensetzungen) mit einer negativen Bedeutung aufgezeigt werden konnten. Kuos Untersuchung leistet eine wichtigen Beitrag zur Untersuchung der „Alltagssprache der Wissenschaft“ (i.S. von Ehlich 1993) dar, die auch im Mittelpunkt von Rheindorfs Beitrag steht.
Markus Rheindorf untersucht in seinem Beitrag die figurativen Elemente der „allgemeinen Wissenschaftssprache“ des Deutschen. Mit dem Terminus „allgemeine Wissenschaftssprache“ werden dabei nach Ehlich (1993) nicht disziplingebundene Elemente und Wendungen (Kollokationen) in wissenschaftlichen Texten bezeichnet, deren Verwendung sich aber trotzdem von jener in der Alltagssprache unterscheidet. Damit ist Rheindorfs Arbeit mit der von Kuo vergleichbar, die eine ähnliche Fragestellung für verschiedene Varianten chinesischer Negationsausdrücke in wissenschaftlichen Texten und Alltagsgesprächen untersucht. Die allgemeine Wissenschaftssprache ist ein Aspekt fachsprachlicher Texte, der in allen Sprachen noch sehr wenig untersucht ist, da der Fokus der Untersuchung von lexikalischen Aspekten der Wissenschaftssprache traditionell im Rahmen der Terminologie- und Fachsprachenforschung erfolgte. Erst mit dem zunehmenden Einsatz korpuslinguistischer Methoden in weiten Bereichen der Text- und Diskursforschung ist diese Domäne der Wissenschaftssprache in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Rheindorf untersucht in seiner Arbeit ein Korpus deutscher wissenschaftlicher Texte aus dem öffentlich zugänglichen Korpus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Ergebnisse zeigen, dass in deutschen Wissenschaftstexten bildliche Wendungen zu fast drei Viertel aus dem Bereich des „räumlich-haptischen Bildfelds“ (z. B. etwas erfassen, etwas darlegen) kommen und dass sich das restliche Viertel der figurativen Wendungen ziemlich gleich auf optisch-visuelle, mental-kognitive und akustisch-sprachliche Bilder verteilt. Rheindorfs Untersuchung stellt (auch unter einem sprachdidaktischen Gesichtspunkt) einen wichtigen Anknüpfungspunkt für sprachvergleichende Studien dar, in deren Rahmen untersucht werden könnte, wie in anderen allgemeinen Wissenschaftssprachen funktional äquivalente Ausdrücke und Kollokationen realisiert werden können.
Die Beiträge dieses Themenhefts arbeiten anhand von Pilotstudien verschiedene Ansatzpunkte („reichhaltige Momente“) für weiterführende vergleichende Untersuchungen im Bereich der vergleichenden Wissenschaftsrhetorik heraus. Ob es sich bei all den Unterschieden, die in den einzelnen Beiträgen ermittelt werden konnten, im Endeffekt tatsächlich im „kulturelle“ Unterschiede handelt (und im Einzelnen um Unterschiede zwischen welchen „Kulturen“), kann man an diesem Punkt noch nicht sagen, denn wie Agar (2006, n.p., Hervorhebung im Original) es ausdrückt: “So how can we tell if something we don’t understand, a rich point, is cultural or not? The answer is, we can’t, not on the basis of just one occurrence. Einmal ist keinmal […]“.
Agar, Michael (2006): “Culture: Can you take it anywhere?”. International Journal of Qualitative Methods 5/2. www.ualberta.ca/~iiqm/backissues/5_2/HTML/agar.htm, [31.03.2015].
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