Editorial

Neue Perspektiven auf das Verhältnis zwischen linguistischer und didaktischer Grammatik

Gisella Ferraresi/Marijana Kresić (Frankfurt am Main/Zadar)


 

Eine aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse heraus formulierte, linguistische Grammatik muss für die Zwecke des Fremdsprachenlernens transformiert werden in eine didaktische Grammatik,1 die eine dem Lernprozess entsprechende Progression aufweist und den Lernenden direkt vorgelegt werden kann (vgl. Helbig 2001: 179). Das Rahmenthema des vorliegenden Heftes ist die Neubestimmung des Verhältnisses von linguistisch-theoretischer und didaktisch-anwendungsbezogen konzipierter Grammatik auf der Folie ausgewählter jüngerer Entwicklungen in der Fremdsprachendidaktik, in der Mehrsprachigkeitsforschung und der Germanistischen Linguistik, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen als Fremdsprache.

Den Hintergrund dieses Themas bilden seit einigen Jahrzehnten andauernde Diskussionen um die Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht, wobei inzwischen weitgehende Einigkeit darüber herrscht, dass Grammatik zwar kein Lernziel, aber ein wichtiges Mittel zum Zweck im Rahmen des kommunikativ und interkulturell ausgerichteten Sprachunterrichts darstellt. Nicht die Frage, ob überhaupt Grammatik, sondern die Fragen nach dem wie, dem wieviel, dem was und in welcher Reihenfolge stehen nunmehr im Fokus des Interesses (vgl. auch Götze 2001b: 1070). Grammatikarbeit im Fremdsprachenunterricht stützt sich zu einem wesentlichen Teil auf Lerngrammatiken, die von Lehrenden und Lernenden eingesetzt werden, um grammatische Erscheinungen der Zielsprache zu erklären und einzuüben. Wichtige Kriterien für effiziente Lerngrammatiken sind u. a.

1. die Fokussierung auf "die hochfrequenten, für die Kommunikation wichtigen und für den Lernenden schwierigen Strukturen [Herv. i. Orig.]" (Götze 2001a: 189),
2. eine ggf. zweisprachige Konzeption, die "den Sprachkontrast zwischen Ausgangs- und Zielsprache und sich daraus ergebende Interferenzen und Lernschwierigkeiten berücksichtig[t]" (ebd.),
3. die Anpassung der grammatischen Terminologie an den Kenntnisstand der Benutzer/innen inklusive entsprechender notwendiger Vereinfachungen (vgl. ebd.),
4. die Berücksichtigung der Lernerperspektive und jüngerer Erkenntnisse aus Psycholinguistik und Spracherwerbsforschung beim Formulieren grammatischer Regeln.

Seit der Bennenung dieser und weiterer Kriterien durch Götze (2001a) sind einige Jahre vergangen. Es stellen sich sowohl den Lehrenden als auch den Forschenden im Hinblick auf das Verhältnis von linguistischer und didaktischer Grammatik u. a. folgende weitere Fragen: Welche Grundlagen liefern jüngere Erkenntnisse aus der linguistischen Grammatiktheorie für die Konzeption von Lerngrammatiken? Welche Erkenntnisse aus der Sprachlern- und Mehrsprachigkeitsforschung sollten bei der Erstellung von lehrwerkbegleitenden und ‑unabhängigen Materialien berücksichtigt werden? Welche neuen Impulse kommen von der Fremdsprachendidaktik und ‑methodik? Gleichzeitig wird deutlich, dass das hier abgesteckte Thema interdisziplinärer Natur ist und Expert/innen aus verschiedenen Disziplinen auf den Plan ruft.

Das vorliegende Themenheft der Zeitschrift Linguistik online versammelt Beiträge, die entlang der oben formulierten Leitfragen und Kriterien "Neue Perspektiven auf das Verhältnis zwischen linguistischer und didaktischer Grammatik" skizzieren. Dabei kommen Stimmen von mit dem Thema befassten Autor/innen insbesondere aus dem Ausland, und auch aus dem Inland zusammen, aus dem Bereich der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache und aus der Germanistischen Linguistik.

Mathilde Hennig und Isabel Buchwald nähern sich in ihrem Beitrag "Ausdrucksarten – ein neuer Zugang zur Wortschatzvermittlung im DaF-Unterricht?" dem Rahmenthema aus der Sicht der Germanistischen Linguistik, indem sie eine neuere Ergänzung bzw. Alternative zur linguistisch brisanten Einteilung von Wörtern in Wortarten vorschlagen und so einen hilfreichen Impuls für die Fremdsprachendidaktik liefern. Sprachliche Einheiten wie 'gerade als' und 'recht und billig' können, so die Autorinnen, grammatisch angemessen analysiert werden, wenn ergänzend zu den traditionellen Wortarten so genannte Ausdrucksarten angenommen werden. Eine Klassifizierung sprachlicher Zeichen in Ausdrucksarten wird dann relevant, wenn es sich um eine kompositionell nicht vorhersagbare Zeichenverbindung handelt. Dieser Ansatz basiert auf dem Ausdrucksbegriff von Helmuth Feilke (1996). Der Ausdrucksartenansatz wird schließlich auf das in Spracherwerbsforschung und Didaktik diskutierte Konzept des chunk-learnings angewendet und als neue Herangehensweise an die Wortschatzvermittlung vorgeschlagen.

Sabrina Ballestracci geht in ihrem Beitrag "Der Erwerb von Verbzweitsätzen mit Subjekt im Mittelfeld bei italophonen DaF-Studierenden. Erwerbsphasen, Lernschwierigkeiten und didaktische Implikationen" auf die besonderen Schwierigkeiten ein, die der Erwerb von XVS-Strukturen italophonen Lernern bietet, die im Italienischen nicht üblich sind. Dabei werden unterschiedliche Faktoren berücksichtigt: vor allem wird in diesem Beitrag auf den Einfluss der Ausgangssprache auf die Zielsprache aufmerksam gemacht und auf die Wichtigkeit, speziell für Italophone verfasste Grammatiken zu verwenden, die auf die Besonderheiten der deutschen Sprache im Vergleich zum Italienischen hinweisen. Verschiedene wissenschaftliche Studien belegen die Abfolge beim Erwerb des zielsprachlichen Satzbaus sowohl von Haupt- als auch von Nebensätzen bei italienischen L2-Lernern.

Barbara Ivancics Beitrag "Grammatische Terminologie im Kontrast. Einige Überlegungen aus der Sicht des DaF-Unterrichts in Italien" stellt einen Vergleich zwischen den Verwendungen grammatischer Begriffe aus Grammatikbüchern auf, die in Italien im DaF-Unterricht zum Einsatz kommen. Diese gehören zur Gruppe solcher Grammatiken, die die L1 der Adressaten berücksichtigen, und zwar nicht nur in der Terminologie, sondern auch in der Erläuterung der grammatischen Phänomene aus kontrastiver Sicht. Ivancic nennt drei Grundprinzipien – das Verständlichkeitsprinzip, das Anschlussprinzip und das Anpassungsprinzip –, nach denen die Verwendung fachsprachlicher Terminologie beurteilt werden kann, und analysiert daraufhin einige der am meisten verwendeten Grammatiken. Dabei unterscheidet sie zwischen 'terminologischer Äquivalenz', wenn mehrere Synonyme für den gleichen Begriff gebraucht werden, und 'terminologischer Divergenz', wenn aufgrund vom Beschreibungsmodell oder von der unterschiedlichen Sprachstruktur sich divergierende Benennungen ergeben. Die Untersuchung ihres Korpus konzentriert sich auf Wortarten- und Satzgliederbenennung.

Maja Häusler und Zrinjka Glovacki-Bernardi untersuchen in ihrem Beitrag "Grammatikvermittlung in neueren kroatischen DaF-Lehrwerken" neuere in Kroatien erschienene Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache in Hinblick auf die den Lehrwerken zugrunde liegenden Grammatiktheorien, auf die berücksichtigten linguistischen Ebenen, auf die eingeführte Terminologie (deutsche/kroatische Bezeichnungen) und auf die explizite/implizite Darstellung grammatischer Inhalte. Allen liegt die Weiterentwicklung des kognitiven Ansatzes und des autonomen Lernens zugrunde, wobei dies zum Übermaß an Grammatikarbeit führen könnte aufgrund der bescheidenen Zahl an Unterrichtsstunden, die an kroatischen Schulen dem Deutschen gewidmet sind.


Anmerkung

1 Für einen Überblick über gängige linguistische und didaktische Grammatiken siehe Hennig (2001). zurück


Literatur

Götze, Lutz (2001a): "Linguistische und didaktische Grammatik". In: Helbig, Gerhard et al. (ed.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband. Berlin/New York: 187–194.

Götze, Lutz (2001b): "Grammatiken". In: Helbig, Gerhard et al. (ed.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband. Berlin/New York: 1070–1078.

Helbig, Gerhard (2001): "Arten und Typen von Grammatiken". In: Helbig, Gerhard et al. (ed.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband. Berlin/New York: 175–186.

Hennig, Mathilde (2001): Welche Grammatik braucht der Mensch? Grammatikenführer für Deutsch als Fremdsprache. Unter Mitarbeit von Carsten Hennig. München.