http://dx.doi.org/10.13092/lo.79.3339
Als das „wesentliche Ziel der didaktischen Sprachkritik“ (Kilian 2015: 172) im Erstsprachunterricht formuliert Jörg Kilian, den Schülerinnen und Schülern bewusst zu machen, „[…] dass es sich bei sprachlich gebundenen nationalen Stereotypen um historisch und kulturell gewachsene ‚Weltansichten‘ handelt, die in sprachlichen Konstruktionen geronnen sind, die sie selbst im Spracherwerb unbewusst angenommen haben“ (ebd.). Ziel eines solchen Unterrichts sei „der Ausgang des Sprechers aus der sprachlichen Unmündigkeit“ (ebd.). Kilians Formulierung kann man so verstehen, dass Kinder in eine bestimmte historisch geformte sprachliche und soziale Umgebung hineingeboren werden und die kulturellen Muster sowie die in sprachlichen Konstruktionen geronnenen Erfahrungen und Weltsichten eben dieser Umwelt übernehmen. Später können sie sich dann kritisch mit diesen Konstruktionen und Konstrukten auseinandersetzen, und zwar angeleitet durch Erwachsene, vor allem im Unterricht. Dieses Verständnis der Genese von Sprachbewusstheit und Sprachkritik, das man schlagwortartig ‚vom unbewussten sprachlichen und kulturellen Wissen zum bewussten‘ nennen kann, ist kompatibel mit der Spracherwerbsforschung. Das gilt gerade für die theoretische Richtung, der ich mich zuordne, nämlich Spracherwerb als einen Prozess des sozio-kulturellen Lernens zu verstehen, der interaktiv konstituiert wird. Als prominentester gegenwärtiger Vertreter wäre Tomasello zu nennen, als der wichtigste Begründer Vygotskij und als Zwischenglied zwischen diesen beiden Wissenschaftlergenerationen Jerome Bruner (cf. Bruner 1987; Tomasello 2002; Vygotskij 2002). Kilians Modellierung einer Didaktik der Sprachkritik als „Aufklärung im besten Sinne“ (Kilian 2015: 172) stimme ich zu – auch hinsichtlich der Zielsetzung von Sprachdidaktik allgemein. Und doch – befasst man sich empirisch mit Spracherwerb und Entstehung von Sprachbewusstheit, so erkennt man, dass Kinder offenbar schon früh – und zwar bevor sie in die Schule kommen – das Bedürfnis entwickeln, sich kritisch mit sprachlichen Formen und Praktiken auseinanderzusetzen, und zwar ohne dass sie von Erwachsenen gezielt dazu angeleitet werden. Dieses Phänomen möchte ich in den Mittelpunkt meines Vortrages stellen – das Phänomen, dass Kinder von sich aus zu kritischer Auseinandersetzung mit sprachlichen Konventionen motiviert sind.
Meine zentrale These ist, dass Sprachkritik nicht erst didaktisch an Kinder (und Jugendliche) herangetragen werden muss; vielmehr sind sie von sich aus zur kritischen Auseinandersetzung mit Sprache und Sprachgebrauch (Erwachsener) motiviert.
Dabei dürfte es unmittelbar einsichtig sein, dass sich sowohl die Formen, in denen Kritik praktiziert wird, als auch die Aspekte von Sprache, die dabei thematisiert werden, mit dem Alter verändern, dass dies also bei Fünfjährigen anders aussieht als bei Jugendlichen. Und selbstverständlich sind dabei Erwachsene als Interaktionspartner von Bedeutung und auch der Unterricht – sowohl der Erstsprachunterricht als auch der Fremdsprachunterricht – hinterlässt seine Spuren in diesen Praktiken.
Um meine These auszuführen und zu diskutieren, werde ich sprachspielerische Aktivitäten von Kindern in den Mittelpunkt meines Beitrags stellen. Für die vorschulische Entwicklungsphase zwischen vier und sechs Jahren beschreibe ich spontane Sprachspiele und Sprachkommentare und stelle sie theoretisch in den Kontext von Spracherwerb und entstehender Sprachbewusstheit. Für die nächste Altersgruppe von sechs bis ca. zehn Jahren untersuche ich Witze und Rätsel mit sprachspielerischen Pointen, die bei Kindern dieses Alters äußerst beliebt sind, und diskutiere sie unter Bezug auf den Schriftspracherwerb, der die sprachlichen Erfahrungen junger Schulkinder nachhaltig prägt. Zum Abschluss werde ich Kilians programmatische Reflexionen zu einer didaktischen Sprachkritik wieder aufnehmen und diskutieren, welche Anregungen eine Beschäftigung mit sprachspielerischen Aktivitäten, die Kinder vor und neben der Schule praktizieren, für eine solche Didaktik bieten kann.
Zunächst sei eine Vorbemerkung zur Beliebtheit von Sprachspielen bei Kindern vorangestellt:
Selbstverständlich praktiziert nicht jedes Kind Formen spielerischer Sprachkritik; Kinder unterscheiden sich wie Erwachsene in ihren Interessen, Vorlieben, Modalitäten der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Gerade bei Untersuchungen zu Kindern vor der Einschulung, für die das häusliche Umfeld noch besonderes Gewicht hat, stellt sich die Frage, ob es sich bei den kindlichen Probanden in empirischen Untersuchungen nicht überwiegend um Kinder von LinguistInnen handelt. So stammen umfangreiche Korpora zu entstehender Sprachbewusstheit, die im häuslichen Umfeld erhoben wurden, größtenteils von Linguistenkindern und nicht selten dominieren dabei Dialoge zwischen dem Kind und seinem Linguisten-Vater oder seiner Linguisten-Mutter (cf. z. B. Jäkel 2008). Aber es gibt auch Dokumentationen spontaner sprachspielerischer Aktivitäten, die Kinder miteinander erfinden und wo keineswegs vorwiegend Linguistenkinder vertreten sind (cf. z. B. Garvey 1978; Lang 2009). Die verfügbaren empirischen Untersuchungen zeigen über verschiedene Erhebungsmethoden und Sprachen hinweg viele Gemeinsamkeiten darin, in welchem Alter und auf welche Weise kleine Kinder sich mit Sprache auseinandersetzen. Daher halte ich die Annahme für gerechtfertigt, dass das Interesse an Sprache nicht nur bei einer kleinen Gruppe von Kindern linguistisch gebildeter Eltern entsteht, sondern allgemeiner verbreitet ist – auch wenn es selbstverständlich wie in jedem Entwicklungsbereich individuelle und kulturelle Unterschiede gibt.
Sprachspiele von Kindern im Vorschulalter zielen auf alle linguistischen Ebenen: Phonologie/Phonetik, Grammatik, Semantik und Pragmatik (cf. Andresen 2014). Ich habe zwei Beispiele ausgewählt, bei denen es um Semantik und Pragmatik geht.
(1) | [...] Und dann kommen Zahlen angeflogen und die schmeißen Steine auf'n Boden. Und dann kommt eine Palme hergelaufen und zerplatzt erst mal zur Begrüßung einen Luftballon [...].1 |
Diese Zeilen sind ein Ausschnitt aus einem längeren mündlichen, spontan erfundenen Monolog. Der gesamte Text funktioniert so, dass Lukas systematisch semantische Selektionsbeschränkungen verletzt, die vor allem mit den Merkmalen ‚belebt/unbelebt‘ und ‚bewegungsfähig/-unfähig‘ spielen. Syntaktisch und morphologisch sind seine Sätze korrekt, Lukas befolgt also grammatische Regeln der deutschen Sprache und verletzt semantische. D. h. dass sein Sprachspiel eine klare Systematik aufweist, was im Übrigen für alle spontanen Sprachspiele gilt. Spiele des Typs dieses Beispiels sind bei Kindern in Lukas‘ Alter außerordentlich beliebt, ich habe zahlreiche Belege dafür. Allerdings bringt Lukas es zu besonderer Meisterschaft. Indem Kinder semantische Regeln verletzen, schaffen sie eine Nonsense-Welt, sie schöpfen das Potential von Sprache aus, eine real unmögliche Welt zu erzeugen. Sprachlich kann man zusammenbringen, was real nicht zusammengeht. Solche Texte gibt es übrigens auch in konventionalisierter Form, im Deutschen z. B. „Dunkel war’s, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur, als ein Auto blitzeschnelle langsam um die runde Ecke fuhr […]“ (Wikipedia s. a.).2
Das zweite Beispiel, das ich hier vorstellen möchte, gehört zu den sog. Umbenennungsspielen, die viele Kinder ungefähr zwischen vier und sechs Jahren begeistert für sich entdecken. Bei diesem Spieltyp formulieren Kinder meist vorab, welche Konventionen in ihrem Spiel gelten sollen, z. B. ‚Schrank‘ heißt bei mir Tisch, ‚Tisch‘ heißt Bett, ‚Bett‘ heißt Lampe. Der Reiz besteht darin, die Wörter mit den neuen Bedeutungen zu verwenden, also z. B. zu sagen: „Häng die Bluse in den Tisch, stell die Gläser auf das Bett und leg das Baby zum Schlafen auf die Lampe.“ Auch so kann eine verkehrte Welt erzeugt werden. Kinder verstehen dieses Spiel häufig als Geheimsprache, die sie mit eingeweihten Kommunikationspartnern auch ohne Vorankündigung praktizieren. Eine interaktiv hoch wirksame Variante ist die Vertauschung der Bedeutungen von ja und nein: „Wenn ich ja sage, meine ich ‚nein‘ und umgekehrt.“ Wenn dieser Austausch – einmal etabliert – unangekündigt in der alltäglichen Kommunikation eingesetzt wird, bringt das auch Erwachsene, die sich für Sprachspiele begeistern, an den Rand ihrer Geduld, beispielsweise:
(2) | „Möchtest du noch etwas essen?“ „Nein.“ Der Tisch wird abgeräumt. „Ich hab noch Hunger.“ „Wieso, du hast doch eben nein gesagt.“ Aber du weißt doch: „Wenn ich nein sage, meine ich ‚ja‘.“ |
Im Gegensatz zu den beiden ersten Beispielen steht hier die pragmatische Ebene im Vordergrund, nämlich die interaktive Wirkung, der performative Akt. Darüber hinaus werden Fragen der Wahrhaftigkeit und somit soziale Normen tangiert. Daher ist dieses Spiel interaktiv brisanter als das des Austauschs von Bezeichnungen für Gegenstände.
Es ist an der Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob diese Kinderspiele überhaupt etwas mit Sprachkritik zu tun haben. Offensichtlich geht es hier nicht um explizit formulierte Kritik, um ein Sprechen über sprachliche Strukturen und Funktionen. Aber ich verstehe diese Spiele als eine Form impliziter Sprachkritik. Die Kinder testen mit den Spielen Möglichkeiten von Sprache aus, Lukas z. B. indem er sprachlich Kollokationen herstellt, die semantisch widersprüchlich sind und daher nicht auf reale Zustände und Vorgänge referieren können. Er verletzt systematisch semantische Regeln, wobei die Einhaltung grammatischer Regeln notwendig ist, damit das Spiel funktioniert. Denn wenn er auch noch grammatische Regeln bräche, entstünde Chaos und kein – in seinen Augen – witziger Text. Das sprachkritische Moment besteht darin, dass er sich bestimmten geltenden Konventionen, d. h. sprachlichen Regeln, entzieht und gleichzeitig neue setzt.
Mit Umbenennungsspielen erkunden Kinder die Arbitrarität sprachlicher Zeichen und damit auch deren Konventionalität. Etwa nach dem Motto: Wenn ich wollte, könnte ich Wörter nach meinen Wünschen verwenden, ihnen neue Bedeutungen geben und so meine eigene Sprache schaffen. Indem Kinder mit Sprache spielen, testen sie aus, was sprachlich möglich ist. Sie überschreiten die Grenzen der Regeln und Konventionen, die sie sich im Spracherwerb aneignen müssen, und entdecken dabei, dass es prinzipiell auch anders sein könnte. Mit Sporting Life in der Oper Porgy and Bess könnte man sagen oder singen: „It ain’t necessarily so“. Diese Entdeckung macht Spaß und spornt die Kinder dazu an, die Spiele fortzuführen und weiterzuentwickeln. Das ist in entsprechenden Situationen deutlich erkennbar. Dass das gerade in der Entwicklungsphase zwischen vier und sechs Jahren beginnt, geht darauf zurück, dass solches Überschreiten der geltenden sprachlichen Grenzen in diesem Alter erst möglich wird.
Dass jüngere Kinder noch nicht solche Sprachspiele spielen, hat nicht nur damit zu tun, dass sie über ein geringeres Inventar sprachlicher Strukturen verfügen, sondern auch damit, dass in den ersten Lebensjahren Sprache eng an die Kontexte, in denen sie verwendet wird, gebunden ist und – in den Worten Vygotskijs – der Wort-Gegenstands-Bezug dominiert (cf. Wygotski 1987: 202–206). Das möchte ich an einem Beispiel deutlich machen. Eine Studentin von mir wurde durch ein Seminar zu einem kleinen Experiment mit ihren Schwestern im Alter von fünf und drei Jahren angeregt. Sie wollte herausfinden, ob diese Spaß an Umbenennungsspielen haben, und führte dazu die Vertauschung von Bezeichnungen für verschiedene Obstsorten ein. ‚Birnen‘ bezeichnete sie als Äpfel, ‚Äpfel‘ als Pfirsiche, ‚Pfirsiche‘ als Kirschen usw. Die Fünfjährige ging begeistert darauf ein und praktizierte fortan dieses und ähnliche Spiele mit ihren Freundinnen und Freunden. Die kleine Schwester aber reagierte völlig anders. Nicht nur, dass sie darauf beharrte, dass ein ‚Apfel‘ Apfel heißt – noch monatelang danach ging sie, wenn sie Bilder von Früchten sah, zu ihrer fünfjährigen Schwester, um ihr zu erklären, wie diese Früchte heißen. Sie nahm also an, dass die Ältere die korrekten Bezeichnungen nicht kannte. Die aber hatte die Arbitrarität und damit auch die Konventionalität sprachlicher Zeichen entdeckt und somit auch die Möglichkeit, selbst neue Konventionen zu schaffen.
Im Gegensatz zu Sprachspielen üben Kinder in Kommentaren zu Sprache explizit Kritik, und zwar auch schon im Vorschulalter. So beschwerte sich ein vierjähriges Mädchen, dessen Vater Diplomingenieur ist, eines Tages unvermittelt: „Ihr sagt immer, Papa ist Diplomingenieur. Das ist falsch. Das muss doch heißen: Derplomingenieur. Papi ist doch ein Mann“. Dass sie hier die erste Silbe di fälschlicherweise als Artikel die interpretiert, der bekanntlich feminin ist, spricht nicht gegen eine kritische Haltung gegenüber dem Sprachgebrauch der Erwachsenen. Ihr Kommentar zeigt, dass sie eine gewisse Distanz zu Sprache entwickelt, über die sie früher, als sie das Wort als Ganzes aus dem Sprachgebrauch ihrer Eltern übernommen hat, noch nicht verfügte. Sie denkt über das Wort nach und kritisiert es, weil Inhalt und Form einander (vermeintlich) widersprechen.
Zusammenfassend halte ich fest: Sprachspiele und -kommentare junger Kinder zeigen, dass sie eine Distanz zu Sprache entwickeln. Mit den Spielen erkunden sie Möglichkeiten von Sprache experimentell und entdecken, dass sie eigene Regeln und Gebrauchsweisen etablieren und sich somit von der Sprache Erwachsener distanzieren könn(t)en.
Während der ersten Schuljahre entwickeln viele Kinder eine starke Faszination für Witze, Rätsel und Scherzfragen, die auf sprachlichen Pointen beruhen (cf. Sutton-Smith 1976).
Zunächst einige Beispiele:
(3) | Ein elefant geht in eine konditorei. |
Elefant: Einmal rumkugeln bitte. | |
Verkäuferin: Aber nicht hier im laden.3 | |
(4) | Wie nennt man einen braunen Bär? |
Braunbär. | |
Wie nennt man einen weißen Bär? | |
Eisbär | |
Wie nennt man einen fliegenden Bär? | |
? ? ? | |
Hubschraub(ä)er |
Typisch für Witze und Rätsel, die auf sprachlichen Pointen beruhen, ist, dass zum Verständnis Reklassifizierungen vorgenommen werden müssen. So geht es im ersten Beispiel darum, das angesichts des Kontextes naheliegende Verständnis von rumkugeln als Nomen zur Bezeichnung eines Konfekts aufgrund der Reaktion der Verkäuferin zu revidieren und das Wort stattdessen als Verb zu interpretieren.
Beim zweiten Beispiel geht es – abgesehen davon, dass es keine fliegenden Bären gibt und die Frage nach einer Bezeichnung dafür sinnlos ist – darum, die letzte Silbe im Wort Hub-schrau-ber, die keine Bedeutung trägt, aufgrund phonetischer Ähnlichkeit als Lexem bär zu interpretieren. Dadurch entsteht eine Art Kompositum, das nicht nach den Wortbildungsregeln der deutschen Sprache gebildet ist, weil das übrig bleibende schrau kein Morphem ist.
Um solche Witze zu verstehen, muss man nach der automatisierten Sprachverarbeitung innehalten, die Formulierung noch einmal reflektierend aufrufen und nach einer zweiten Lesart suchen. Daher erfordern die Witze Sprachreflexion. Kinder im Alter von acht oder neun Jahren stellen die beiden Beispielwitze vor große kognitive Anforderungen; ebenso auch Sprecher einer Sprache auf nicht-muttersprachlichem Niveau, weil man flexibel mit möglichen Mehrdeutigkeiten, phonetischen Differenzierungen und unterschiedlichen Stilebenen umgehen können muss.
Im Beispiel (5) ist die Pointe anders gelagert.
(5) | Die kleine Anne geht mit ihrer Oma spazieren. Sie sieht ein schönes glänzendes Stück Papier auf der Erde liegen und will es aufheben. |
Oma: „Pfui, Anne, was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben.“ | |
Sie gehen weiter. Anne sieht eine Banane auf der Erde liegen und möchte sie aufheben. | |
Oma: „Pfui, Anne, was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben.“ | |
Sie gehen weiter; wenig später rutscht Oma auf einer Bananenschale aus und fällt zu Boden. Anne steht daneben und rührt sich nicht. Eine Frau sieht das und schimpft mit Anne: | |
„Du ungezogenes Mädchen, hilfst deiner Oma nicht, wieder auf die Beine zu kommen.“ | |
Anne: „Oma hat gesagt: ‚Was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben‘.“ |
Dieser Witz ist auf der Ebene der Pragmatik angesiedelt. Vieles ließe sich zu der Pointe sagen. Ich greife hier nur zwei Aspekte heraus. Es geht um typische Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern, um Ge- und Verbote, und es geht darum, wie diese formuliert werden. Oma macht die Aussage: (Alles) was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben. Wenn wir ein Verbot so formulieren, dann setzen wir voraus, dass es durchaus Situationen gibt, in denen sehr wohl etwas aufgehoben werden darf bzw. sogar sollte. Wann das der Fall ist, muss jeweils in der Situation entschieden werden. Auf den ersten Blick scheint Anne hier im doppelten Sinne die Dumme zu sein: Zuerst wird sie ausgescholten, weil sie etwas aufheben will, und sie darf den attraktiven Gegenstand nicht in Besitz nehmen. Dann, als sie sich gehorsam zeigt, wird sie auch ausgescholten und verhält sich nach Meinung der Erwachsenen wiederum unangemessen, obwohl sie doch die Formulierung der Oma genau befolgt. Offenbar hat sie nicht verstanden, wie Oma ihre Formulierung gemeint hat. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass Anne die Erwachsenen mit deren eigenen Waffen schlägt. Denn sie erweist sich als gehorsames Kind, das das ausgesprochene Verbot ernst nimmt und genau befolgt. Die rote Karte geht an die Erwachsenen, die ungenau formulieren. Damit werden Sprachgebrauch und Verhalten von Erwachsenen karikiert, worin m. E. der Grund dafür liegt, dass Kinder solche Witze mit Vergnügen erzählen4. Dieses Muster findet sich übrigens auch in Schelmengeschichten, z. B. von Till Eulenspiegel, in denen der scheinbare Tor den Menschen einen Spiegel vorhält.
Bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben Brian Sutton-Smith (1976) und Hirsh-Pasek, Gleitman und Gleitman (1978) die Beliebtheit und das Verständnis von Sprachwitzen und -rätseln bei Kindern untersucht. Sutton-Smith (1976) stellte fest, dass bei Kindern zwischen acht und zehn Jahren die beliebtesten Witze und Scherzrätsel solche mit sprachlichen Pointen sind. In der Studie von Hirsh-Pasek, Gleitman und Gleitman (1978) verstanden Kinder ab ca. sieben Jahren sprachliche Pointen, wobei der Schwierigkeitsgrad in Abhängigkeit von der linguistischen Ebene, auf der die Pointe angesiedelt ist, variiert. Am frühesten wird lexikalische Mehrdeutigkeit verstanden, grammatikalische Mehrdeutigkeit wie bei dem Rumkugeln-Beispiel ist wesentlich schwieriger und am schwierigsten sind solche Scherze wie das Bären-Rätsel, bei dem Morphemgrenzen mit zusätzlicher phonetischer Umdeutung verletzt werden.
Dass es bei dem Witz mit Anne und ihrer Oma um Sprachkritik geht, habe ich bereits angesprochen und soll hier nicht weiter vertieft werden. Sutton-Smith (1976) vertritt die These, dass Kinder sich mit Witzen von der Art der ersten beiden Beispiele insbesondere mit der Sprache in der Schule kritisch auseinandersetzen. Dort werden Wörter und Strukturen fachsprachlich verwendet und daher in anderer Bedeutung als in der den Kindern vertrauten Alltagssprache. Somit erscheinen vertraute Wörter und Konstruktionen den Kindern im Schulkontext häufig scheinbar willkürlich mit ‚neuen‘ Bedeutungen verwendet zu werden, die schwierig zu entschlüsseln sind. Empirische Untersuchungen des muttersprachlichen Grammatikunterrichts gerade in der Grundschule stützen diese These (cf. Spies 1989). Textaufgaben in der Mathematik wären ein anderer Bereich. Darauf werde ich hier nicht näher eingehen.
Etwas näher betrachten möchte ich aber den Schriftspracherwerb und seine Bedeutung für typische sprachspielerische Aktivitäten im Grundschulalter Sowohl Vygotskij (2002) als auch Donaldson (1991) haben die These vertreten und begründet, dass mit dem Schriftspracherwerb notwendigerweise eine Distanz zu Sprache eingenommen werden muss (cf. Andresen 1985). Eine solche Distanz ist einerseits Voraussetzung, um lesen und schreiben zu lernen, andererseits wird sie auch durch den Schriftspracherwerb gefördert. Denn um ein Wort schreiben zu können, muss man es sich gedanklich zum Gegenstand machen und nach bestimmten Kriterien analysieren, bei alphabetischen Schriften beispielsweise muss ein Wort lautlich durchgliedert werden. Wenn ich das Wort Katze schreiben will, ist es nicht förderlich, über Katzen nachzudenken, darüber, wie Katzen aussehen, sich anfühlen, sich verhalten, ob ich sie mag … Vielmehr geht es um das Wort, beispielsweise den Anlaut /k/ und das entsprechende Graphem. Erstklässlern fällt dieses durchaus schwer, und noch von Zweitklässlern kann man auf die Frage: „Welches Wort ist länger: Straße oder Straßenbahn?“ die Antwort Straße bekommen. Dieser kurze Hinweis soll einsichtig machen, dass Kindern mit dem Erwerb der Schrift Sprache häufig als ein willkürliches formales Gebilde erscheint – willkürlich deswegen, weil die Schreibkonventionen nicht inhaltlich motiviert sind. Auch tritt geschriebene Sprache Kindern anders als die gesprochene in segmentierter Form entgegen: Ein Satz besteht aus Wörtern, die durch Lücken abgegrenzt sind, ein Wort aus Buchstaben bzw. Lauten. Schrift modelliert Sprache als ein Gebilde, das aus Segmenten besteht, die miteinander kombiniert werden.
Daher vertrete ich hinsichtlich der Sprachwitze und -rätsel die These, dass sie mit dem Schriftspracherwerb doppelt verbunden sind: Zum einen schafft der Schriftspracherwerb Voraussetzungen dafür, sich zu Sprache in der Weise analytisch zu verhalten, wie es für das Verständnis solcher Witze erforderlich ist. Zum anderen verarbeiten Kinder damit neue Erfahrungen mit Sprache, die der Schriftspracherwerb mit sich bringt. Aber die Freude, die Kinder an den Witzen und Rätseln haben, geht m. E. auch darauf zurück, dass sie mit dem Setzen der Pointen die Sprache in der Weise beherrschen, dass sie sie beliebig manipulieren können. Denn die Kinder sind es, die die Pointen setzen, auch gegenüber Erwachsenen. Darin liegt eine Gemeinsamkeit mit den Sprachspielen jüngerer Kinder.
Zum Abschluss möchte ich ein Sprachspiel eines zweisprachigen achtjährigen Kindes vorstellen, das nur vor dem Hintergrund des Schriftspracherwerbs erklärt werden kann. Das Kind sprach deutsch und dänisch und war – in einer dänischen Schule in Flensburg – vom ersten Schuljahr an parallel deutsch und dänisch alphabetisiert worden. Im Alter von acht Jahren, d. h. im 3. Schuljahr, ergab sich die Situation, dass das Kind mit seinen Eltern und einer Schulfreundin im Auto an einem Laden der Kette COOP vorbeifuhr, was regelmäßig geschah. Plötzlich begann es laut zu lachen und platzte raus: „In Dänemark würde der Laden KUH AUF heißen.“ Beide Kinder amüsierten sich noch längere Zeit königlich über diese absurde Vorstellung.
Was hat dieses Beispiel mit Schriftsprache zu tun, funktioniert es doch gerade über die Lautung und nicht über das Schriftbild.
(6) | COOP à ko op (dän.) à Kuh auf (dt.) |
Die Verbindung zum Schriftspracherwerb besteht darin, dass das Kind die deutsche und dänische Form zueinander in Beziehung setzt, obwohl beide semantisch und vom gesamten situativen Kontext her nichts miteinander zu tun haben. Auch dürfte die Wortkombination ko op im Dänischen aus syntaktischen und semantischen Gründen kaum vorkommen. Die Brücke zwischen beiden Sprachen bildet allein die zufällige lautliche Ähnlichkeit. Gerade da dem Kind die Ladenbezeichnung seit langem vertraut und selbstverständlich mit der Situation Lebensmittel-Einkauf verbunden ist, vollzieht es eine große Abstraktionsleistung. In der Willkürlichkeit der Beziehung zwischen der deutschen und dänischen Form sehe ich eine Gemeinsamkeit zu den Witzen. Und genau diese Willkürlichkeit, die Absurdität, beides mit einander zu verbinden, macht auch hier das Vergnügen aus.
Mit den Beispielen und Analysen im Kontext von Spracherwerb, entstehender Sprachbewusstheit und Schriftspracherwerb hoffe ich, die eingangs formulierte These belegt zu haben, nämlich die These, dass Sprachkritik nicht allein bzw. auch nicht vorrangig didaktisch an Kinder herangetragen werden muss, sondern dass Kinder von sich aus dazu motiviert sind, sich kritisch mit Sprache und Sprachgebrauch (Erwachsener) auseinanderzusetzen.
Mit ihren sprachspielerischen Aktivitäten schaffen Kinder eine Praxis der Sprachkritik, in der sie ihr Bedürfnis zur Auseinandersetzung mit den sprachlichen Konventionen, die sie sich aneignen müssen, umsetzen und Sprache experimentierend erkunden. Für Sprachdidaktiker ist es wichtig, zu wissen, dass und in welcher Weise Kinder sprachkritische Aktivitäten praktizieren.
Zum Abschluss möchte ich die eingangs thematisierten Überlegungen zu einer Didaktik der Sprachkritik von Jörg Kilian wieder aufnehmen, die er im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit nationalen Stereotypen im Unterricht formuliert hat, die aber darüber hinaus reichen und für eine solche Didaktik allgemein gelten. Sprachkritik im Unterricht ist selbstverständlich mit Sprachreflexion verbunden; sie zielt aber darüber hinaus auf praktische Umsetzung im kommunikativen Handeln ab, da „der Ausgang des Sprechers aus der sprachlichen Unmündigkeit“ (Kilian 2015: 172) nur so erreicht werden kann. Das jedoch ist ein schwieriges Unterfangen. Denn auf Stereotype z. B. sind Menschen in ihrem sozialen Handeln angewiesen, weil wir unsere Wahrnehmungen kategorisieren müssen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. So zeigen Erfahrungen im Kontext von political correctness, dass bei der Vermeidung bestimmter diskriminierender Formulierungen häufig gewissermaßen durch die Hintertür neue „Unkorrektheiten“ entstehen. Daher wäre es m. E. kontraproduktiv, wenn man als didaktisches Ziel vorrangig die Vermeidung nationaler Stereotypen oder auch ein ständiges bewusstes Monitoring der eigenen Handlungspraxis hinsichtlich des Umgangs mit Stereotypen setzt. Das birgt die Gefahr, ins Gegenteil umzuschlagen, dann nämlich, wenn die Schülerinnen und Schüler die Erfahrung machen, dass sie ein solches Ziel in der Praxis nicht einlösen können. Derartige Erfahrungen führen häufig dazu, das Ziel einer kritischen Auseinandersetzung mit Denk- und Sprechgewohnheiten komplett zu verwerfen. Das aber wäre eine fatale Konsequenz. Stattdessen sollte es darum gehen, das Verhältnis von reflektierender Auseinandersetzung und sprachlich-sozialer Praxis einsichtig zu machen und die Flexibilität der Handelnden zu erhöhen, einschließlich eines empathischen und humorvollen Umgangs mit nationalen Stereotypen – auch hinsichtlich der eigenen Unzulänglichkeiten. Spielerische Formen der Auseinandersetzung sind in besonderer Weise dazu geeignet, Flexibilität im Denken und Handeln zu fördern. Solche Formen lernen Kinder aber nicht erst durch Unterricht kennen. Vielmehr kann der Unterricht an sprachliche und soziale Praktiken anknüpfen, die Kinder vor und neben der Schule für sich entdeckt haben.
Andresen, Helga (1985): Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewusstheit. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Andresen, Helga (2014): „Vorschulische Sprachreflexion“. In: Gornik, Hildegard (ed.): Sprachreflexion und Grammatikunterricht. Baltmannsweiler, Schneider: 174–183.
Bruner, Jerome S. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber.
Donaldson, Margaret (1991): Wie Kinder denken: Intelligenz und Schulversagen. München: Piper.
Garvey, Catherine (1978): Spielen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hirsh-Pasek, Kathy/Gleitman, Lila/Gleitman, Henry (1978): “What Did the Brain Say to the Mind? A Study of the Detection and Report of Ambiguity by Young Children“. In: Sinclair, Anne/Jarvella, Robert J./Levelt, Willem J. M. (eds.): The Child’s Conception of Language. Berlin, Springer: 97–132.
Jäkel, Olaf (2008): „Die Vielfalt früher Sprachbewusstheit: Evidenz aus zwei Spracherwerbskorpora“. In: Funke, Reinold/Jäkel, Olaf/Januschek, Franz (eds.): Denken über Sprechen. Facetten von Sprachbewusstheit. Flensburg, Flensburg University Press: 73–91.
Kilian, Jörg (2015): „Von blonden Däninnen aus deutscher Sicht. Nationale Stereotype und didaktische Sprachkritik – ein Zwischenbericht aus einem laufenden Forschungsprojekt“. In: Peschel, Corinna/Runschke, Kerstin (eds.): Sprachvariation und Sprachreflexion in interkulturellen Kontexten. Frankfurt a. M., Lang: 155–182.
Lang, Barbara (2009): Lautspieldialoge. Formale Kohärenzbildung und frühe Bewusstwerdungsprozesse von Sprache in der Interaktion zwischen Kindern. Flensburg: Flensburg University Press.
Spies, Barbara (1989): „Zur Aneignung von grammatischem Wissen bei Primarstufenschülern. Untersuchung zum Verständnis der Wortarten“. In: Haueis, Eduard (ed.): Sprachbewusstheit und Schulgrammatik. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 40: 75–85.
Sutton-Smith, Brian (1976): “A Developmental Structural Account of Riddles”. In: Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (ed.): Speech Play. Research and Resources for Studying Linguistic Creativity. Pittsburgh, University of Pennsylvania Press: 111–119.
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Vygotskij, Lev S. (2002): Denken und Sprechen. Weinheim: Beltz.
Wikipedia (s. a.). Dunkel war’s, der Mond schien helle. https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkel_war’s,_der_Mond_schien_helle [21.05.2016].
Wygotski (Vygotskij), Lew (Lev) (1987): Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein.
1 Das Beispiel von Lukas (5;11) verdanke ich Barbara Lang, die den mündlich produzierten Text aufgenommen und mir schriftlich zur Verfügung gestellt hat. zurück
2 Das ist die erste Strophe eines Gedichts, das in zahlreichen verschiedenen Versionen kursiert. Laut Wikipedia (s. a.) [27.01.2015] enthält die längste Fassung 16 Strophen. Der Ursprung des Gedichts ist ungeklärt, es wird mündlich seit vielen Generationen im deutschen Sprachraum tradiert und erfreut sich nach meinen Erfahrungen auch gegenwärtig bei Kindern großer Beliebtheit. zurück
3 Diesen Witz verschriftliche ich in Kleinschreibung, weil Großschreibung die Pointe zerstören würde. zurück
4 Anders als die spontanen Sprachspiele werden die Witze und Rätsel nicht von den Kindern erfunden; aber sie werden unter Kindern tradiert – und zwar mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit über Generationen hinweg. Den Witz von Anne kenne ich aus meiner eigenen Kindheit; kürzlich wurde er mir von einer Siebenjährigen erzählt. zurück