http://dx.doi.org/10.13092/lo.82.3713
Obwohl Emotionen (und hinsichtlich des Themas dieses Beitrags – negative Emotionen) und ihre verbale Äußerung ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Daseins sind,1 blieb dieser Bereich aus der linguistischen Perspektive lange ein „exotisches Sonderthema mit einem Hauch Esoterik“ (Schwarz-Friesel 2013: 8) und wurde am Rande der anwendungsorientierten, pragmatisch-funktional ausgerichteten Sprachwissenschaft behandelt. Die Diskrepanz zwischen der Bedeutung von Emotionen für den Menschen und deren Vernachlässigung in der Wissenschaft hängt mit der negativen Konzeptualisierung des Phänomens „Emotion“ generell und negativen Emotionen insbesondere ab – ihnen wird desorganisierende, destabilisierende Wirkung auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die Kommunikation zugeschrieben (Schwarz-Friesel 2013: 10; Fiehler 1990: 20). Diese Tradition geht noch auf die cartesianische Philosophie mit der strikten Trennung von Geist und Körper, Verstand und Gefühl zurück, die in der Aufklärung durch die Hervorhebung des menschlichen Verstandes noch verstärkt wurden. Heute gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (sei es in der Gehirnforschung, Psychologie oder Psycholinguistik) von „komplexer Interaktion kognitiver und emotionaler Komponente“ aus (Schwarz-Friesel 2013: 8). Diese Interaktion soll am Gebrauch aggressiver Sprechakte2 veranschaulicht werden, die sowohl im Affektzustand als auch in emotionell schwach aufgeladenen Situationen gebraucht werden können. Im ersten Fall tritt die kognitive Komponente in den Hintergrund, da die Äußerungen im Zustand hoher Emotionalität reflexartig und nichtintentional erfolgen. Doch nicht alle verbalaggressiven Äußerungen werden im Affektzustand geäußert, in den meisten Fällen handelt es sich um kontrollierbare Emotionen und dementsprechend um „kognitiv beeinflusste emotionale Zustände“ (Schwarz-Friesel 2013: 55). Das Zusammenspiel zwischen Emotion und Kognition lässt sich am Beispiel indirekter verbaler Aggression veranschaulichen (Tabellen 1 und 2):3
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Tabelle 1: Formen verbaler Aggression (Havryliv 2009: 26)
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Tabelle 2: Formen verbaler Aggression (Ergebnisse des aktuellen Forschungsprojektes „Verbale Aggression und soziale Variablen Geschlecht – Alter – sozialer Status“)
Zur indirekten Form gehören verbalaggressive Äußerungen, die in Abwesenheit der Adressatin oder des Adressaten erfolgen (monologisch oder in Anwesenheit einer dritten Person – der/des Zuhörenden). Zu dieser Form zähle ich auch die Aggression in Gedanken. Indirekte verbale Aggression richtet sich nicht nur an die Personen, die unmittelbar nicht erreicht werden können (Politikerinnen und Politiker, Sportlerinnen und Sportler, Schauspielerinnen und Schauspieler, Journalistinnen und Journalisten), sondern auch an diejenigen Personen (Vorgesetzte, Kundinnen und Kunden, Geschäftspartnerinnen und -partner), deren direkte Beschimpfung nicht ohne Konsequenzen für die schimpfende Person bleiben würde, sowie unbekannte Personen, die der/die Schimpfende nicht kennt (Fahrgäste, Passantinnen und Passanten, Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer) und deren unerwartete Reaktionen (darunter auch physische Aggression) er/sie fürchtet. Die Wahl der indirekten Form verbaler Aggression wird auch durch die Erziehung beeinflusst. In der (halb)bewussten Wahl der indirekten Form verbaler Aggression zeigt sich die Dominanz der kognitiven Komponente.
In der letzten Zeit gewinnt das Thema „verbale Aggression“ insbesondere im Segment der sprachlichen Gewalt zunehmend an Bedeutung, was mit der steigenden Aggressivität generell und mit den bedrohlichen Äußerungen der physischen Gewalt in verschiedenen Teilen unserer Welt zusammenhängt. Das Auseinandersetzen mit der verbalen Aggression (sowohl auf wissenschaftlich-theoretischer Ebene als auch als Selbstreflexion) schafft Distanz zu diesem Thema, trägt zum besseren Verständnis des betreffenden Phänomens bei, erfüllt präventive Funktion, indem es durch Selbstreflexionen zum Sprachwandel in Richtung gewaltloser Emotionsäußerung bewegt und somit der erste Schritt auf dem Weg zur Senkung der Aggressivität ist. Dasselbe leistet Enttabuisierung des Themas „verbale Aggression“, denn die Häufigkeit des Gebrauchs von Pejorativa steht im direkten Zusammenhang mit deren Tabuisierung (so verfügt das Russische trotz der traditionell starken Tabuisierung von Pejorativa nicht nur über ein reiches pejoratives Vokabular, sondern auch über eine sprachliche Varietät (Mat), die ausschließlich auf pejorativen Lexemen und ihren Ableitungen beruht und auch als Parallelsprache bezeichnet wird – näheres in „Exkurs über den Mat“).
In der Sprachwissenschaft wird aber der Erforschung von Sprache als Gewaltmittel immer noch wenig Aufmerksamkeit gezollt und das Thema der Sprachphilosophie überlassen. Die ohnehin wenigen sprachwissenschaftlichen Arbeiten zur verbalen Aggression beschäftigen sich vor allem mit den usuellen Mitteln wie Schimpfwörtern, Flüchen, Drohungen oder Verwünschungen, ihren morphologischen, strukturell-semantischen, syntaktischen, phraseologischen Besonderheiten, mit Problemen lexikographischer Erfassung sowie in komparativer Hinsicht mit sprach- und kulturspezifischen Zügen. Dem Aspekt der Wahrnehmung von Sprechakten wird kaum Aufmerksamkeit gewidmet: auf der pragmalinguistischen Ebene wird in den meisten Fällen die Grenze der illokutiven Akte nicht überschritten und die mit ihnen zusammenhängenden perlokutiven Akte nicht in die Analyse miteinbezogen. Die Erforschung von Perlokution haben auch die Sprechakttheoretiker wie Austin, Searle oder Wunderlich vermieden, weil die damit verbundenen Wirkungen auf die Adressatin oder den Adressaten schon den Bereichen der allgemeinen Handlungstheorie und Psychologie nahestehen. Wollen wir das Phänomen „verbale Aggression“ komplex erfassen und seine interaktionale Seite hervorheben, kommt der Erforschung von Wahrnehmung und Reaktionen der Kommunizierenden eine vorrangige Rolle zu.
In der Aggressionsforschung besteht kein Konsens über eine gültige Aggression- bzw. Gewaltdefinition. Einigkeit gibt es lediglich bezüglich des Schädigungscharakters der Aggression („Das Ziel der verbalen Aggression ist der Sieg über das Gegenüber/den Rivalen“ (Biffar 1994: 17), was die Erklärung dafür liefert, warum die Begriffe „verbale Gewalt“ – „verbale Aggression“ als synonym betrachtet werden. Diese Sichtweise teilen auch die (Sprach)wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die verbale Aggression über die schädigende Intention (Kränkung, Beleidigung, Herabsetzung der Adressatin oder des Adressaten) definieren (Ermen 1996; Graber 1931; Holzinger 1984; Kiener 1983; Lötscher 1980; Opelt 1965; Popp 2004; Rehbock 1987; Schumann 1990; Selg 1997; Stavyz’ka 2008):
(Holzinger 1984: 34).
(Schumann 1990: 260).
(Stavyz’ka 2008: 24).
Entgegen diesen Behauptungen, zeigen meine Forschungsergebnisse (siehe Tabellen 3 und 4)4, dass die verbale Aggression ein weit komplexeres Phänomen darstellt, dem mehrere Intentionen zugrunde liegen können, wobei die beleidigende Intention eine unwesentliche Rolle spielt: in den beiden Umfragen wurden dieser Intention 11 % zugeteilt. Damit fand meine These Bestätigung, dass für die verbale Aggression nicht die beleidigende Intention, sondern die des Emotionsabbaus ausschlaggebend ist.
Abreagieren negativer
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Beleidigung der Adressatin/des Adressaten |
scherzhafter Gebrauch (laudativ, kosend, als kreative
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Tabelle 3: Funktionen verbaler Aggression (Havryliv 2009: 24)
Abreagieren negativer Emotionen |
Beleidigung der der Adressatin/des Adressaten |
scherzhafter Gebrauch (laudativ, kosend, als kreative Selbstdarstellung) |
73% |
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Tabelle 4: Funktionen verbaler Aggression (Ergebnisse des aktuellen Forschungsprojektes „Verbale Aggression und soziale Variablen Geschlecht – Alter – sozialer Status“)
Wie aus den Tabellen 3 und 4 ersichtlich, hat die Rolle der wichtigsten Funktion verbaler Aggression – Abreagieren negativer Emotionen – zugenommen, während der scherzhaft-kosende Gebrauch aggressiver Sprechakte abgenommen hat (zwischen den beiden Umfragen liegen sieben Jahre: die ersten Umfragen wurden 2006–2007, die zweiten 2014–2015 durchgeführt).
Die Funktion des Abreagierens erfüllen neben den indirekten Beschimpfungen vor allem Flüche, Sachschelten, Tierbeschimpfungen, Emotions- und Situationsthematisierungen. Auch ursprünglich personenbezogene aggressive Sprechakte (wie Beschimpfung oder aggressive Aufforderung) können kontextuell nur zum Abreagieren (in der Funktion des Fluchens) verwendet werden: z. B. Du Hure! Damischer! Wahnsinniger! Leck mich! Geh scheißen! als Ausruf in einer ärgerlichen Situation.
Der Sprechakt „Fluch“ ist, im Gegensatz zu den anderen aggressiven Sprechakten, nicht personen-, sondern situationsbezogen. Die deutschen Fluchwörter und -wendungen entstammen dem skatalogischen und gotteslästerischen Bereich: Scheiße! Scheißdreck! Schaaß! Mist! Verdammt! Verflucht! Himmelherrgott (Arsch und Zwirn)! Himmel Arsch Herrgottssackra! Kruzifix! Himmelherrgottssakramentdreiteufelnocheinmal! u. a.
Emotions- und Situationsthematisierungen sind darauf gerichtet, der Adressatin oder dem Adressaten Grenzen aufzuzeigen, ohne ihr „Image“, im Gegensatz zu den anderen aggressiven Sprechakten, direkt anzugreifen. Ihr Gebrauch entspricht dem produktiven Wutaspekt, auf den in der Psychologie und Psychiatrie verwiesen wird: „Bei Wut, richtig eingesetzt, geht es darum, Grenzen aufzuzeigen. Dem anderen wird vermittelt, dass es so nicht weitergeht“ (Kastner 2014: 6f).
Die in den Emotionsthematisierungen verwendeten Pejorativa beziehen sich nicht auf die Adressatin oder den Adressaten, sondern auf den emotionellen Zustand der schimpfenden Person. Emotionsthematisierungen stellen verschleierte indirekte Drohungen bzw. Warnungen vor entstehenden Emotionen und damit verbundenen weiteren verbalen bzw. körperlichen Aggressionen dar. Das Ziel besteht darin, die Konflikteskalation zu vermeiden:
Ich flipp aus!
Ich koch über!
Ich zuck aus!
Mich zerreißt’s gleich!
Mir platzt die Geduld!
Auch Situationsthematisierungen, die sich in zwei Gruppen aufteilen lassen, sprechen die Adressatin oder den Adressaten indirekt an, indem sie sich auf ihr/sein (normverletzendes, rücksichtsloses u. a.) Benehmen beziehen:
- Situationsthematisierungen 1: Die größte Gruppe bilden die Äußerungen, mit denen die schimpfende5 Person ihre Überraschung (Unfassbarkeit) über das normverletzende Benehmen der Adressatin oder des Adressaten äußert:
Des gibt’s doch net!
Des is ja urdeppert!
Es is echt a Wahnsinn!
So eine Frechheit!
Das darf/kann (doch) nicht (net) wahr sein!
Das ist (wirklich) das Letzte!
Das ist zum Kotzen!
- Situationsthematisierungen 2: Äußerungen, mit denen die sich empörende Person signalisiert, dass sie das Benehmen seitens der Adressatin/des Adressaten nicht länger dulden wird:
Das könnt ihr mit mir nicht machen!
Ich lass mich doch nicht frotzeln.
Jetzt reicht es! Mir reicht es!
Nicht mit mir!
Nein!!! So nicht!
Wie die Ergebnisse der von mir durchgeführten Intensivinterviews zeigen, geht es der schimpfenden Person auch bei der direkten Beschimpfung mit einigen Ausnahmen darum, sich abzureagieren und nicht die Adressatin/den Adressaten zu beleidigen: von den 36 in Form von Intensivinterviews befragten Personen haben nur vier (und das waren Personen mit stark ausgeprägtem aggressiven Potential, wie sie auch sich selbst bezeichneten) behauptet, die direkt beschimpfte Person beleidigen zu wollen und das Gefühl der Erleichterung zu empfinden, wenn dieses Ziel erreicht ist, d. h. wenn sich bei der Adressatin oder dem Adressaten der perlokutive Effekt „Beleidigung“ „Kränkung“ einstellt. In den anderen Fällen ist die schimpfende Person über den perlokutiven Effekt „Beleidigung“ betrübt oder empfindet höchstens ein „aggressiv aufgeladenes Gerechtigkeitsgefühl“. Die Adressiertheit des Sprechaktes „Beschimpfung“ und seine direkte Form sind somit keine Grundlage für das Zuschreiben der Äußerung einer beleidigenden Intention.
Fiktive verbale Aggression. Beim scherzhaften, kosenden, laudativen Gebrauch aggressiver Sprechakte – im Freundeskreis, den nahen Leuten gegenüber – handelt es sich um fiktive verbale Aggression: Lokution und Proposition stimmen mit denen der echten verbalen Aggression überein, nicht aber der illokutive und der perlokutive Aspekt. Die Form fiktivaggressiver Äußerungen (Gesagtes) stimmt mit deren Inhalt (Gemeintes) nicht überein, da die pragmatische Funktion über der Mitteilungsfunktion dominiert. In der fiktiven verbalen Aggression aktualisiert sich der ambivalente Charakter von Pejorativa (cf. Ehalt 2015: 8), der vom Ambivalenzprinzip als „Fundament des Humors“ spricht). Den scherzhaften Aspekt des Schimpfens zeigt auch die Etymologie des Wortes: ahd. „scimphen“ und mhd. „schimphen“ bedeuteten „scherzen“ „spielen“ und erst dann – „verspotten“ (DUDEN 2003: 1375).
Voraussetzungen für erfolgreiche fiktive verbale Aggression (wenn die Illokution und die Perlokution übereinstimmen und die Adressatin/der Adressat die an sie/ihn gerichtete Beschimpfung nicht beleidigend wahrnimmt) sind enge freundschaftliche Beziehungen, gegenseitige Kenntnisse über die „schwachen Stellen“, Tabus, Wertesysteme, Lebenserfahrungen und Reaktionen der kommunizierenden Personen, die Fiktionalität der Äußerung ermöglichen. Unter diesen Bedingungen können Pejorativa mit laudativer und kosender Intention gebraucht und entsprechend wahrgenommen werden (laut Angaben der Befragten – sogar starke Pejorativa und Nationalschelten –Du dreimal arschgefickter Weihnachtsmann, Hurentschusch oder stinkender Kanack). Die unten angeführte kommunikative Situation veranschaulicht nicht nur die fiktive verbale Aggression selbst, sondern auch deren Wahrnehmung seitens des Adressaten: Als ein Journalist versucht hatte, Jazz Gitti, die Teilnehmerin des Projektes „Dancing Stars“, durch eine Behauptung auf den Arm zu nehmen, beschimpfte sie ihn: „ Geh sch…, du Oar…loch, geh sch… Wenn du nicht für mich anrufst, zwick ’ich dich in die Eier! “ Auf die Frage nach seiner Reaktion ( ÖSTERREICH: Sie hat Sie Oar…loch geschimpft), antwortete der Journalist: KULIS: (lacht) Ja. Aber mit einem Smiley dabei. Es war in einer Mischung aus Erleichterung, Ärger und auch Respekt gesagt (Österreich 10.04.2016: 5).
Typische Adressatinnen und Adressaten fiktiver verbaler Aggression sind:
- Freunde. Der Gebrauch von Pejorativa im Freundeskreis kann ein Zeichen enger Beziehung sein und signalisieren: „Unsere Freundschaft ist so stark und die Verbundenheit so eng, dass sie das Spiel mit den sonst beleidigenden Worten verkraften kann“.6
Im Freundeskreis können Pejorativa als Zeichen enger Beziehung bereits in der Anrede/Begrüßung (vor allem in den männlichen Gruppen) zum Einsatz kommen: Seavas, Du Oasch!/Koffer/Wappler! Hey, du Sack! Wie geht’s dir, Sack? Auch scherzhafte Drohungen können zur Begrüßung verwendet werden: Wüst a Fotzn? Soll i dir ane auflegen? In unangenehmen Situationen können Freunde einander ebenfalls scherzhaft beschimpfen oder abweisen: Du bist wirklich ein Oaschloch! oder Du Trottel! (wenn der Freund gegenteiliger Meinung ist). Geh scheißen! Leck mich (am Arsch)! Schleich di! I hau da ane owa, das der Schädl raucht!
In anderen Fällen erfüllt der scherzhafte Gebrauch von Pejorativa verstärkende Funktion, etwa um Trost oder Bewunderung zu intensivieren: Du Luder! (mit dem metasprachlichen Kommentar der Befragten: „Anerkennend zur Kollegin, wenn sie erzählt was sie schlaues gemacht hat“). Du gutmütiger Depp! Du Dolm! (Kommentar: „Als Mitleidgefühl, um die Anteilnahme zu bezeugen, wenn jemand etwas Dummes gemacht hat“).
- Partnerin und Partner: Mei süße Hure! Du bist mein Depperl! Geliebter Trottel! Lieblingsmacho! Oide bucklige Brotspinne.
Im erotischen Bereich werden gegenseitige Beschimpfungen als anregend empfunden: Wir haben uns auf die Worte geeinigt (O. H.: Schwanz und Fotze), die uns geil machen […] (Reichart 1993: 42). Erotisches Sprechen (Erotolalie) beschreiben Stückrad (2010: 55) und Jay (2010: 133f).
- Kinder: an die Adresse von Kindern werden neben den Kosewörtern, die sich von den Pejorativa ableiten bzw. durch meliorative Attribute oder Possessivpronomen in Kosewörter umgewandelt worden sind ( Mein Scheißerl! Oascherl! Mein kleiner Stinker!), häufig auch scherzhafte Drohungen verwendet:
Ich beiß dir ins Ohr!
Ich reiß dir die Ohren (den Kopf) ab!
I drah da den Hals um!
Ich beiß dir in Popo!
Ich beiß dir in den Hintern!
- Tiere: Schlampe; Seavas, du Trottel (zum Hund); Lumpi (als Hundename), kleines Scheißerchen; du bist mein Depperl (zur Katze); du Depp (zum Pferd).
Zur fiktiven verbalen Aggression gehört auch das künstlerische/theatralische Schimpfen. Diese Form erfolgt mit dem Ziel der Selbstrealisierung durch Demonstration sprachlicher Kreativität, als Wortspiel und Witz, zur Publikumsaufheiterung – Funktionen, die der Scherzkommunikation im Allgemeinen eigen sind. In dieser Funktion werden die Pejorativa in den literarischen Texten gebraucht: etwa die für den H. C. Artmann typischen Dativ- und Genitivmetaphern (How much, schatzi?):doppelaffe von rennplatzbesudler: 10, unsympatler von affenmenschen: 11, idiot von rächendem sohn: 18, hammel von rennplatzbummler: 19,dieser ausgesprochene Wurm von Sohn: 21,treulose antilope von Astra: 23, eckelerregendes ding von tochter: 149, okkasionelle zusammengesetzte Pejorativa bei Werner Schwab (Troilluswahn und Cressidatheater):Du ruchlose Theaterzwingungsnuttenhaftigkeit: 17; Klugheitsscheißerungsfortsetzungsmoralist: 28; oder Schimpfen als (Reim)spiel (Peter Turrini, Rozznjogd: 63):
Er: … Jedsd ke i di … du wauwausau!!
Sie: oaschgrau!
Er: scheissblau!!
Sie: bamsau!!!!
Er: uahua!!!
Sie: futbua!!
Die Funktion des künstlerischen Schimpf-Wettbewerbs erfüllen die in den Schülerkreisen (diese Art von Beschimpfungen wird nur von den Buben gebraucht) häufigen rituellen Mutterbeleidigungen. Rituelle Beschimpfungen, die eine Reihe von Autorinnen und Autoren beschrieben hat (Burgen 1998; Ermen 1996; Labov 1980; Kiener 1983; Parks 1990; Schumann 1990), verdanken ihre aufheiternde Wirkung auf die Zuhörenden der Voraussetzung, dass ihre Proposition auf die übertriebene Weise nicht wahr ist (je vulgärer, bizarrer und unwahrscheinlicher, desto stärker die selbstdarstellende Funktion und entsprechend die Anerkennung der Zuhörenden):
Deine Mutter ist deine Schwester/ein Mann.
Ich habe deine Mutter letzte Nacht im Puff gebumst.
Sag deiner Mutter, sie soll beim nächsten Mal weniger Lippenstift nehmen, weil gestern mein Schwanz wie ein Regenbogen ausgeschaut hat.
Deine Mutter ist so dumm, wenn es an der Tür läutet, dann bellt sie.
Deine Mutter ist so fett, wenn sie hochspringt, bleibt sie in der Luft kleben.
Der Gebrauch von Mutterbeleidigungen im Deutschen ist Folge von Sprachkontakten: rituelle Beschimpfungen kommen unter dem Einfluss von Schülern aus den Ländern, wo diese Praktiken verbreitet sind (z. B. im Nahen Osten) und gegen das Tabu, Verwandten zu beleidigen, verstoßen, in wörtlicher Übersetzung ins Deutsche. Während bei den Mutterbeleidigungen in österreichischen (deutschen) Schülerkreisen die Proposition eine Voraussetzung für ihren erfolgreichen Einsatz bildet (je ausgefallener, desto höher die kreative sprachliche Selbstdarstellung und emotionelle Entlastung), ist für die Mutterbeleidigungen in den slawischen Sprachen oft der expletive Gebrauch kennzeichnend: sie sind, obwohl formal auf die Mutter der Adressatin/des Adressaten gerichtet, desemantisiert und nicht personenbezogen; ihre pragmatische Bedeutung ist mit dem Ausruf Scheiße! im Deutschen vergleichbar. Es gibt auch keine altersspezifischen Einschränkungen bezüglich des Gebrauchs häufiger Mutterbeleidigungen in den slawischen Sprachen.
In der realen Kommunikation handelt es sich bei den Beschimpfungen in der künstlerischen Funktion oft um Kollektivbeschimpfungen mit hierarchisch ungleichen Positionen (Chef – Vorgesetzte, LehrerIn – Schulklasse), wobei die Rolle der Adressatin/des Adressaten der eines Publikums entspricht. So erinnert sich Hermann Seyboth an einen Lehrer: „Wenn er sagte, wir sollten nicht wie ein Pfund Wurst dasitzen oder uns als Urschlamm der menschlichen Dummheit beschimpfte, fühlten wir uns ausgezeichnet“ (Seyboth 1958: 23).
Theatralisches Schimpfen wird auch mit dem Ziel des Stressabbaus eingesetzt: eine Interviewte berichtet von der verbalen Praktik in ihrer Familie – sie und ihr Mann (beide mit Hochschulabschluss) pflegen zum Stressabbau, sich in die Rolle „Proletenfamilie“ zu versetzen und, deren Verhalten nachahmend, miteinander zu schimpfen. Ein literarisches Beispiel veranschaulicht ebenfalls diese Funktion:
(Gisa Pauly, Die Klassefrau: 118).
Neben diesen drei häufigsten erfüllt der Gebrauch aggressiver Sprechakte eine breite Palette von Funktionen (Zhelvis 2001: 99 –118) differenziert stark und unterscheidet 26 Funktionen), von denen viele als produktiv bezeichnet werden können, weil es auch zur Kommunikation gehört, die negativen Emotionen zu äußern (emotive Funktion der Sprache), auf Missstände aufmerksam zu machen um Situations- oder Verhaltensänderung der Adressatin oder des Adressaten zu erzielen, Grenzen aufzuzeigen, ohne andere Person zu beleidigen bzw. beleidigen zu wollen. Dem produktiven Aspekt verbaler Aggression wird in der Sprachwissenschaft bis jetzt wenig Aufmerksamkeit gewidmet; in der Psychologie dagegen ist die produktive Betrachtung der Aggression verbreitet (cf. Bach und Goldberg 1981: 20), die von der „produktiven Aggression“ reden und diese der Gewalt entgegenstellen)7.
Auf den Zusammenhang zwischen der Gewalttätigkeit einerseits und der Angst bzw. Passivität andererseits verweisen Fachleute aus verschiedenen Wissenschaften – der Psychologie, Kulturologie, Geschichte oder Sprachwissenschaft: Bach und Goldberg (1981: 90) führen Gewalttätigkeit auf lang unterdrückte Feindseligkeit zurück und Hessel (2015) kommt in seinem weltberühmten Essay „Empört euch!“ zur Schlussfolgerung, dass Faschismus durch „fürchterliche Angst“ seiner Anhänger vor der bolschewistischen Revolution verursacht wurde. Diese Hypothese teilt auch die russische Historikerin, Professorin an der Moskauer Universität, Elena Halkina (2015: 6): auf die Frage „Warum hat sich Putin für die Aggression gegen die Ukraine entschieden?“ behauptet sie, dass seine Hauptmotivation nicht die Wiederherstellung des russischen Imperiums mit den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg war, sondern die Projektion auf sich selbst der ukrainischen Situation (Majdan, Flucht von Janukovytsch), die Angst um seine Macht und folglich der Wunsch, nicht nur seine künftige Macht zu sichern, sondern auch die positive, auf die Reformen ausgerichtete Entwicklung der Ukraine zu verhindern. Er wollte beweisen, dass die Revolution den Weg in den Verfall bedeutet: „Deshalb entschied er sich für die Aggression gegen die Ukraine, diesen Inbegriff der Freiheit und der Demokratie. Seitdem bemüht er sich, sich selbst und der Umgebung, in erster Linie den russischen Bürgern zu zeigen, dass Demokratie etwas Negatives darstellt und dass die einzige effiziente Art und Weise eine Gesellschaft zu regieren, eine Diktatur ist“. Die These, dass Passivität, Gleichgültigkeit und Angst in Aggression und Gewalt münden, erklärt Halkinas Charakteristik von Russinnen und Russen als „aggressiv-passiv“: „Es ist schwer zu sagen, wie groß die Verluste sein sollten, damit aggressiv-passive Bevölkerung Russlands aufwacht und ihre Wut nicht gegen die USA und die Ukraine, sondern gegen den an ihrem Leid Schuldigen richtet“ (Halkina 2015: 6). Ähnlich ist die Bestandsaufnahme des russischen Journalisten Matvej Ganapolskij: „Während die Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer auf dem Majdan protestierten, sind die Russinnen und Russen höchstens zu den Küchenprotesten bereit“ (Ganapolskij 2015: 6). Dauernde strukturelle Gewalt, die in die sozialen Strukturen russischer Gesellschaft eingebaut ist und ihre Bürgerinnen und Bürger im Zustand der Angst und der Passivität hält, mündet in der physischen Gewalt, die sich in der aktuellen Politik des Landes äußert (cf. Hessel (2015), der politische Passivität und Gleichgültigkeit als „die schlimmste Haltung mit den unabsehbar fatalen Folgen“ bezeichnet).
Auf den Zusammenhang zwischen Passivität und (verbaler) Aggressivität weist auch der Sprachwissenschaftler Valentin Devkin hin – er führt die Lebendigkeit der sprachlichen Varietät „mat“ auf die politische Passivität ihrer Trägerinnen und Träger zurück:
(1996: 9f).
Um durch die Tabuverletzung die Illusion des Aufstandes, der Freiheit, des Widerstandes gegenüber jeder Autorität und jedem Verbot zu suggerieren, werden Pejorativa und die Sprache mit ihrem Gebrauch (Mat) in Russland traditionell stark tabuisiert. Obwohl der Mat als sprachliches Exportprodukt infolge der Russifizierung auch im Ukrainischen Verbreitung gefunden hat, ist für ihn der gewohnheitsmäßige expletive Gebrauch kennzeichnend. Die Ersatzfunktion des Protestes erfüllt er nicht – dafür fehlen die von Devkin beschriebenen Voraussetzungen. Neben dem nichtintentionalen expletiven Matgebrauch (der für bildungsferne Personen typisch ist), beobachten wir auch bewusste Verwendung von Matwörtern – z. B. von den Intellektuellen und Künstlern mit dem Ziel die Nichtkonventionalität, Originalität oder „die Nähe zum Volk“ zu suggerieren.
Es sei darauf hingewiesen, dass es sich im Zustand des Affektes um halbbewusste Intentionen handelt, die den befragten Personen oft erst im Interview bewusst wurden. Die bewussten Intentionen (jemanden zu beleidigen, einen komischen Effekt zu erzielen, sprachliche Originalität zu demonstrieren) treten dagegen in weniger spontanen und affektgeladenen Situationen auf.
- Schimpfen um Unmut auszudrücken und Situations- bzw. Verhaltensänderung zu erzielen;
- um auf einen Missstand aufmerksam zu machen;
- Selbstdarstellende Funktion: Schimpfen um sich als rechtschaffene Person zu positionieren, Abgebrühtheit, Coolness, „Volksnähe“ zu demonstrieren.
- Angstbewältigung und Realitätsabwertung. Diese Funktion aggressiver Sprechakte lässt sich am Beispiel des in der Ukraine in den letzten Jahren populären Anti-Putin-Spruchs Путін хуйло/putin chuilo – Putin ist ein Riesenarschloch veranschaulichen (siehe bitte im Literaturverzeichnis). Der Sprechgesang Путін хуйло ля ля ля ля ля ля ля ля/Putin ist ein Riesenarschloch la la la la la la la la wurde zum ersten Mal am 30.03.2014 von den Fußballfans zweier ukrainischer Fußballklubs – „Metalist“ (Charkiv) und „Schachtar“ (Donez’k) gesungen, erlebte sofort eine starke Verbreitung und wurde zum Internet-meme. Zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Spruchs – ein Monat, nachdem die Krim besetzt wurde – haben die negativen Emotionen der Ukrainerinnen und Ukrainer (Wut, Hass, Angst) den Höhepunkt erreicht, als das Abreagieren durch das Schimpfen keine Erleichterung brachte. Deshalb schaltete sich zusätzlich der andere Mechanismus des Abreagierens (durch das Auslachen) ein. Die kathartische Funktion verbaler Aggression wurde dadurch verstärkt, weil den beiden Vorgehen – sowohl dem Schimpfen als auch dem Auslachen die entlastende Funktion zukommt: cf. Freud (1994) über die tröstende Funktion des Humors und seine Rolle dabei, die Schwierigkeiten und Begrenztheiten der Realität zu ertragen und zu überwinden zu helfen (Spannungsabbau- und Trostfunktionstheorien) oder Bergson, der das Lachen als „Anästhesie des Herzens“ (Zitat nach Kotthoff 2013: 234) bezeichnet, mit dem Leiden, Schrecken oder Traurigkeit kurzzeitig überblendet werden. Im Sinne der Bachtin’schen Karnevaltheorie wird der bedrohliche russische Präsident im Sprechgesang lächerlich und erbärmlich dargestellt, was die Negation seiner neoimperialistischen aggressiven Politik wie auch das Abreagieren der Wut und Ängste ermöglicht.
- Schimpfen aus Angst beobachten wir auch in dem von Zeugen des Amoklaufs in München am 22.07.2016 gefilmten Video: Während der Täter auf dem Parkdeck des Münchner Olympia-Einkaufszentrums herumläuft, wird er von der angrenzenden Wohnanlage aus beschimpft.
- Schimpfen zur Selbstverteidigung: Aggressive Ausdrücke können zur Einschüchterung gebraucht werden. So berichten die befragten Personen, dass sie sich der verbalen Aggression in denjenigen Situationen bedienen, wenn sie Aggressivität befürchten und deshalb ihr vorankommen „Ich schimpfe daher auch ab und zu aus Selbstschutz, damit mein Gegenüber erst gar nicht in Versuchung gerät sich weiter mit mir anzulegen“ (aus einer schriftlichen Umfrage). Diese Taktik ist in den Situationen sinnvoll, wenn über die Adressatin/den Adressaten bekannt ist, dass sie/er als Reaktion auf die verbale Aggression nicht mit der verbalen oder gar physischen reagieren wird. Wenn der schimpfenden Person die Reaktionen der Adressatin oder des Adressaten unbekannt sind, ist diese Taktik nicht risikofrei, denn die verbale Aggression kann nicht nur verbale, sondern auch physische Aggression als Antwort erwirken.
- Schimpfen als Machtdemonstration und aus Hilflosigkeit:
a) | Schimpfen als Machtdemonstration stellt bewussten intentionalen Gebrauch von Pejorativa mit dem Ziel dar, besondere soziale Position zu demonstrieren, die es erlaubt, die Tabus auf den Gebrauch von Pejorativa zu brechen (cf. Stavyz’ka 2008: 52 und Mokienko 1994) über die Vorliebe von Abgeordneten, Präsidenten und Bürgermeistern für diese Art verbalen Tabubruchs) und ist insbesondere für autoritäre Regimen typisch. Viktor Jerofejew schreibt in der „Russischen Apokalypse“ ebenfalls: „In den Machtstrukturen blüht der Mat. Putin benutzt ihn. Ebenso wie für Stalin, Chruschtschow, Breschnew oder Jelzin ist er für ihn eine autoritäre Sprache, die Sprache der Macht“ (2006: 42). Stavyz’ka (2008: 52) spricht sogar vom Untertypus „parteilicher Mat“, der in den sowjetischen Zeiten als interner emotiver Jargon der parteilich-staatlichen Elite seine Blütezeit erlebte und mit dem Ziel, korporative Atmosphäre und freundschaftliche Beziehungen zu schaffen, eingesetzt wurde. |
b) | verbale Aggression als Ausdruck des Kontrollverlustes, der Schwäche und Hilflosigkeit – in Situationen, wenn andere Mittel, sei es ein konstruktives Gespräch oder eine Bitte, versagt haben. Dass verbale Aggression als Ausdruck der Schwäche gelten kann, zeigt sich in den Kommentaren der Befragten wie „ich schimpfe nicht in der Öffentlichkeit, weil ich mich nicht bloßstellen will/meine Schwäche nicht zeigen will“ u. a. |
- Korporative Funktion:
a) | Schimpfen, um Zugehörigkeit zur Gruppe zu demonstrieren, Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und Erinnerungen hochleben zu lassen: so berichten ältere Befragte, bei Klassentreffen pejorative Wörter und Wendungen zu gebrauchen, die in ihrer Schulzeit verbreitet waren; |
b) | Stressabbau durch gemeinsames Schimpfen über Dritte; |
c) | Bezeugung gemeinsamer Werte und Weltanschauung: Schimpfen über Politik und Politiker, über gesellschaftliche Verhältnisse (Sexismus, Rassismus, Kapital- und Bankenszene). |
- Tröstende Funktion: die Beschimpfung Dritter, um die zuhörende Person, der diese das Unrecht getan hat, zu trösten (z. B. vor der Freundin deren untreuen Freund oder despotischen Vorgesetzten beschimpfen). Der perlokutive Effekt – wohltuende Wirkung verbalaggressiver Äußerungen auf die/den Zuhörenden – wird im folgenden literarischen Zitat beschrieben: „Die Fucks ihrer Schwester trösteten sie mehr als alles andere, was jemand in den letzten Stunden gesagt oder getan hatte. […] Wie lächerlich sich die menschliche Sprache im Angesicht der Katastrophe machte. Ein Chihuahua, der versuchte, einen Bernhardiner zu bespringen“ (Thea Dorn, Die Brut: 327).
- Verstärkende Funktion der Pejorativa:
a) | zum Intensivieren positiver Erlebnisse: Du, leck mi (am Oasch), der Schnitzel/der Film war gut! |
b) | um die Ernsthaftigkeit der Situation, Wahrhaftigkeit der Aussage zu unterstreichen: z. B. beim Verabschieden: I reiß o! I hau o! I schleich mi! I hau mi über d Heisa! um die Endgültigkeit des Vorhabens wegzugehen zu unterstreichen. Oder: Ein Gorilla soll mich von hinten bumsen, wenn das kein Spinat ist! (H. C. Artmann. How much, schatzi?: 61) |
c) | Selbstbeschimpfung zur Verstärkung der Entschuldigung: Entschuldige, ich habe mich genauso verhalten wie ein Arschloch! I bin a hoagliche (heikle) Sau – wenn die befragte Person eine Speise ablehnt. |
Pejorativa in den nichtaggressiven Sprechakten: Neben dem Gebrauch in den aggressiven Sprechakten funktionieren Pejorativa auch in den nichtaggressiven Sprechakten, z. B. in sarkastischer Form als Äußerung der Empörung über das normverletzende Verhalten einer anderen Person – wie in der Mitteilung Die Polizei geht Neger perlustrieren. Das Wort Neger wird zwar von der interviewten Person gebraucht, bedeutet aber nicht deren negative Stellungnahme den Schwarzen gegenüber, sondern ihre Empörung über das diskriminierende Verhalten der Polizisten, in deren Augen Schwarze ‚Neger‘ sind.
Vulgarismen und vulgäre Äußerungen werden zum Intensivieren nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch in den Massenmedien gebraucht: sei es vom Dompfarrer (um die Ernsthaftigkeit kirchlicher Probleme zu betonen) oder als Erfolgsrezept eines Fußballspielers:
Was die Anzahl der Mitglieder betrifft, ist die Lage relativ beschissen (Dompfarrer: „Kirche geht’s beschissen.“ Österreich 14.11.2014: 8).
/…/ kämpfen und uns den Arsch aufreißen (Wir müssen einfach kämpfen und uns den Arsch aufreißen. Heute 09.10.2013: 31).
Die Normalisierung der Pejorativität beobachten wir in den anderen Sprachen: „Noch vor einigen Jahren war es undenkbar, in einer Tageszeitung Schimpfwörter zu finden. Heute dagegen sind folgende Beispiele keine Einzelfälle“ – schreibt Janeš (2009: 200) über das Kroatische.
In den slawischen Sprachen können Pejorativa auch in Form von Fragepronomen (z. B. im Kroatischen koji kurac? oder im Ukrainischenякого хуя? warum? Wozu?), Adverbialbestimmungen/Mengenbestimmungen ( дохуя = viel, jede Menge) oder als Negationspartikel zum Vorschein kommen, die ins Deutsche mit „einen Scheißdreck“ übersetzt werden könnten. Im letzten Fall negiert das Schimpfwort den Rest der Aussage, genauer gesagt das Verb (хуя дістанеш – wörtlich: einen Schwanz bekommst du im Sinne von „nichts“).
In den ländlichen Gegenden werden die Pejorativa in den slawischen Sprachen noch in der apotrtopäischen Funktion, als „Schutzmantel“ verwendet (Ermen 1996 oder Stavyz’ka 2008). Diese Funktion beobachten wir vor allem im Beschimpfen von Babys oder Kleinkindern. Im Ukrainischen werden zu diesem Zweck euphemistische harmlos-komische Verwünschungen verwendet (Качка би тебе копнула! - Die Ente soll dir einen Tritt geben!А бодай би ти скисла! - Mögest du versauern! oder А щоб тобі добре було! - Gut soll es Dir gehen!)
Unter dem expletiven Gebrauch von Pejorativa wird die routinemäßige Verwendung von Schimpf- und Fluchwörtern in emotional neutralen Situationen – als Pausenfüller oder um der Rede einen Rhythmus zu verleihen – verstanden. Sie ist für eine Reihe von Sprachen typisch (insbesondere für slawische Sprachen, aber auch für das Englische oder das Italienische). Burgen (1998: 23) schildert dieses Phänomen sehr anschaulich am Beispiel des Englischen:
Dasselbe beobachtet der Autor bei den Fernsehinterviews mit Fußballspielern und Polizisten: „Unter Druck gesetzt durch den Umstand, dass man vor Gericht oder im Fernsehen nicht fuck sagen darf, wird ihre Sprechweise gestelzt, stockend, ihrer natürlichen Kadenz beraubt“ (1998: 61). Besonders ausgeprägt ist der expletive Gebrauch von Pejorativa im Russischen, wo diese Verwendung als eine eigene Sprache (Matsprache) bezeichnet wird.
Exurs über den Mat: „Mat“, der seinen Namen von der Wendung Ёб твою мать!/Job tvoju mat! (Ich ficke deine Mutter!) entlehnt hat, stellt eine sprachliche Varietät des Russischen dar, die auf der Grundlage von vier morphologisch hochproduktiven Lexemen aus dem sexuellen Bereich (хуй/chuj – Schwanz, пизда/pizda – Fut (Fotze), ебать/jebat‘ (ficken), блядь/bljad‘(Hure)) und ihren zahlreichen Ableitungen beruht. Kennzeichnende Eigenschaft des Mats ist schwache oder fehlende Emotivität (die Befragten betonen ebenfalls diese Besonderheit: „Mit dem Mat wird gesprochen, nicht geschimpft!“). Als Folge beobachten wir Dysphemisierungsprozesse, wenn Matwörter theoretisch jedes neutrale Wort ersetzen, so dass jede neutrale Handlung, jeder alltägliche Gegenstand und jede Qualität mit einem Matwort bezeichnet werden können. Dies erlaubt, vom Mat als „Parallelsprache des Russischen“ zu reden (Devkin 1996: 21; Pluzer-Sarno 2002: 79; Stavyz’ka 2008: 24; Zhelvis 2001: 87): dabei ahmt die Matsprache die grammatische Struktur des Russischen nach, und Matwörter nehmen die Gestalt einzelner Wortarten an – von dieser erstaunlichen Eigenschaft der Matsprache war auch Fjodor Dostojewski beeindruckt: „Ich habe plötzlich begriffen, dass es möglich ist, alle Gedanken, Gefühle und sogar tiefgreifende Überlegungen nur noch mit einem einsilbigen Substantiv (хуй/chuj – Schwanz – O. H.) zu äußern“ (Dostojewski 1980: 108, Übersetzung von mir – O. H.).
Im Deutschen kommt der expletive Gebrauch von Pejorativa selten vor: in der Umgangssprache wäre die Verwendung vom Ausruf Oida! zu erwähnen und in meinem Materialkorpus, der auf den literarischen Texten beruht, finden sich Beispiele bei Wolf Haas (Auferstehung der Toten): „Ich frag nur, weil ich nicht dort gewesen bin. Ich hab nämlich wollen, aber scheiß mich an, zweiteilen kann ich mich nicht. […]“: 141; Aber da hört er noch wie der Taxler sagt: „Ich frag die Wirtin: Scheiß mich an, wieso bist du denn heute so blass wie ein gekotztes Grießkoch?“: 142; „Scheiß mich an, das wird dir noch einmal leid tun“, sagt der gemütliche Chauffeur: 149.
Wie ersichtlich, ist für die verbale Aggression funktionale Polarität kennzeichnend. Diese Eigenschaft zeigt sich auch in den Zusammenhängen zwischen der verbalen und der physischen Aggression – verbale Aggression kann sowohl als Ersatz, als auch als Provokation zur physischen Aggression auftreten:
a) | Die wichtigste Funktion verbaler Aggression, die im Ersatz der physischen besteht, lässt sich am Beispiels des Sprechaktes „Drohung“ am besten veranschaulichen, denn in diesem Sprechakt wird jene physische Handlung (oft hyperbolisiert oder metaphorisch) wiedergegeben, welche die drohende Person der Adressatin oder dem Adressaten gern angetan hätte, wenn sie keine Angst vor ihr (bzw. vor dem eventuellen Gerichtsverfahren oder anderen Sanktionen) gehabt hätte: I lang da ane auf! I kann di umbringen! I reiß da di Brust auf und scheiß da aufs Herz! I drah da den Hals um! I reiß da den Arsch auf! Der Sprechakt „Drohung“ kann aber auch als Provokation zur physischen Aggression eingesetzt werden. |
Die Ersatzfunktion hat auch der schon erwähnte Anti-Putin-Sprechgesang erfüllt: am 14.06.2014 regte der damalige ukrainische Außenminister Andrij Deščyzia die vor der russischen Botschaft in Kyjiv protestierenden Menschen an, Putin chujlo zu singen und verhinderte dadurch den Botschaftsansturm.
b) | Seltener und vor allem in der Szene von Teenagern und Jugendlichen kann die verbale Aggression als Provokation zur physischen eingesetzt werden. Dieter Cherubim spricht sogar von der „Entriegelungsfunktion des Sprachlichen für höhere Grade von Aggression“ (1991: 15). Dabei müssen nicht unbedingt aggressive Sprechakte zum Einsatz kommen: für eine angriffslustige Person genügt es schon, den anderen nach der Uhrzeit, dem Weg, dem Vorhandensein des Feuerzeugs zu fragen, um dann seine Antwort als aggressiv zu deuten und sie anzugreifen. Andererseits kann die Entriegelungsfunktion eine positive Dimension haben (insbesondere bei den Kindern und Jugendlichen), wenn die Verbalisierung physisch aggressiver Akte dazu dient, mit der anderen Person in Kontakt zu treten. Diese kontaktstiftende Funktion der verbalen Aggression lässt sich am Auszug aus „Tom Sawyer“ exemplifizieren: zwei Jungen wissen nicht, wie sie den Kontakt zueinander aufnehmen sollten, nach einiger Zeit beginnt die verbale Kommunikation seitens Tom mit einer indirekten Drohung: |
Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen den Einsatz physischer Aggression mit ungenügender sprachlicher Geschicklichkeit in Zusammenhang: „[…] wenn den Kids im Alltag erst die Worte fehlen, ist der Schritt vom Fluchwort zum Faustschlag oft schnell getan“ (Hess-Lüttich 2008: 332) und halten sogar ein „gezieltes Schimpftraining“ (Schmauks 2010: 195) für sinnvoll, um die sprachliche Schlagfertigkeit auszubauen und verbale Aggression an die Stelle physischer zu setzen. Dieselben Ratschläge kommen auch seitens der Psychologie: Bach und Goldberg sehen die wirksamste Schutzmaßnahme gegen Gewalttätigkeit darin, „[...] sich den Ausdruck von Aggressionsgefühlen zu erlauben, um auf diese Weise, im vertrauten Umgang mit ihnen, angemessene Ausdrucksmöglichkeiten für sie zu entwickeln“ (Bach/Goldberg 1981: 91). Ich bin ebenfalls der Meinung, dass gewaltfreie Emotionskommunikation gelernt werden kann. Zum Beispiel: im Affektzustand hat die Person meistens keine Zeit zum Nachdenken, so dass sie auf die gebräuchlichsten Wörter und Wendungen zurückgreift, deren direkte Bedeutung infolge der universalen Anwendung in den Hintergrund tritt und den Sprecherinnen und Sprechern nicht bewusstwird. Es wäre deshalb sinnvoll und möglich, sich ein stereotypenfreies, nicht beleidigendes Vokabular anzueignen, von dem in der Konfliktsituation spontan und gewohnheitsmäßig Gebrach gemacht werden könnte. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sich ein nicht beleidigendes Vokabular anzueignen, eine davon wäre bewusst eine Hemmschwelle gegenüber den Pejorativa auszuarbeiten, die den realen Status ansprechen (z. B. Herkunft, Aussehen) oder geschlechtliche Stereotype und Rollenbilder reproduzieren. Denn laut Ergebnissen meiner Forschungsarbeiten, die auch von Birgit Sauer (2013) bestätigt werden, wird in der Konfliktsituation, der keine interethnischen Konflikte zugrunde liegen, automatisch auf Stereotype und abschätzige Bemerkungen über die Herkunft und körperliche Merkmale zurückgegriffen. Auch im Verlauf von Intensivinterviews habe ich beobachtet, wie die befragten Personen durch die Selbstreflexion des eigenen verbalaggressiven Verhaltens zu dem für sie unerwarteten Fazit kamen, dass es ihnen beim Schimpfen gar nicht oder nur in seltenen Fällen darum geht, zu beleidigen und sie hinsichtlich dieser Tatsache ihr Schimpfvokabular verändern könnten indem sie auf starke personenbezogene Pejorativa verzichten oder nicht personenbezogene Sprechakte gebrauchen (z. B. Emotionsthematisierungen).
Nicht nur die verbale Aggression selbst, auch ihr Verbot steht im Zusammenhang mit der physischen Aggression. So führt das aktuelle Mat- und Schimpfwörterverbot in Russland (Gesetz vom 01.07.2014, das den Gebrauch von Matwörtern und Pejorativa in den Massenmedien, literarischen Texten, Filmen, Sendungen und Theateraufführungen verbietet) vor dem Hintergrund russischer aggressiver Politik zu folgenden Überlegungen über das Verhältnis verbaler und physischer Aggression: Filme, in denen Schimpfwörter verwendet werden, hatten in Russland bereits vor dem betreffenden Verbot Altersfreigabe von 16 bzw. 18 Jahren, d. h. sie wurden mit Filmen, die brutalste Gewaltszenen beinhalten, ebenso gleichgestellt wie verbale Aggression mit physischer. Das aktuelle Verbot aber stellt verbale Aggression über die physische, wodurch die Aufmerksamkeit von der physischen Gewalt abgelenkt wird, so dass diese nivelliert wird.
Von den Funktionen aggressiver Sprechakte ausgehend, wird in diesem Beitrag eine Trennlinie zwischen verbaler Aggression und verbaler Gewalt gezogen und zwei Möglichkeiten des Gebrauchs aggressiver Sprechakte behandelt – der auf die Gewaltausübung ausgerichtete und der gewaltlose. Im ersten Fall ist es wichtig, unter Berufung auf die Sprechakttheorie und die Performativitätstheorie (Butler), verbale Gewalt als eigenständige Gewaltform zu betrachten und die Sprachträgerinnen und -träger darin zu sensibilisieren, dass ihre sprachlichen Handlungen genauso wie die physischen verletzen und auch eine Gewalttat sein können.
Sprachliche Gewalt kann aber auch ohne Einsatz aggressiver Sprechakte erfolgen: das Verbreiten falscher Informationen, Erteilen unsinniger Aufträge u. a. Der Sichtweise, dass von der Gewalt nur dann die Rede sein kann, wenn es sich um asymmetrische Beziehungen handelt (Lehrer/Lehrerin – Schüler/Schülerin, Vorgesetzte – Mitarbeiter/Mitarbeiterin u. a.) kann, ausgehend aus den häufigen Fällen verbaler Gewalt (darunter auch Mobbing) unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder Schülerinnen und Schülern nicht zugestimmt werden.
Bei der Definition des Begriffs verbale Aggression ist der illokutive Akt ausschlaggebend; daher haben wir es mit der sprachlichen Handlung oder mit dem Sprechakt im engen Sinne zu tun. Wichtige Rolle kommt dabei der sprechenden Person zu.
Für die Definition verbaler Gewalt ist dagegen die Berücksichtigung ausschließlich des illokutiven Aktes nicht ausreichend, weil für die verbale Gewalt der perlokutive Akt (perlokutive Effekte, die der Sprechakt hervorruft) ausschlaggebend ist. Der Hauptakzent liegt, im Gegensatz zur verbalen Aggression, auf der Adressatin/dem Adressaten. Sprachliche Äußerungen können auch von der zuhörenden Person als Gewalt interpretiert werden, das Empfinden der Adressatin bzw. des Adressaten ist aber bei der Definition verbaler Gewalt ausschlaggebend. Diese Sichtweise findet sich ebenfalls in der neueren sprachphilosophischen Literatur:
(Liebsch 2007: 136).
Ausgehen von der Differenzierung „verbale Aggression – verbale Gewalt“ unterscheidet sich auch die Rolle der Adressatin/des Adressaten:
- bei der verbalen Aggression ist der Adressat/die Adressatin fakultativ (er/sie fehlt bei den indirekten Formen verbaler Aggression, beim Fluchen oder beim Verwenden von Sachschelten);
- um einen Sprechakt als verbale Gewalt zu definieren, ist nicht nur die Anwesenheit der Adressatin/des Adressaten obligatorisch, sondern auch das Auftreten des perlokutiven Effektes „Kränkung“, „Beleidigung“.
Es ist nicht immer möglich, zwischen verbaler Aggression und verbaler Gewalt scharfe Trennlinie zu ziehen: neben den Fällen, die eindeutig verbale Gewalt darstellen bzw. diese ausschließen (siehe unten 1 und 2), lassen die anderen (3 und 4) mehr Freiraum für die Interpretation dieser Begriffe:
1. | Verbale Aggression = verbale Gewalt: Dem aggressiven Sprechakt liegt beleidigende, herabwürdigende Intention zugrunde (illokutiver Aspekt) und die sprachliche Handlung wird auch von der Adressatin/dem Adressaten als Gewalt wahrgenommen (Eintreffen des perlokutiven Effektes „Kränkung“, „Beleidigung“, „Betroffenheit“). In diesem Fall stimmen Illokution und Perlokution überein; |
2. | Verbale Aggression ≠ verbale Gewalt (z. B. der Gebrauch von Flüchen oder Sachschelten (da nicht personenbezogen), indirekte Formen verbaler Aggression); |
3. | Dem aggressiven Sprechakt liegt nicht auf die Gewaltausübung ausgerichtete Intention zugrunde; die sprachliche Handlung wird aber von der Adressatin bzw. dem Adressaten als verbale Gewalt empfunden (sie fühlt sich erniedrigt, gekränkt). Da für die Definition verbaler Gewalt der perlokutive Aspekt ausschlaggebend ist, gilt der Sprechakt als verbale Gewalt; |
4. | Der aggressive Sprechakt wird als verbale Gewalt geplant, von der Adressatin bzw. dem Adressaten aber nicht als solche empfunden (der erwartete perlokutive Effekt fehlt). In diesem Fall kann von der Gewalt im engen Sinne nicht die Rede sein, wohl aber von der geplanten verbalen Gewalt („perlokutiver Versuch“ bei Holly 1979:10). |
Schlussfolgernd sei noch auf einen wichtigen Aspekt der Konfliktreduzierung hingewiesen, auf den weder in der wissenschaftstheoretischen Literatur noch in den konkreten gewaltpräventiven Maßnahmen eingegangen wird: genauso wichtig wie das Sensibilisieren gegenüber den Anderen ist das Desensibilisieren sich selbst gegenüber. Da bei den Pejorativa der konnotative Bedeutungsaspekt dominiert und die begriffliche Bedeutung in den Hintergrund tritt, referieren die Schimpfwörter in erster Linie nicht auf die Außenwelt, sondern auf die sprechende Person, ihre innere Welt und Emotionen (cf. Wierzbicka 1973: 146), die die Repräsentation des konnotativen Bedeutungsaspekts in den modalen Rahmen „ich fühle mich“ einbettet und ihn dem signifikativen Aspekt, den der modale Rahmen „ich will ihnen mitteilen“ repräsentiert, entgegenstellt). Die Adressatin/der Adressat sollten sich deshalb bewusst sein, dass verbale Aggressionsäußerungen in erster Linie nicht sie, sondern die sprechende Person charakterisieren, denn sie sind Ausdruck ihres Temperaments, ihrer Probleme und Ängste, ihrer Schwäche und Hilflosigkeit. Diesen Aspekt illustriert ein Zitat aus Harper Lees Roman Wer die Nachtigall stört :
(Harper Lee, Wer die Nachtigall stört: 175f).
Diese Position – verbalaggressive Äußerungen nicht beleidigend wahrzunehmen – ist auch ein wirksamer Schutz gegen die sprachliche Gewalt: dadurch, dass die Person selbst entscheidet, ob sie die Äußerung als beleidigend wahrnimmt oder nicht (ich denke hier an Eleanor Roosevelt, die meinte „No one can make you feel inferior without your consent“ (Zit. nach Lippi-Green 1997: 240), verlässt sie die Rolle des passiven „Opfers“ und wehrt sich aktiv gegen die sprachliche Gewalt.
1. | Verbale Aggression ist ein komplexes Phänomen, dem mehrere Intentionen zugrunde liegen können, wobei die Absicht der Herabsetzung, Kränkung der Adressatin/des Adressaten (gewalttätige Intention) eine unwesentliche Rolle spielt; |
2. | Die Hauptintention kommt dem Abreagieren negativer Emotionen zu (kathartische Funktion verbaler Aggression); |
3. | Der Gebrauch aggressiver Sprechakte erfüllt eine Reihe von Funktionen, die nicht auf die Gewaltausübung ausgerichtet sind und als produktiv bezeichnet werden können: kathartische, tröstende, laudative, theatralische, korporative, verstärkende u. a.; |
4. | Für verbale Aggression ist funktionale Polarität kennzeichnend: |
a) | als Gewalt und als Äußerung enger Beziehung im Freundeskreis (korporative, tröstende Funktion, kosender, laudativer Gebrauch); |
b) | als Machtdemonstration und als Ausdruck von Hilflosigkeit und Ohnmacht; |
c) | als Ersatz und als Provokation zur physischen Aggression; |
5. | Ausgehend aus den Funktionen verbaler Aggression, wird zwischen den Begriffen verbale Aggression und verbale Gewalt und daher auch zwischen zwei Möglichkeiten des Gebrauchs aggressiver Sprechakte differenziert – denen, die auf die Ausübung der Gewalt ausgerichtet sind und den gewaltlosen. |
6. | Da im Beitrag eine Trennlinie zwischen verbaler Aggression und verbaler Gewalt gezogen wird, kann verbale Aggression nicht nur als Ersatz physischer, sondern auch als Ersatz verbaler Gewalt betrachtet werden. |
7. | Angst und Passivität als Folgen struktureller Gewalt sind Ursache sowohl verbaler als auch physischer Gewalt. |
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* Empirische Grundlage des Beitrags bilden schriftliche und mündliche Umfragen der Wienerinnen und Wiener (insgesamt 700 Personen), die ich im Rahmen von zwei FWF-Projekten (aktuell – „Verbale Aggression und soziale Variablen Geschlecht – Alter – sozialer Status“/Elise Richter-Programm) durchgeführt habe. zurück
1 Laut Kiener (1983: 295) übersteigt verbale Aggression mit 90 % des allgemeinen aggressiven Verhaltens weit die physische. zurück
2 In Anschluss an John R. Searles (1971) expressive Sprechakte, welche die Gefühle und Einstellungen der sie verwendenden Person zum Ausdruck bringen, bezeichne ich Sprechakte, mit denen die schimpfende Person ihre negativen Gefühle ausdrückt, als aggressive Sprechakte. Zu den aggressiven Sprechakten, die über einen eigenen sprachspezifischen Wortschatz verfügen (Schimpf- und Fluchwörter, Sachschelten) zähle ich: Beschimpfung, Fluch, Verwünschung, Drohung und aggressive Aufforderung. Dabei folge ich Kiener (1983: 14, 28), der ebenfalls zwischen sprachspezifischer verbaler Aggression (schimpfen, fluchen) und sprachlich unspezifischer verbaler Aggression (verraten, verleumden, anklagen usw.) unterscheidet. Diese Sprechakte könnten auch zu anderen Untertypen (nach Searle) zugerechnet werden – „direktiv“ für aggressive Aufforderungen, „assertiv“ für das Beschimpfen,“ „kommissiv“ – für die Drohungen. Dennoch bleibt das emotive Element das distinktive Merkmal dieser Sprechakte, da sie zum Abreagieren negativer Emotionen dienen. zurück
3 36 mündlich befragte Personen wurden gebeten, die Formen verbaler Aggression in ihrem persönlichen Gebrauch prozentuell so darzustellen, dass sich in der Summe 100 % ergeben. zurück
4 36 mündlich befragte Personen wurden gebeten, die Funktionen verbaler Aggression in ihrem persönlichen Gebrauch prozentuell so darzustellen, dass sich in der Summe 100 % ergeben. zurück
5 „Schimpfen“ wird in enger und in breiter Bedeutung verwendet: 1. Als Sprechakt „Beschimpfung 2. Als Synonym verbaler Aggression im Allgemeinen; 3. Als Äußerung der Unzufriedenheit, Nörgeln, Kritisieren (diese Art des Schimpfens ist z. B. für die Texte von Thomas Bernhard typisch). zurück
6 Cf. auch Kotthoff darüber, dass „eine Kultur des Aufziehens und auf- die Schippe-Nehmens ein Index von Verbundenheit darstellt“ (2013: 74). zurück
7 Den produktiven Aspekt der Aggression als Annäherung sehen wir in der Etymologie des Wortes: lat. „aggressio“ (Angriff) – von „gressio“ (Schreiten, Schritt, Gehen) und „aggredior“, das neben „angreifen“ und „überfallen“ die Bedeutung „auf jemanden oder etwas zugehen, sich nähern“ hat. zurück