Rezension zu

Ingo H. Warnke (ed.) (2007): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York: Walter de Gruyter. (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 25)

Daniel H. Rellstab (Bern)


 

Von Diskursen spricht die Linguistik schon lange: wie Ingo Warnke in seiner Einleitung zum vorliegenden Band schreibt, beschäftigte sich schon der amerikanische Strukturalismus mit discourse. Doch verstand er darunter nur das, was wir heute als Text bezeichnen würden. Dieses enge und auch klare Verständnis von Diskurs als Einzeltext oder einzelne Äußerung ist auch heute noch nicht aus der Linguistik verschwunden und findet sich in so unterschiedlichen Richtungen wie der formallogisch orientierten Diskursrepräsenta-tionstheorie (cf. etwa Asher 1993; Asher/Lascarides 2003) oder der linguistischen Gesprächsforschung (cf. Schlickau 1996). Doch spätestens anfangs der 1990er Jahre hielt ein breiteres, dafür aber auch weniger exaktes Verständnis von Diskurs Einzug in die deutschsprachige Linguistik. Dafür verantwortlich waren vor allem zwei Forschungsrichtungen: die kritische Diskursanalyse, wie sie unter anderem von Siegfried Jäger und Ruth Wodak praktiziert wird (cf. etwa Jäger/Link 1994; Wodak 2001), und die historische Semantik, repräsentiert insbesondere durch Wolfgang Teubert und Friedrich Busse (cf. Busse et al. 1994; Busse/Teubert 1994; Busse 1996). Beide Forschungsrichtungen versuchten, den von Michel Foucault etablierten Diskursbegriffs in der Linguistik fruchtbar zu machen. Foucaults Diskurs wurde zu einem genuin sprachwissenschaftlichen Gegenstand.

Seither sind gut zehn Jahre vergangen; das linguistische Interesse an Foucault und seiner Diskursanalyse erwies sich als beständig und überlebte auch den Niedergang des Poststrukturalismus – der allerdings in der Linguistik ja auch nie eine wichtige Rolle spielte. Das Ziel des vorliegenden Sammelbands ist es zu dokumentieren, wie aktuelle diskurslinguistische Ansätze konzipiert sind, die sich nicht nur in marginaler Weise mit Foucault beschäftigen, sondern deren

zentrales Merkmal die Ausrichtung an Foucault ist und die ihre Konzepte und Gegenstandsbereiche gemäß Foucault'scher Theoreme organisiert bzw. das heuristische Potential der Foucault'schen Arbeiten erkennt. (10)

Wer jedoch eine einheitliche Theorie oder Methode der linguistischen Diskursanalyse nach Foucault in diesem Band sucht, wird enttäuscht werden. Denn diese gibt es nicht, wird es wohl auch nie geben. Dazu sind schon nur die Aussagen Foucaults, die ja den zentralen theoretischen Hintergrund liefern sollten, viel zu unscharf. So unabgeschlossen Foucaults Arbeit am Begriff Diskurs war, so unterschiedlich sind auch die Möglichkeiten seiner linguistischen Interpretation: die Arbeit am Begriff Diskurs ist jedenfalls heute noch keineswegs abgeschlossen.

Dieser Umstände, die als Chancen wahrgenommen werden können, sind sich Herausgeber und Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes wohl bewusst. Ingo Warnke macht in seiner Einleitung explizit, dass bei der Zusammenstellung der Beiträge nicht versucht wurde, "das plurale Erscheinungsbild der heutigen Diskurslinguistik zu vereinheitlichen" (18). Und Andreas Gardt widmet seinen Beitrag der Frage, ob Diskursanalyse eine Methode, eine Theorie oder vielleicht gar nur eine Haltung sei (27–57).

Gardts Aufsatz steht sinnigerweise am Anfang des Sammelbandes. Denn er führt mit seiner Frage auch ins Arbeitsfeld der linguistischen Diskursanalyse ein und zeigt, welches die theoretischen, methodischen und fachwissenschaftlichen Vorstellungen sind, denen die Leserin auch in den anderen Beiträgen begegnen wird. Und er macht auf Probleme aufmerksam, der sich jeder linguistische Diskursanalytiker stellen muss. So kann Gardt Antworten auf seine Fragen erst formulieren, nachdem er skizziert hat, was er selbst unter Diskurs versteht. Für Gardt ist sie eine Auseinandersetzung mit einem Thema,

die sich in Äußerungen und Texten der unterschiedlichsten Art niederschlägt, von mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Gruppen getragen wird, das Wissen und die Einstellung dieser Gruppen zu dem betreffenden Thema sowohl spiegelt als auch aktiv prägt und dadurch handlungsleitend für die zukünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Bezug auf dieses Thema wirkt. (30)

Dass sich Diskurse methodisch analysieren lassen, ist für Gardt wie auch für die anderen Beiträgerinnen und Beiträger unbestritten. Untersuchungsgegenstand der linguistischen Diskursanalyse ist laut Gardt "die semantische Dimension sprachlicher Äußerungen auf grundsätzlich allen Ebenen des Sprachsystems, aber auch ãauf der Ebene der Textgestaltung, nicht im Sinne einer transphrastischen Textgrammatik, sondern im Sinne eines pragmatisch-funktionalen Textverständnisses" (35). Ein zentrales Problem ist, dass die Diskursanalyse über kein "verbindlich anerkanntes Theoriegebäude" (36) verfügt, wohl aber über eine relativistisch-konstruktivistischen Sprachauffassung. Und kritisch merkt er an, dass die Tragweite dieser Sprachauffassung den einzelnen Diskursanalytikerinnen und -analytikern oft nicht bewusst sei: Zwar gingen sie davon aus, dass der Sprache "eine maßgebliche Rolle bei der mentalen Erschließung der Wirklichkeit" zukomme. Oft seien sie sich aber nicht im Klaren darüber, wie viel Einfluss sie dem Diskurs zubilligen wollten: "Dem Diskurs wird in den einschlägigen Arbeiten jedenfalls sehr viel zugetraut, im Guten wie im Schlechten" (38). Klar ist für Gardt, dass sich die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Diskurs und Welterschließung nicht abschließend beantworten lässt. Klar ist für ihn aber auch, dass die Diskursanalyse eine spezifische wissenschaftliche Haltung einnimmt und Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft begreift. Dies zeige sich letztlich auch an der Wahl der Themen. Dadurch bestehe zwar in der Tat die Gefahr, dass die Diskursanalyse zur Hilfswissenschaft anderer Disziplinen verkomme, die sie unter Umständen gar nicht wahrnehmen würden. Doch "die Konzentration auf die Sprachlichkeit der diskursiven Weltentwürfe" sichere der Diskursanalyse letztlich ihre "linguistische Identität" (42).

Die weiteren Aufsätze des ersten Teils des Bandes skizzieren linguistisch orientierte Theorien des Diskurses und erläutern, wie sie die Relation von Sprache, Texten, Diskursen und Wissen verstehen. Oder sie entwerfen spezifische linguistische Methoden der Diskursanalyse. Im besten Fall schaffen sie es, gleich beides zu tun. Johannes Angermüller versucht das Konzept der Foucault'schen Diskursanalyse den Lesenden durch Kontrastierung mit Jacques Lacans Äußerungen zur Diskursproblematik verständlicher zu machen (53–80). Dietrich Busse zeigt in seinen Überlegungen zur Diskurslinguistik als Kontextualisierung, wie und auf welchen Ebenen sprachliche Phänomene kontextualisiert sind und wie sich diese Kontextualisierungen aus diskursanalytischer Perspektive mit Hilfe durchaus üblicher linguistischer Methoden analysieren lassen (81–105). Klaus-Peter Konerding präsentiert in seinem Aufsatz eine Methode, wie thematisch bestimmte Bindungen von Texten in Diskursen und die Beziehungen der Texte untereinander durch ein inter- oder besser transtextuelles Modell der thematischen Kohärenz expliziert werden können (106–139). Albert Busch dagegen sucht nach empirischen Kriterien der sprachwissenschaftlichen Erfassung von Diskursen. Er kommt dabei auch auf das Problem zu sprechen, mit welchem sich eine jegliche Korpus basierte, aber nicht statistisch vorgehende sprachwissenschaftliche Analyse konfrontiert sieht: wann ist die Interpretation reliabel? Den Grund dafür, dass sich die Linguistik heute noch mit solchen Fragen befassen muss, sieht er darin, dass im Gegensatz zur qualitativen Sozialforschung die Geisteswissenschaften ihre "ureigene Methodologie", nämlich die Interpretation, "nicht zur Grundlage methodischer Standards der eigenen Disziplinen" ausgebaut habe (157). Fritz Hermanns würde ihm zustimmen. Hermanns zeigt, dass sich das Problem des Verstehens sowie des Interpretierens auch in der Diskurslinguistik stellt, und zwar in all ihren Spielarten (187–210). Interessant ist auch der Beitrag von Martin Wengeler: er verwendet die rhetorische Kategorie des Topos als diskursgeschichtliche Analysekategorie und macht damit einsichtig, dass eine Diskursanalyse nach Foucault durchaus Instrumente verwenden kann, die schon lange vor Foucault verwendet wurden. Seine beiden Topos-Analysen, die den Beitrag abrunden, vermögen die Fruchtbarkeit seines Ansatzes zu illustrieren. Und sie zeigen dem empirisch Interessierten auch, wie Diskursanalyse praktisch durchgeführt werden kann (165–186).

Diese Aufgabe kommt eigentlich erst dem zweiten, leider etwas kurz und einseitig ausgefallenen zweiten Teil des Bandes zu. Denn hier werden Gegenstände der Diskurslinguistik vorgestellt. Anja Stukenbrock und Katja Faulstich analysieren in ihren Beiträgen die Entstehung und Entwicklung der Idee der Sprachnation. Stukenbrock analysiert dazu ein Korpus, das den gewaltigen Zeitraum vom 17. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus umfasst (213–246), Faulstich beschränkt sich auf die Schriften des Sprachnormierungsdiskurses des 18. Jahrhunderts (247–272). Beide Autorinnen können zeigen, dass und wie eine auch kulturwissenschaftlich orientierte Diskursanalyse genuin sprachwissenschaftliche Gegenstände bearbeiten und dabei überzeugende Resultate hervorbringen kann, deren Reliabilität nicht zur Debatte steht.

Warnkes Sammelband ist wichtig für alle diejenigen, die sich aus textlinguistischer oder semantischer Perspektive für das Phänomen des Diskurses im Sinne Foucaults interessieren. Er deckt ein vielfältiges Spektrum möglicher Zugänge zum Phänomen ab, auch wenn vielleicht die kritische Diskursanalyse etwas zu kurz gekommen ist. Da einige der Aufsätze programmatischen Charakter haben, gibt er einen ausgezeichneten Überblick darüber, was innerhalb der germanistischen Linguistik unter Diskursanalyse verstanden und unter welchen Paradigmen gearbeitet wird. Er vermag zu zeigen, dass eine linguistische Auseinandersetzung mit Foucault die Semantik "reich" machen und das textanalytische Instrumentarium nicht nur innerhalb der germanistischen Linguistik, sondern innerhalb der Philologien auszubauen im Stande ist (cf. 42). Ein paar stärker empirisch orientierte Beiträge wären sicherlich wünschenswert gewesen. Doch in Anbetracht des Umstandes, dass der Wissenschaft nun eine erste, gute Theorie- und Methodensammlung vorliegt, darf man hoffen, dass in der nächsten Zeit ganz viele empirische linguistische Diskursanalysen entstehen werden.


Literaturangaben

Asher, Nicholas (1993): Reference to Abstract Objects in Discourse. Dordrecht/Boston/London. (= Studies in Linguistics and Philosophy 20).

Asher, Nicholas/Lascarides, Alex (2003): Logics of Conversation. Cambridge/New York. (= Studies in Natural Language Processing).

Busse, Dietrich (1996): "Öffentlichkeit als Raum der Diskurse. Entfaltungsbedingungen von Bedeutungswandel im öffentlichen Sprachgebrauch". In: Böke, Karin/Jung, Matthias/Wengeler, Martin (eds.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Opladen: 347–358.

Busse, Dietrich/Teubert, Wolfgang (1994): "Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik". In: Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (eds.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methoden-fragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen: 10–28.

Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (eds.) (1994): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen.

Jäger, Siegfried/Link, Jürgen (1994): Text- und Diskursanalyse. Eine Anleitung zur Analyse politischer Texte. 5. Aufl. Duisburg.

Schlickau, Stephan (1996): Moderation im Rundfunk. Diskursanalytische Untersuchungen zu kommunikativen Strategien deutscher und britischer Moderatoren. Frankfurt/Main etc. (= Arbeiten zur Sprachanalyse 25).

Wodak, Ruth (ed.) (2001): Critical Discourse Analysis in Postmodern Societies. Berlin. (= Folia Linguistica xxxv/1–2, Special Issue).