Der russische Partikel-Konjunktiv und der deutsche würde-Konjunktiv im Vergleich

Michael Schümann (Bern)


 

1 Einleitung

Im Zusammenhang mit Partikeln denkt man nicht unbedingt an Morphologie. In Sprachen wie dem Englischen oder Deutschen treten Partikeln im engeren Sinne als relativ selbständige Einheiten auf, die nicht als Teile komplexer Wortformen erscheinen. Die Orientierung an derartigen Modellsprachen kann dazu führen, dass eine eingeschränkte Vorstellung von Flexion entsteht, die analytische Bildungsweisen mithilfe von Partikeln terminologisch ausklammert. Gołąb (1962) kritisiert diese Tendenz am Beispiel der altkirchenslavischen Konstruktion da + Präsens, die im Lateinischen – einer weiteren Mustersprache – einer synthetischen Konjunktivform entspricht. So lautet etwa die Vaterunser-Zeile 'geheiligt werde dein Name' im Altkirchenslavischen da svętitъ sę imę tvoje, im Lateinischen dagegen sanctificetur Nomen Tuum. Gołąb (1962: 24) führt aus:

The first modal construction, da + present tense, is not called "subjunctive" (respectively "conjunctive"), although such a denomination would be fully legitimate. But most linguistis [sic] influenced by traditional (conservative) Indoeuropean languages of the s.c. "synthetic type" (cf. the Latin correspondence of the OChS da constructions quoted above [...]) – are used to treating as verbal moods, in principle, synthetic forms, and analytic ones only if they contain an auxiliary finite verb [...]. Such an approach cannot be accepted from general linguistic point of view; it is suggested by a certain linguistic type, namely synthetic inflexional one and does not regard other linguistic types in which, as for example in "isolating" one, verbal tenses and moods are usually expressed by different "particles".

Die alte da-Konstruktionist im modernen Russisch nicht mehr gebräuchlich.1 Es existiert jedoch eine andere Konstruktion, die in deutschsprachigen Grammatiken des Russischen meist "Konjunktiv" genannt wird (auch "Konditional") – der gängige russische Terminus (soslagatel'noe naklonenie) ist nichts anderes als eine Lehnübersetzung von modus coniunctivus (weiter zur Terminologie unten unter 2.2.1). Wie bei der da-Konstruktion wird im Falle des modernen russischen Konjunktivs eine Verbform mit einer Partikel kombiniert; dass sich diese Konstruktion in der Grammatikschreibung als Konjunktiv etablieren konnte, mag – ganz im Sinne Gołąbs, der vom Vorhandensein eines finiten Hilfsverbs spricht – daran liegen, dass die Konjunktiv-Partikel entstanden ist aus einer finiten Form, nämlich dem Aorist2 von byt' 'sein'.

Für das gegenwärtige Deutsche ist das Nebeneinander von synthetischem (Konjunktiv I und II) und analytischem Konjunktiv (würde-Konstruktion) kennzeichnend.3 Folgt man Wurzel (1996: 508), der für das Deutsche feststellt: "Die Modusbildung erfolgt heute in Gestalt des 'würde-Ersatzkonjunktivs' schon weitgehend isolierend", dann ergeben sich für den vorliegenden Vergleich mit dem Russischen die interessantesten Konvergenzen, wenn man die würde-Konstruktion in den Blick nimmt: Das isolierende Verfahren erscheint als gemeinsamer Nenner, auf den der deutsche Konjunktiv zusteuert; das Russische verfügt mit der Konjunktivpartikel laut Ronneberger-Sibold (1980: 74) bereits über die "ideale isolierte Form".

Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht ein Vergleich der morphosyntaktischen Bildung des Konjunktivs im Russischen und im Deutschen (Abschnitt 3). Vorgeschaltet ist ein Abschnitt "Hintergründe", der auch nicht-russischsprachige Leser in Grundzügen mit dem russischen Konjunktiv vertraut machen und in relevante Forschungsdiskussionen einführen soll. Fragen der Konjunktivverwendung in beiden Sprachen stehen nicht im Vordergrund; zur Illustration werden jedoch im Anhang tabellarisch Beispiele angeführt (vgl. auch unten 2.3).


2 Hintergründe

2.1 Literaturüberblick kontrastive und einzelsprachliche Konjunktiv-Studien

An kontrastiven Studien zum deutschen und russischen Konjunktiv ist zunächst Mühlner/Sommerfeldt (1974) zu nennen. Die Autoren geben in einer Tabelle einen instruktiven Überblick über Funktionsbereiche des Konjunktivs in beiden Sprachen. Aus der russischen Perspektive beschäftigt sich dann Krušel'nickaja (1961/2005: 133–149) mit dem deutschen Konjunktiv. Weiterhin enthält für das Sprachenpaar Russisch-Italienisch der Sammelband von Schena et al. (2002) mehrere kontrastive Beiträge (Gebert 2002, Salmon Kowarski 2002, Slavkova 2002).

An größeren Arbeiten zum russischen Konjunktiv sind Garde (1963) und Panzer (1967) zu nennen. Neuere Arbeiten liegen von Hacking (1998) und Hansen (demn.) vor. In der russischsprachigen Literatur findet sich mit Plotkin (1962) und der Replik von Kržižkova (1963) eine Auseinandersetzung über die formale Einheit des russischen Konjunktivs. Dagegen steht für Šeliakin (1999) eine einheitliche semantische Beschreibung des russischen Konjunktivs im Vordergrund.

Die Entstehung des würde-Konjunktivs wurde zuletzt eingehend von Smirnova (2006) dargestellt. Da im vorliegenden Text auf die synchrone Kompositionalität abgehoben wird, bietet sich die Darstellung von Fabricius-Hansen (2000) an, die an Langacker (1991) anknüpft. Auf der Seite des russischen Konjunktivs geht Sørensen (1975) am explizitesten auf die Kompositionalität ein, weshalb er unter 3.3.1 referiert wird.

2.2 Der russische Konjunktiv

2.2.1 Terminologie

Die meisten deutschsprachigen Russisch-Grammatiken oder Handbücher sprechen von "Konjunktiv" (vgl. z. B. Kirschbaum 2001, Mulisch 1996). Panzer (1999: 28) hält diesen Begriff für "unpassend", er nennt die Kategorie "Konditional". Wir bleiben hier bei "Konjunktiv", zumal Panzer (1967: 17) selbst argumentiert, der Terminus sei nicht entscheidend. Andernfalls sollte man übrigens auch den deutschen Konjunktiv nicht so nennen (sondern Irrealis, Quotativ usw.) 4 – die wörtliche Bedeutung von lat. modus coniunctivus 'Modus zur Satzverbindung' ist für das Deutsche im Kernbereich ebenso wenig treffend wie für das Russische.

Die russischsprachige Grammatik spricht im allgemeinen von soslagatel'noe naklonenie, was eine Lehnübersetzung des lateinischen modus coniunctivus ist, laut Slavkova (2002: 282) wird sie zuerst in der kirchenslavischen Grammatik von Meletij Smotryćkyj aus dem Jahr 1619 verwendet. Neben diesem vor einem graeco-lateinischen und kirchenslavischen Hintergrund gebildeten Terminus ist auch uslovnoe naklonenie, also wörtlich 'Bedingungsmodus, Konditionalis' gebräuchlich, ein Terminus, der eher unter dem Einfluss der französischen Grammatikschreibung im 18. Jahrhundert entstanden ist. Während die Moskauer Akademie-Grammatik von 1960 noch beide Termini nebeneinander verwendet und einen zusätzlichen Oberbegriff predpoložitel'noe naklonenie, wörtlich 'Suppositiv, hypothetischer Modus' einführt, ist in der Auflage von 1982 nur noch von soslagatel'noe die Rede (jedenfalls im ersten Band, vgl. Slavkova 2002: 281; Isačenko 1982: 322). Zuletzt sprach sich Šeljakin (1999) dafür aus, konjunktivische und konditionale Verwendungen unter dem Begriff soslagatel'noe naklonenie zusammenzufassen, da ihnen eine gemeinsame Grundbedeutung zugrunde liege. Da in romanischen Sprachen eine morphologische Trennung von Subjunktiv und Konditionalis vorliegt, wird aus dem kontrastiven romanisch-russischen Blickwinkel die terminologische Zusammenfassung der beiden Funktionen in der russischen Grammatik jedoch noch immer kritisiert (vgl. Slavkova 2002, Gebert 2002).

2.2.2 Formenbildung

Der russische Konjunktiv wird analytisch gebildet aus einer Verbform und der Partikel by. Die Verbform wiederum besteht aus dem Infinitivstamm sowie zwei agglutinierenden Suffixen: dem Präteritalsuffix (-l-) und dem Genus-/Numerussuffix (-Ø für mask., -a für fem., -o für neutr., im Plural einheitlich -i). Diese komplexe Verbform wird l-Form oder Präteritumform genannt; es handelt sich ursprünglich um das Partizip der altrussischen analytischen Perfektkonstruktion (vgl. Mulisch 1996: 367). Da das Hilfsverb (byti) ausgefallen ist,5 hat sich im modernen Russisch die (im Vergleich zum Deutschen, doch auch zu den west- und südslavischen Sprachen) ungewohnte Situation ergeben, dass das Hauptverb des Satzes nach Genus und Numerus markiert ist, jedoch nicht nach Person. Die Phrase ona čitala by ist dementsprechend wie in Tab. 1 zusammengesetzt; die deutschen Übersetzungsvarianten zeigen nebenbei, dass im Russischen keine morphologische Differenzierung von Irrealis und Potentialis – wie im Deutschen durch Konjunktiv Präteritum oder Konjunktiv Plusquamperferkt – möglich ist.6

Tabelle 1: Zusammensetzung des russischen Konjunktivs

Das gesamte Konjunktiv-Paradigma lässt sich dann wie in Tab. 2 darstellen.

Tabelle 2: Konjunktiv-Paradigma von čitat' 'lesen'

Die Formen zeigen, dass die l-Form gerade nicht nach Person kategorisiert ist.

2.2.3 Die Stellung der Partikel

In der Literatur zum russischen Konjunktiv wird vielfach die Stellung der Partikel diskutiert (vgl. Hacking 1998: 27f., 50–60). An dieser Stelle genügt eine grobe Orientierung: Die Stellung ist in gewissem Ausmaß variabel, es gibt jedoch je nach syntaktischem Kontext und z. T. auch je nach intendierter Semantik unmarkierte Stellungen. Hacking (1998) entwickelt ein Modell, nach dem im Hauptsatz die Partikel im unmarkierten Fall postverbal steht, im konjunktional eingeleiteten Nebensatz dagegen in Zweitstellung (Wackernagel-Position). Auf diese Weise lässt sich die Distribution der Partikel recht übersichtlich beschreiben, vgl. Tab. 3, wo die unmarkierten Stellungen fett umrandet sind (Verben sind durch "V" gekennzeichnet).

Tabelle 3: Stellungsdistribution der Partikel gemäß Hacking (1998)

Vorausgesetzt ist allerdings, dass die unterordnende Konjunktion čtoby 'dass' als zweielementig aufgefasst wird (čto + by), auch wenn sie zusammengeschrieben wird (vgl. dazu Hacking 1998: 29–32; Garde 1962: 14–17). 8

2.2.4 By bei anderen Kontexten als der l-Form

Die Partikel by kommt nicht nur mit der l-Form, sondern auch in anderen syntaktischen Kontexten vor. Wenig erklärungsbedürftig sind solche Fälle, in denen das Verb entfällt, weil es kurz vorher genannt ist und nicht wiederholt werden soll (vgl. Panzer 1967: 21), oder Fälle, wo es sich um die Kopula handelt, die im Russischen regelmäßig entfällt, vgl. (1):

(1) lučše by 'es wäre besser' (Timberlake 2004: 373)

In der Literatur ist davon die Rede, dass sich by auch mit anderen Wortarten als Verben – genannt werden etwa Adjektive und Substantive – verbinden kann. Ronneberger-Sibold (1980) führt (2) an, Isačenko (1982) den "Nominalsatz" in (3).

(2) poskorej by! 'wenn es nur schneller ginge!' (Ronneberger-Sibold 1980: 75, Kiparsky zitierend)
(3) Selëdočki by! 'so ein Hering wäre jetzt nicht von der Hand zu weisen!' (Isačenko 1982: 605)

Es ist jedoch zu fragen, inwieweit in diesen Wunschsätzen nicht ein vergleichbarer Fall wie in (1) vorliegt, also regelmäßige Ellipse der Kopula. Häufig kommt indessen die Verwendung mit Infinitiv in Wunsch- und Aufforderungssätzen vor, vgl. (4)–(5) (nach Isačenko 1982: 610):

(4) Čechat' by otsjuda! 'wenn man nur von hier weg könnte!'
(5) Tebe by leč'! 'du solltest dich niederlegen!'

Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass das Auftreten in unterschiedlichen syntaktischen Kontexten außer der l-Fom dazu geführt hat, dass der l-Form von manchen Forschern kein markanter Eigenbeitrag innerhalb der Konjunktiv-Konstruktion zugeschrieben wurde (vgl. Xrakovskij 2009: 276). Ronneberger-Sibold (1980: 75) sieht die l-Form als "redundante Kontextbeschränkung" an, und auch Panzer folgert "aus ihrer generellen Austauschbarkeit", dass sich die l-Form gegenüber der Konjunktiv-Funktion neutral verhalte. In Abschnitt 3 wird das Prinzip der Kompositionalität zugrunde gelegt, welches auch der l-Form in der Konjunktiv-Konstruktion eine spezifische Bedeutung zuweist. Jedoch ist diese Annahme mit den genannten Aussagen zur l-Form nicht grundsätzlich unvereinbar, denn auch in meiner Analyse wird die Konjunktiv-Funktion primär von der Partikel getragen.

2.3 Übereinzelsprachliche Vergleichbarkeit

Weydt (2000: 227) weist darauf hin, dass es im deutsch-romanischen Sprachvergleich weit verbreitet ist, einen gemeinsamen Nenner der Konjunktive in diesen Sprachen abzulehnen. In dieser Weise äußert sich auch Isačenko (1982: 322f.) im Bezug auf das Russische im Vergleich zum Deutschen: "Seiner Funktion nach hat der russische Konjunktiv mit dem lateinischen oder dem deutschen Konjunktiv allerdings nur wenig gemein."

Weydt fordert dagegen ein "Sichtbarmachen der Einheit" einer universellen Konjunktiv-Kategorie. Er setzt einen CONIUNCTIVUS als eine solche übereinzelsprachlich verstandene Kategorie an (sowie entsprechend einen INDICATIVUS). Der CONIUNCTIVUS zeichne sich durch "eine irgendwie gebrochene Realitätswiedergabe" aus:

Der Satzinhalt wird eben nicht als faktisch gegeben dargestellt, sondern als vermittelt: z. B. als Wunsch; als etwas, was nur geglaubt wird; als etwas, was die Meinung anderer und ausdrücklich nicht die des Sprechers wiedergibt; als ein Werturteil; als eine Absicht; als etwas noch nicht Realisiertes aber Intendiertes; als etwas zu Beurteilendes (nicht Mitzuteilendes) usw. (Weydt 2000: 236)

Zu den von Weydt untersuchten einzelsprachlichen Kategorien – deutscher Konjunktiv, französischer subjonctif, spanischer subjuntivo, portugiesischer conjuntivo, engl. subjunctive – gesellt sich dann auch der russische soslagagel'noe naklonenie. Kein einzelsprachlicher Konjunktiv ist ganz deckungsgleich mit dem einer anderen Sprache. So hat etwa Wandruszka (2000) gezeigt, wie außerordentlich schwer es ist, die verschiedenen Konjunktiv-Verwendungen in den romanischen Sprachen synchron-systematisch auf einen Nenner zu bringen. Insgesamt jedoch ist die Schnittmenge, die sich bei einem vergleichenden Blick auf verschiedene Konjunktive ergibt, immer noch groß. So sind etwa dass-Sätze nach Verba postulandi ein typischer Konjunktiv-Kontext, wie man am Russischen und Französischen sehen kann, auch wenn hier im Deutschen der Indikativ steht, vgl. (6)–(8).

(6) My trebuem, čtobyKONJPART vy vypolnili plan polnost'ju. (Mulisch 1988: 138)
(7) Nous demandons que vous exécutiezSUBJ le plan.
(8) Wir verlangen, dass ihr den Plan vollständig erfülltIND.

Für das Sprachenpaar Deutsch-Russisch lässt sich die Schnittmenge – sowie die jeweiligen exklusiven Funktionen – in einer Übersicht wie in Abb. 1 darstellen (vgl. für einen Vergleich der Funktionen in beiden Sprachen ausführlich Mühlner/Sommerfeldt 1974). Beispiele für alle angeführten Funktionsbereiche werden im Anhang gegeben.

Abbildung 1

Insbesondere in den Kernbereichen Irrealität/Potentialität und Wunsch, Aufforderung verwenden beide Sprachen den Konjunktiv. Die muttersprachlichen Grammatiken beschreiben diese Kernbereiche zentral. Von Kategorien, die sprachübergreifend "nur wenig gemein" hätten, kann keine Rede sein. Dementsprechend finden sich in Lernergrammatiken des Russischen fast wortgleiche Hinweise wie: "In vielen Fällen stimmt der Gebrauch des Konjunktivs im Russischen und im Deutschen überein" (Gerber/Schmitt/Walter 1996: 40; Hervorheb. im Orig.) oder "In vielen Fällen stimmt der Gebrauch des Konjunktivs mit dem Deutschen überein" (Dahlitz et al. 1982: 94).


3 Morphosyntaktische Verfahren der Konjunktivbildung im Russischen und Deutschen

3.1 Isolierende Bildung

Einleitend wurde bereits gesagt, dass bei Ronneberger-Sibold (1980) das isolierende Verfahren als kennzeichnend für den russischen Partikel-Konjunktiv ebenso wie für den deutschen würde-Konjunktiv (vgl. Wurzel 1996) angesehen wird. Ronneberger-Sibold (1980: 48) legt dabei als Definition für das isolierende Verfahren zugrunde, dass ein Morph genau einem Morphem zugeordnet sein muss und dass gleichzeitig jedes Morph Wortstatus haben muss. Das zweite Kriterium dient zur Abgrenzung vom agglutinierenden Verfahren. Ein Beispiel für ein isolierendes Element ist der englische Artikel the: Dem segmentierten Morph ist genau das Morphem {'definit'} zugeordnet, nicht mehr (wie im Falle des deutschen Artikels der, wo noch Genus-, Numerus- und Kasusinformationen enthalten sind) und nicht weniger.

Abbildung 2

Die Grundannahme des isolierenden Verfahrens für den russischen und den deutschen Konjunktiv stellt sich demnach graphisch so dar:

Abbildung 3

Interessante Hinweise liefert hierzu auch die Beobachtung von Interferenzfehlern: 9 Russischsprachige Deutschlerner verwechseln häufig Infinitiv und Partizip 2 (würde machen/gemacht). Das könnte dafür sprechen, dass tatsächlich der konjunktivische Bedeutungsbestandteil im würd-Morph verortet wird – ob dann das Hauptverb im Infinitiv steht, wie es die Lerner vom Futur kennen, oder als Partizip 2 wie beim Passiv, kann nicht aus der Bedeutung des Konjunktivs erschlossen werden. Umgekehrt fällt es deutschsprachigen Russischlernern relativ leicht, die l-Form, die sie als Präteritum kennen, für den Konjunktiv zu verwenden: Auch im Deutschen sind im Präteritum Indikativ und Konjunktiv formal eng aufeinander bezogen – bei den schwachen Verben fallen sie durchgängig zusammen.

Mit dieser Darstellung gibt es nun sowohl im Falle des Russischen wie auch des Deutschen Probleme. Für das Russische besteht das Problem darin, dass die ausschließliche Zuordnung von Partikel und Konjunktivbedeutung die vorliegende Form offensichtlich nicht zureichend beschreibt. Denn der Konjunktiv wird ebe n aus der Kombination von l-Form und Partikel gebildet. Die Analyse muss also auch die l-Form berücksichtigen. Auch was den deutschen würde-Konjunktiv angeht, ist die einfache Analyse wie in Abb. 3 zu kritisieren, denn sie stellt keinen Bezug zu werden her, welches würde zugrundeliegt. Aktuelle Arbeiten zur würde-Konstruktion wie Smirnova (2006) versuchen aber, vor dem Hintergrund der Grammatikalisierungsforschung die synchrone Gesamtbedeutung mit Bezug auf die Bedeutungsbeiträge der einzelnen Teile zu beschreiben. Das Ziel ist daher eine kompositionelle Bedeutungsbeschreibung wie in Abb. 4 statt einer holistischen Beschreibung wie oben.

Abbildung 4

Das Prinzip der synchronen Kompositionalität wird unter 3.3 näher beschrieben. Als möglicher Kandidat kommt in der Übersicht der morphosyntaktischen Verfahren nach Ronneberger-Sibold (1980) allerdings auch das kombinierende Verfahren infrage, welches daher ebenfalls kurz skizziert werden soll.

3.2 Kombinierende Bildung

Als Beispiel für das kombinierende Verfahren führt Ronneberger-Sibold (1980: 57) das deutsche Passiv an. Es wird im Fall des Vorgangspassivs gebildet aus werd- und Partizip Perfekt. Jedoch lässt sich nicht sagen, dass werd- alleine die Bedeutung 'Passiv' trägt, schon weil es ein Zustandspassiv ohne werd- gibt. Im Partizip kann die Bedeutung 'Passiv' aber genauso wenig verortet werden, denn es steht in anderen Fällen (etwa im Perfekt Aktiv) durchaus nicht für Passiv. Folglich setzt Ronneberger-Sibold hier ein eigenes Verfahren an, die kombinierende Bildung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass zwei Morphe ein Morphem nur gleichzeitig ausdrücken können.

Abbildung 5

Dieses morphologische Verfahren findet etwa in der Phraseologie (ins Gras beißen für 'sterben') seine Entsprechung, wo sich ebenfalls die Gesamtbedeutung nicht aus der Summe der Teile ergibt.

3.3 Synchrone Kompositionalität des analytischen Konjunktivs

Eine kompositionelle Beschreibung setzt eine morphologisch komplexe Form voraus, die mindestens ein grammatisches Morphem enthält. Die Grundidee ist, dass die Komplexität der Form eine Komplexität in der Bedeutung widerspiegelt. Wenn die Form analytisch gebildet ist, bietet es sich an, die durch Wortgrenzen voneinander entfernten Bestandteile als Komponenten der Gesamtbedeutung anzunehmen. Für Sprachen wie das Deutsche, das sich vielfach stammflektierender und stammmodulierender Verfahren bedient, ist freilich davon auszugehen, dass man es nicht immer mit additiven Strukturen zu tun hat.

Kompositionelle Analysen finden sich zum deutschen Verbalbereich, hier insbesondere zu den Tempora (vgl. z. B. Thieroff/Vogel 2009: 26–31). Ältere holistische Auffassungen wurden auch durch eine neue Begrifflichkeit, die die Zusammengesetztheit von Formen benennen soll, ersetzt. So stellte Ballweg (1988) seiner Beschreibung des deutschen Tempussystems die Prämisse voran, "daß sie strikt kompositional ist, d.h., daß alle zusammengesetzten Zeiten durch entsprechende Zusammensetzungen von Tempusoperatoren in der Zeitlogik rekonstruiert werden" (1988: 9; Hervorh. i. Orig.). "Durchsichtige Bezeichnungen" sollten diese Kompositionalität deutlicher werden lassen: das Perfekt hieß nun Präsensperfekt, weil es aus einem Hilfsverb im Präsens und einem Partizip im Perfekt zusammengesetzt ist; entsprechend wurden auch Plusquamperfekt und Futur II umbenannt (in Präteritumperfekt und Futurperfekt). Diese zunächst ungewöhnliche Terminologie wurde teilweise von Thieroff (1992), dann von der IDS-Grammatik aufgenommen (vgl. Zifonun et al. 1997: 1689) und zuletzt haben die "durchsichtigen" Termini auch Eingang in die aktuelle Duden-Grammatik (2009) gefunden (vgl. dazu kritisch Hentschel/Weydt 2003: 111). 10

Für das deutsche Modussystem wurden derartige kompositionelle Analysen seltener vorgeschlagen. Ein Beispiel stellt Bredel/Lohnstein (2001) dar, wo die Autoren einen Versuch vorlegen, die Distribution der Flexive -ə und -t in präsentischen und präteritalen Verbformen, jeweils im Indikativ und Konjunktiv zu erfassen.

Da im vorliegenden Rahmen – anders als in Bredel/Lohnstein (2001) – nicht die synthetische Bildung im Vordergrund steht, sondern die würde-Konstruktion, wird die Analyse von Fabricius-Hansen (2000) zugrunde gelegt, die zeigen möchte, "dass der Bedeutungsbeitrag der würd(e)-Konstruktion sich in seinem Kern kompositionell erklären lässt aus dem Beitrag der Konstruktion werd(en) + Infinitiv und dem des präteritalen Konjunktivs" (Fabricius-Hansen 2000: 83).

Mit Socka (2006) liegt bereits ein Vergleich der Ansätze von Fabricius-Hansen (2000) und Bredel/Lohnstein (2001) vor. Explizit kompositionell motiviert ist auch die schon erwähnte Arbeit von Smirnova (2006). Zum Russischen Konjunktiv sind für den vorliegenden Vergleich interessante Vorschläge in Sørensen (1975) enthalten, mit deren Vorstellung und Diskussion ich beginnen möchte.

3.3.1 Russisch

Die formale Zerlegung in Verbform und Partikel ist für das Russische zwar trivial, führt aber wie bereits angedeutet nicht zu einer befriedigenden semantischen Analyse. Denn die Verbform steht im Vergangenheitstempus, die komplette Konjunktivform drückt dagegen nicht Vergangenheit aus, sie ist vielmehr temporal gar nicht spezifiziert. 11 Es erscheint daher überlegenswert, von einer einfachen Formulierung, wie man sie häufig findet, etwa Dahlitz et al. (1982: 94), "der Konjunktiv wird durch die Partikel бы (seltener б) in Verbindung mit dem Präteritum beider Aspekte gebildet" abzurücken. So schreibt Panzer (1967: 19): "Das erste Element (l-Form, l-Partizip) tritt in der zitierten Form auch für sich allein ohne das zweite (by) auf und heißt dann 'Praeteritum'."

Damit ist die Identität aufgehoben, es soll zwei homonyme l-Formen innerhalb und außerhalb von Konjunktiv-Konstruktionen geben. In aller Deutlichkeit wird eine solche Homonymie-Konzeption der l-Form von Isačenko (1982: 321f.) vertreten:

Die Partikel бы geht mit der л-Form eine innige Verbindung ein, so daß diese л-Form nicht mehr als Präteritalform aufgefaßt werden kann. [...] Diese л-Form ist mit der Form des Präteritums zwar homonym, aber nicht identisch, weshalb wir sie auch terminologisch unterscheiden.

Der Analyse als Homonyme haftet ein wenig der Beigeschmack einer Verlegenheitslösung an; eine unifizierende Beschreibung wäre – wenn sie möglich ist – vorzuziehen. Sørensen (1975: 155) argumentiert ausführlich gegen die Homonymie-Konzeption:

Weiters muss betont werden, dass es für das Sprachsystem äusserst ungewöhnlich ist, dass ein sprachliches Zeichenelement wie das Präteritumselement seinen Bedeutungsinhalt verlieren können soll. Jedes sprachliche Zeichen und jedes Zeichenelement hat eine Ausdrucksseite und eine Inhaltsseite. Diese beiden Seiten sind unlösbar miteinander verbunden. Das gilt natürlich auch für das Präteritumselement.

Sørensen (ebd.) ist der Meinung, man könne doch nicht erwarten, "dass diese Inhaltsseite in einer ganz bestimmten syntaktischen Verbindung verschwunden sein soll. Das wäre doch in der sprachlichen Wirklichkeit ein einzigartiger Fall."

Wie kommt man also aus dem Dilemma heraus, einerseits darauf zu bestehen, dass es sich bei der l-Form als Präteritum und der in der Konjunktiv-Konstruktion um ein und dieselbe Form handelt, dass sie aber im einen Fall eine Vergangenheitsbedeutung hat, im anderen nicht?

Sørensen gibt eine radikale Antwort: die sog. Präteritumform habe eben eigentlich keine Präteritumsbedeutung. Was auch immer ihre Bedeutung sei, sie müsse so reformuliert werden, dass sie auch das Vorkommen in der Konjunktiv-Konstruktion abdeckt. Er widerspricht daher der Auffassung, das Präteritum diene primär dem Ausdruck von Zeit, er führt dafür den Begriff "Perspektive" ein:

Der Begriff Perspektive ist in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass er eine Opposition zwischen dem Fernen und dem Nahen umfasst, so dass das Fernperspektivische und das Nahperspektivische die Pole dieser semantischen Zone ausmachen. [...] Ferne und Nähe kann inbezug auf Zeit festgelegt sein, es kann sich aber auch um Ferne und Nähe in anderem Sinne, bzw. um Ferne und Nähe ganz allgemein handeln. (Sørensen 1975: 156)

Vorzeitigkeit ist nach dieser Auffassung eine – und zwar zentrale – Art von Fernperspektive, jedoch könne die Ferne auch in der Zukunft liegen oder ganz außerhalb einer zeitlichen Dimension zum Ausdruck kommen. Um diese Neufassung des semantischen Gehalts der l-Form auch terminologisch zu fixieren, schlägt Sørensen die Bezeichnungen "Remotospektiv" (statt Präteritum) und "Irremotospektiv" (statt Präsens) vor (vgl. ebd.: 156). Beide stünden nicht im Verhältnis einer "exklusiven", sondern einer "partizipativen" Opposition, womit gemeint ist, dass eine Kategorie in gewissen Fällen an die Stelle der anderen treten kann, umgekehrt jedoch nicht. Letzterem ist sicher zuzustimmen, üblicherweise fasst man diese Beziehung mit dem Begriff der Markiertheit oder Default: Das Präsens ist die unmarkierte bzw. Default-Kategorie, das Präteritum die markierte, und die unmarkierte kann manchmal die markierte Kategorie ersetzen, jedoch kaum oder gar nicht umgekehrt.

Was die russische Konjunktiv-Konstruktion angeht, so ergibt sich für Sørensen nach Umformulierung der Funktion der l-Form die kompositionelle Beschreibung ganz zwanglos: es

[...] ergibt sich eine äusserst einfache Beschreibung der Erscheinung, die man den russischen Konjunktiv nennen kann. Die Präteritumsform, die remotospektive Form[,] erscheint dabei nicht als integrierender Teil des Konjunktivs. Das remotospektive semantische Element ist in sich selbst nicht konjunktivisch. [...] Wenn die remotospektive Form aber nicht an der Konjunktivbedeutung teilhat, dann ist diese nur an die Partikel бы gebunden. [...] Das, was man als Konjunktiv im Russischen bezeichnen kann, ist also nichts anderes als der semantische Inhalt in der Partikel бы. [...] Diese Partikel weist den gleichen Grad an Selbständigkeit auf, wie die Fragepartikel ли oder die Negationspartikel не. Die Konjunktivpartikel verleiht der Einheit (dem Satz), in der sie auftritt, einen besonderen modalen Charakter. Als satzcharakterisierendes Element ist sie den verbalen Morphemelementen verwandt. (Sørensen 1975: 159; fehlendes Komma: sic)

Dieser Analyse ist vor dem Hintergrund der vorliegenden Fragestellung zugutezuhalten, dass die Frage nach dem Status der l-Form so explizit erörtert wird. Das sollte darauf aufmerksam machen, dass die einfache Beschreibung, der russische Konjunktiv werde gebildet aus der Präteritumform plus der Partikel, unter dem kompositionellen Gesichtspunkt unbefriedigend ist.

Problematisch erscheinen jedoch die abschließenden Äußerungen zur Selbständigkeit der Partikel. Der isolierende Gestus, der durch die kompositionelle Analyse nahegelegt wird, kann auch zu weit getrieben werden, dann wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Partikel by soll auf einmal gar nicht mehr eine spezielle Bindung an das Vollverb aufweisen, lediglich den verbalen Morphemen verwandt, aber im übrigen eher auf eine Stufe zu stellen sein mit freien Partikeln wie der Fragepartikel li und der Negationspartikel ne – dass Partikel und Verb gemeinsam erst eine analytische Verbform bilden (vgl. Mehlig 1999: 198), wäre aus dieser Sicht abwegig.

Was lässt sich aber aus dem Vorschlag der l-Form als Fern- oder Distanzform machen? Schematisch sieht der Vorschlag etwa wie in Abb. 6 aus:

Abbildung 6

Die l-Form hat demnach nicht Vergangenheitsbedeutung schlechthin, sondern drückt allgemeiner eine Distanzierung aus. Die temporale Distanzierung ist eine Form unter anderen; mit dem Konjunktiv distanziert sich der Sprecher von der aktualen Faktenwelt, ebenso wie in Aufforderungen mithilfe der l-Form.

Gerade der letztere Fall – die eher marginale Funktion der l-Form für Aufforderungen – führt zu der Frage, ob die weitgehende Abkehr von der üblichen Terminologie der l-Form als Vergangenheitsform angebracht ist. Mit Blick auf Schrodts Forschungen zum deutschen Konjunktiv scheint sich eine Alternative anzubieten. Schrodt (2004, 2007, ähnlich auch in Schrodt/Donhauser 2003: 2512) spricht für den Konjunktiv II von einer "Tempusmetapher":

Nun wird auch klar, warum der Konjunktiv II vom Präteritum aus gebildet ist: Er bezeichnet eine Negation des Sachverhalts, und auch das Präteritum drückt ja eine Negation aus, die nämlich, dass der bezeichnete Sachverhalt in der Gegenwart nicht besteht. Die Irrealität ist so gesehen eine Art Tempusmetapher. (Schrodt 2004: 12; Hervorh. i. Orig.)

Wenn man diesen Gedankengang verallgemeinert, lässt er sich auch auf den Status der russischen l-Form übertragen: Die Präteritumform drückt aus, dass E (Ereigniszeit) nicht zu S (Sprechzeit) gilt – also eine Negation. In einer Metaphorisierung wird die Negation auf das Zutreffen eines Sachverhalts übertragen. Die Form drückt dann 'nicht-p' (Nicht-Zutreffen) aus.

Abbildung 7

Es bleibt dann dabei, dass die russische l-Form eine Präteritumform ist. Im Konjunktiv aber erscheint sie als Non-Realis ('Nicht-R'). Der Partikel kommt der Bedeutungsbeitrag 'Irrealität/Potentialität' zu. An diese Darstellung lässt sich der Vergleich mit dem deutschen würde-Konjunktiv nach Fabricius-Hansen (2000) gut anschließen.

3.3.2 Deutsch

Die beiden Bestandteile, mit denen Fabricius-Hansen (2000) die Bedeutung der würde-Konstruktion kompositionell erklärt, sind werden + Infinitiv und die Konjunktiv-II-Flexion. Folglich sind die Bedeutungen dieser Bestandteile näher zu bestimmen. Werden + Infinitiv verfügt bekanntlich über eine temporale Lesart (sie wird morgen abreisen) und eine modale Lesart (er wird das Buch schon haben). Es geht hier nicht um eine wie auch immer zu begründende Dominantsetzung einer Lesart bzw. umgekehrt der Ableitung einer aus der anderen Lesart. Vielmehr soll eine übergreifende Bedeutungsbeschreibung von werden + Infinitiv für beide Lesarten verwendet werden. Eine solche Bedeutungsbeschreibung ist möglich, indem auf die Erweiterung der Realität R von der deiktischen Origo aus abgehoben wird. Im Fall der temporalen Lesart drückt werden + Infinitiv eine zeitliche, im modalen Fall eine epistemische Erweiterung der Realität aus. Da es eine Erweiterung von R ausdrückt, kann werden + Infinitiv nicht gleichzeitig ausschließlich R ausdrücken. Der Bedeutungsbeitrag von werden + Infinitiv kann also auch beschrieben werden als 'Nicht-R'.12

Abbildung 8 (nach Fabricius-Hansen 2000: 88)

Nach der Bedeutung von werden + Infinitiv ist dann weiterhin die Bedeutung des Konjunktiv-II-Morphems zu erfassen. Diese wird für den Default-Fall im Allgemeinen mit 'Irrealität/Potentialität'13 erfasst. Fabricius-Hansen (2000: 90) führt nun die beiden Bedeutungsbeiträge zusammen in einem Diagramm, das an Langackers (1991: 242) "epistemisches Modell" angelehnt ist.

Abbildung 9 (nach Fabricius-Hansen 2000: 90)

In diesem Diagramm ist in der unteren Hälfte der Ellipse der Bedeutungsbeitrag von werden + Infinitiv, nach oben der des Konjunktiv II eingetragen. Der Mittelpunkt ist die deiktische Origo, der hier mit J (= Jetzt) bezeichnet ist. Die Realität R des Sprechers zieht sich auf dem Zeitstrahl von links bis hin zu J. Zusätzlich wird eine Erweiterung von J angesetzt, die mit Z (= Zukunftsprojektion) bezeichnet ist. Damit ist der weitere Verlauf von R gemeint, wie er ohne gravierende Veränderungen der Bedingungen angenommen werden kann. Die Quadranten des Kreises können nun einzelnen Lesarten zugeordnet werden: Im rechten unteren Quadranten steht die temporale Lesart von werden + Infinitiv (sie wird morgen abreisen). Der ausgedrückte Sachverhalt ist hier verträglich mit R, aber unverifizierbar zum Zeitpunkt J. Im linken unteren Viertel schließt sich die modale Lesart an (er wird das Buch schon haben). Der Sachverhalt ist hier verträglich mit R, aber unverifiziert zu J. Die Aufschlüsselung des Konjunktiv-II-Beitrags in der oberen Hälfte Diagramm geht weniger sauber auf. Unproblematisch ist zunächst der linke obere Quadrant: Was vor J liegt und unverträglich ist mit R, ist kontrafaktisch (ich hätte es genommen). Bleibt der rechte obere Quadrant übrig, wo Sachverhalte eingetragen sind, die unverträglich sind mit Z. Hier ist noch einmal zu unterscheiden: Was unverträglich ist mit Z, aber verträglich mit R, drückt Potentialität aus (ich würde es nehmen). Daneben gibt es aber auch die Konjunktiv-II-Verwendung, die einen Irrealis, aber ohne Vergangenheitsbezug ausdrückt (wenn heute Sonntag wäre; vgl. dazu weiter Helbig 2007: 146). Auch dieser Fall erscheint als Kontrafaktizität im rechten oberen Viertel.

Der letzte Schritt, der in der Argumentation nun noch fehlt, ist der Bezug der würde-Konstruktion zu dieser allgemeinen Bedeutungsbeschreibung des Konjunktiv II (welche auch den synthetischen Konjunktiv einschließt). Fabricius-Hansen (2000: 91) weist auf die Ersatzfunktion der würde-Konstruktion hin: In vielen Fällen sind irrealer synthetischer Konjunktiv und würde-Konjunktiv (trotz Präferenzunterschieden) gegeneinander austauschbar. Der würde-Konjunktiv operiert im Ergebnis also genauso wie der synthetische Konjunktiv II – nur dass der würde-Konjunktiv gemäß seinen morphologischen Bestandteilen die Verschiebung von der Origo und die weitere Verschiebung ins Irreale in zwei Schritten vollführt, während der synthetische Konjunktiv Irrealis/Potentialis dasselbe in einem Schritt bewirkt.

Die vorliegende Argumentation beschränkt sich auf das Referat der Bedeutungsbeschreibung des würde-Konjunktivs in seiner Funktion als Irrealis/Potentialis. Daran ließe sich nun eine Analyse der Verwendung der würde-Form in der indirekten Rede anschließen. Es sei nur darauf hingewiesen, dass Fabricius-Hansen (2000) die kompositionelle Analyse auch für diesen Bereich durchführt und zu einem analogen Ergebnis kommt wie beim irrealen Konjunktiv: Auch beim würde-Konjunktiv der indirekten Rede geht es um eine Verschiebung, jedoch nicht um eine temporale oder modale Verschiebung, sondern um eine Verschiebung der Personenperspektive (z. B. liegt in sie sagte, er würde noch kommen der Sachverhalt aus der Perspektive des Sprechers in der Vergangenheit, aus der Sicht von er aber in der Zukunft). Da die indirekte Rede im Russischen nicht durch den Konjunktiv markiert wird, ergeben sich hier keine Vergleichspunkte. Daher wird diese Argumentation, die Socka (2006) aufgreift, nicht weiter ausgeführt.

3.4 Ergebnis kompositionelle Analysen

Der Vergleich des russischen mit dem deutschen Konjunktiv hat gezeigt, dass in beiden Fällen eine kompositionelle Analyse möglich ist. In beiden Sprachen ließen sich dabei als Komponenten ausmachen: die Verbbedeutung plus die Bedeutungsbestandteile 'Nicht-R' und 'Irr/Pot'.

Unterschiedlich ist, welche Form die Sprachen für die 'Nicht-R'-Komponente verwenden: Im Russischen wird die Vergangenheitsform, bei der deutschen würde-Konstruktion als morphologische Basis die Futurkonstruktion herangezogen.

Unterschiedlich ist auch, wie die beiden Sprachen die Formen konfigurieren. Bezeichnet man Wortgrenzen mit ω, so ergibt sich:

Russisch: ['Verbbedeutung' + 'Nicht-R']ω ['Irr/Pot']ω

Deutsch: ['Verbbedeutung']ω ['Nicht-R' + 'Irr/Pot']ω


4 Material

Die dargestellte Kompositionalität soll abschließend an sprachlichem Material verdeutlicht werden. Kann empirisch gezeigt werden, dass bei Eliminierung einer Komponente einer komplexen Form auch eine entsprechende Veränderung der Bedeutung folgt, würde das die Plausibilität der Analyse erhöhen. Im Russischen führt eine Eliminierung des l-Morphs etwa zur gebräuchlichen Form eines Wunsch- oder Aufforderungssatzes durch Infinitiv verbunden mit by, vgl. (9):

(9) Poechat' by v derenju 'Könnte man doch aufs Land fahren!' (Mulisch 1988: 138)

Der Bedeutungsbestandteil 'Nicht-R' kann also entfernt werden, die Irrealität des Wunsches wird dann allein durch die Partikel getragen. Wird dagegen die Partikel weggenommen, changiert die Bedeutung der Verbform ins Temporale, vgl. (10) vs. (11) – in (11) muss dementsprechend die konditionale Konjunktion esli 'wenn/falls' durch die temporale Konjunktion kogda 'wenn/als' ersetzt werden:

(10) Esli by ona prišla, ja by ej dala knigu. 'Wenn sie käme, würde ich ihr das Buch geben.' (Hacking 1998: 16)
(11) Kogda ona prišla, ja by ej dala knigu. 'Als sie kam, gab ich ihr das Buch.'

Im Deutschen führt eine Eliminierung des Konjunktivmorphems aus würde + Infinitiv ebenfalls zu einer temporalen (oder abgeleitet: epistemischen) Interpretation, vgl. (12) vs. (13):

(13) Das würden sie machen.
Das werden sie machen.

Behält man dagegen die Konjunktivflexion bei, entfernt aber das Hilfsverb werden, ergibt sich eine synthetische Form. In weiten Teilen und in zunehmendem Maß führt der Austausch analytischer und synthetischer Formen zu keinem merklichen Sinnunterschied. Allerdings lassen sich durchaus entsprechende Beispiele bilden, an denen man noch einen "Rest von Kontrast zwischen den einfachen und den würde-Formen" erkennen kann (Lotze/Gallmann 2009: 236), vgl. (14) vs. (15):

(14) Es schien, als ob sie sich nie verstehen würden. (Schröder 1959: 72)
(15) Es schien, als ob sie sich nie verständen.

Während (14) Zukunft aus einer Vergangenheitsperspektive ausdrückt, geht diese futurische Bedeutung Satz (15), welcher das Futur-Hilfsverb werden nicht aufweist, ab. Eine solche Kontrastwirkung zwischen synthetischen und analytischen Formen geht allerdings zunehmend verloren. Die futurische Bedeutungskomponente der würde-Konstruktion tritt in den Hintergrund.

Dazu passt eine Beobachtung von Ronneberger-Sibold (1980: 62), die den Vergleich mit dem Passiv einbezieht: In würde lieben ist würde Teil einer isolierenden, in würde geliebt Teil einer kombinierenden Bildung (siehe 3.1, 3.2). Diese Uneinheitlichkeit werde immer mehr abgebaut, indem auch im Passiv würde selbst umschrieben wird, vgl. (16) vs. (17):

(16) er würde geliebt
(17) er würde geliebt werden

In diesem Fall ist es nicht die futurische Komponente, die würde verlorengeht, sondern ihr Anteil an der Passivbedeutung. Doch auch hier zeigt sich, wie sich würde von anderen Funktionen löst und sich als isolierendes Konjunktiv-Hilfsverb spezialisiert.


5 Fazit

Bei einer kompositionellen Analyse mit den Bedeutungsbestandteilen 'Nicht-R' und 'Irr/Pot' wäre das Verfahren grundsätzlich nicht als isolierend, sondern als kombinierend zu werten, da die Konjunktivbedeutung im Zusammenspiel zweier Morphe zustandekommt.

Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die so formulierten Bedeutungsbestandteile zusammengeführt werden können: 'Irr/Pot' erscheint als Verschärfung des 'Nicht-R'. Der 'Irr/Pot'-Bestandteil ist damit eigentlicher Träger der Konjunktiv-Bedeutung, der 'Nicht-R'-Bestandteil ist in diesem Sinne redundant. Das deckt sich mit der in 2.2.3 angeführten Beobachtung, dass by auch in anderen Kontexten als der l-Form auftreten kann (v. a. mit Infinitiven).

Beide Konjunktive sind somit letztlich isolierend gebildet; der russische jedoch formal kombinierend. Im Deutschen dagegen verschmelzen 'Nicht-R' und 'Irr/Pot' nicht-segmental in einer Form. Würd- ist damit stärker isolierend als by.


Anmerkungen

1 Vereinzelt erhaltene Wendungen wie da sdravstvuet 'es lebe' oder da krepnet naša družba 'möge sich unsere Freundschaft festigen' sind laut Isačenko (1982: 606) vergleichbar mit dt. prosit oder vivat; da könne "beim besten Willen nicht als 'formbildendes Element' angesehen werden". zurück

2 Genauer handelte es sich im älteren Altkirchenslavischen noch um den flektierten ursprünglichen Optativstamm bi-. Erst im jüngeren Altkirchenslavischen wie auch im Russischen und in den anderen Slavinen ersetzt dann by- des Aoriststamms den älteren Stamm. Die heutige Partikel by ist die 2./3. Person Singular des Aorist-Paradigmas und trat in einer Übergangsphase im 12./13. Jahrhundert zunächst "als müßige[r] Zusatz zu den alten Formen" (Kiparsky 1967: 237); schließlich fielen die nach Person flektierten Formen ganz weg (weiter zur Sprachgeschichte vgl. etwa Panzer 1967: 42–44; Kiparsky 1967: 236f.). zurück

3 Die Redeweise von der würde-Konstruktion (z. B. würde geben) als dem analytischen Konjunktiv gegenüber Formen wie (sie) gebe oder gäbe als synthetischem Konjunktiv wird immer beliebter (vgl. z. B. Smirnova 2006: 177), wenngleich sie in mehrfacher Hinsicht nicht ganz exakt ist: Zum einen können auch Konjunktiv I und II analytische Formen bilden (habe/hätte gegeben). Zum anderen gehört die würde-Konstruktion nach der gängigen Definition zum Konjunktiv II, da sie ein Finitum im Konjunktiv Präteritum enthält (so etwa bei Helbig 2007: 140). Vielleicht wird man würde geben einmal den "neuen Konjunktiv" nennen im Unterschied zum alten Konjunktiv gäbe (ähnlich schon Smirnova 2006: 181 oder Lotze/Gallmann 2009: 223). Der Vorschlag von Becher/Bergenholtz (1985), würde + Infinitiv als Konjunktiv III zu bezeichnen, hat sich jedenfalls bis jetzt nicht durchgesetzt. Ich bleibe bei der Redeweise vom analytischen Konjunktiv – noch genauer wäre: würde + Infinitiv ist immer analytisch. Zur Abgrenzung von "analytisch" und "isolierend" vgl. Weiss (2004: 265f.) zurück

4 Für Vorschläge in diese Richtung vgl. Askedal (2007: 227f.). zurück

5 Nach Weiss (2004: 272) ist der heutige Zustand grosso modo im 17. Jahrhundert erreicht. zurück

6 So entspricht etwa dt. Wenn sie käme, würde ich ihr das Buch geben (Potentialis) und Wenn sie gekommen wäre, hätte ich ihr das Buch gegeben (Irrealis) auf russischer Seite nur einem Satz: Esli by ona prišla, ja by ej dala knigu (vgl. Hacking 1998: 16). Jedoch ist eine lexikalische Disambiguierung möglich, im Beispiel etwa durch zavtra 'morgen' oder včera 'gestern'. Hacking (1998: 85f.) geht aber davon aus, dass die irreale/kontrafaktische Lesart im Russischen die Default-Lesart ist. zurück

7 Da die indirekte Rede im Russischen nicht im Konjunktiv steht, wurde keine Übersetzung mit einem dt. Konjunktiv I gegeben (wenngleich dieser noch andere Funktionen als die indirekte Rede besitzt). zurück

8 Mehlig (1999: 199) weist darauf hin, dass sich zunehmend Beispiele finden lassen, wo zusätzlich zu čtoby noch ein by gesetzt wird. Das spräche dafür, dass čtoby mehr und holistisch aufgefasst wird. zurück

9 Für diesen Hinweis danke ich dem anonymen Gutachter/der anonymen Gutachterin von Linguistik Online. zurück

10 Auch die Gegenposition wurde vertreten, vgl. etwa Guchmann (1961), der für die Unzerlegbarkeit analytischer Konstruktionen plädiert. zurück

11 Vgl. Fici (2009: 203, Hervorhebung MS): "Conditional forms consist of the particle by (or b, or bi), derived from the aorist of the verb 'to be' and a participial -l form, improperly called 'past tense'." zurück

12 Auch Czarnecki (1973: 189) sieht im deutschen Konjunktiv ein "Mittel der Nicht-Realität". zurück

13 Eine genauere Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang nicht von Interesse. Mit der allgemeinen Formulierung 'Irrealität/Potentialität' wird im Augenblick von einer Bindung an syntaktische Kontexte (z. B. Konditionalstrukturen) abgesehen. Sie erlaubt auch die Subsumierung abgeleiteter Verwendungen, etwa des "höflichen Konjunktivs", der sich die Potentialität zunutze macht. zurück


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Anhang: Beispiele für Konjunktiv-Verwendungen im Deutschen und im Russischen

✓: wir mit Konjunktiv gebildet, ✗: wird nicht mit Konjunktiv gebildet. s
Irrealität/Potentialität
Differenzierung von Potentialis und Irrealis möglich durch Konj. Prät. vs. Konj. Plusquamperf.: keine Differenzierung anhand der Verbformen möglich, beides:
(1) Wenn sie käme, würde ich ihr das Buch geben. → Potentialis Если бы она пришла, я бы ей дала книгу. (Hacking 1998: 16)
(2) Wenn sie gekommen wäre, hätte ich ihr das Buch gegeben. → Irrealis
Höflichkeit
(3) Könnten Sie mir helfen? Вы могли бы мне помочь? (Kirschbaum 2001: 96)
(4) Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich anrufen würden. Я была бы рада, если бы вы мне позвонили. (Kirschabum 2001: 96)
Irreale Vergleichssätze
(5) Mir war so, als ob ich ihn neulich gesehen hätte. (oder IND) Мне казалось, как будто (бы) я видел его на днях. (Mühlner/Sommerfeldt 1974: 367)
Wunsch, Aufforderung etc.
Irrealer Wunsch
(6) Wenn er sich nur nicht erkältete! Только бы он не простудился!
Volitiv
(7) Es lebe die Freiheit! Да здравствуетIND свобода! (Lötzsch et al. 1984)
(8) Man nehme ... возьмитеIMP ...
(9) es sei erwähnt ... следуетIND упомянутьINF
"Scharnier-Konjunktiv" (Terminus nach Bredel/Töpler 2008: 843)
(10) das wär's für heute это всё на сегодня (ohne Kopula, Lötzsch et al. 1984)
(11) Das wäre geschafft! Это закончено! / С этим покончено! (Lötzsch et al. 1984)
Indirekte Rede (Referat)
(12) Er sagt, er habe dieses Buch gelesen. Он говорит, что (он) читал эту книгу. (Крушельницкая 2005: 145)
Finalsätze
(13) Er ging leise hinein, damit der die Schlafenden nicht wecke. jedoch eher: um die Schlafenden nicht zu wecken. Он вошёл тихо, чтобы не разбудить спящих. (Kirschbaum 2001: 97)
aber meist Konj. nicht möglich:
(14) Der Referent sprach laut, damit ihn alle hören *könnten/konnten. Докладчик говорил громко, чтобы все его слышли. (Kirschbaum 2001: 97)
dass-/чтобы-Sätze
• nach verba postulandi ('fordern, bitten, wünschen') und verba curandi ('sorgen, dazu bringen' etc.)
(15) Wir verlangen, dass ihr den Plan vollständig erfülltIND. Мы требуем, чтобы вы выполнили план полностью (Mulisch 1988: 138)
vgl. z. B. franz. (pers. Komm. Marie-José Kolly):
Nous demandons que vous exécutiezSUBJ appliqués.
(16) Es ist notwendig, dass die Verträge in Kraft tretenIND. Необходимо, чтобы договоры вступили в силу
vgl. franz. (pers. Komm. Marie-José Kolly):
Il est nécessaire que les conraits soientSUBJ appliqués.
• nach verba timendi (Zweifel, Befürchtung, verneinte Vermutung)
(17) Ich befürchte, dass er kommt. Боюсь, чтобы он не пришёл. oder IND: ..., что он придёт (Kirschbaum 2001: 97)