Am 6./7. Februar 2004 wurde an der Universität Freiburg i.Ü. ein Hauptseminar zum Thema "Dialekt und Dialektologie an der Jahrtausendwende" mit einer Tagung abgeschlossen, von der "DialektologInnen der Jahrtausendwende" - vor allem also junge Forscherinnen und Forscher, die sich erst seit kurzem auf ein dialektologisches Thema eingelassen haben - angesprochen werden sollten. Bis zu vierzig mehrheitlich studentische Zuhörerinnen und Zuhörer haben sich die fünfzehn Referate angehört, in denen unterschiedliche dialektologische Themen präsentiert und diskutiert wurden. Neun Vorträge sind zu Aufsätzen ausgearbeitet worden, die im vorliegenden Heft der Zeitschrift Linguistik online veröffentlicht werden.
Nach wie vor scheint die Dialektologie für Studierende der Sprachwissenschaft ein lohnendes und inspirierendes Terrain für Forschungsthemen zu sein. Zumindest konnten für die Tagung eine ganze Reihe junger Nachwuchsleute, aber auch einige bereits etablierte Forscherinnen und Forscher, die sich in ihren universitären Abschlussarbeiten oder in ihren Laufbahnschriften mit einem areallinguistischen Thema beschäftigen, für ein Referat gewonnen werden. Dabei hat sich gezeigt, dass sich Studierende vor allem dann für dialektologische Arbeiten entscheiden, wenn an den linguistischen Abteilungen der Universitäten Forschungsprojekte installiert sind, deren Präsenz an einer universitären Abteilung sich offensichtlich nachhaltig auf Lehre und Untersuchungsgegenstände auswirken.
Im vorliegenden Heft von Linguistik online sind Aufsätze versammelt, die aus ganz unterschiedlichen Forschungsstadien stammen. Natascha Frey, Matthias Friedli und Janine Steiner (alle Zürich) haben ihre Lizentiatsarbeiten unter der Leitung von Elvira Glaser im Rahmen des Zürcher Forschungsprojektes Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz (SADS) verfasst: Natascha Frey bearbeitete die Verdoppelung von W-Phrasen, für deren Untersuchung sie eine zusätzliche Befragung im Kanton Uri in die Wege leitete; Matthias Friedli wertete die Komparativanschlüsse im Schweizerdeutschen aus und Janine Steiner die Verdoppelung des indefiniten Artikels in Nominalphrasen, die adverbial erweitert sind. An der Auswertung der SADS-Daten arbeitet Claudia Bucheli Berger (Zürich) als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie trägt hier Ergebnisse zu Passivkonstruktionen bei. Ins Zürcher Umfeld mit seinem dialektsyntaktischen Fokus gehören auch die fortgeschrittenen Forschenden Nadja Kakhro (St. Petersburg/Zürich) und Jürg Fleischer (Berlin/Zürich): Nadja Kakhro überlegt sich die Nutzbarmachung der Daten aus den (Schweizer) Wenkerbögen, Jürg Fleischer vergleicht die verschiedenen Typen von Relativsätzen in den deutschen Dialekten. Ergebnisse aus einem Projekt zur Sprachsynthese, das vorerst an der Lausanner, später an der Berner Universität beheimatet war, präsentieren Katrin Häsler, Ingrid Hove und Beat Siebenhaar (alle Bern). Das Interesse an der Dialektsoziologie ist bei Joachim Scharloth (Zürich, früher Mainz und Heidelberg) bei seinen Begegnungen mit Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern und ihrem "besonderen" Verhältnis zur Standardsprache erwacht und hat ihn und Sara Hägi (Bonn) zu einem kleineren soziolinguistischen Forschungsprojekt angeregt, dessen Ergebnisse sie hier vorlegen.
Mit Jürgen Macha (Münster) konnte ein renommierter Dialektologe für die Eröffnung der Freiburger Tagung gewonnen werden. Als einer der Mitbegründer der soziopragmatische Wende in der Dialektologie gab Jürgen Macha einen kompetenten Überblick über die neuere Wissenschaftsgeschichte.
Das Kerngeschäft der Dialektologie, nämlich die Auslotung der räumlichen Dimension sprachlicher Ausprägungen, hat dank neuer technischer Möglichkeiten und neuer Forschungsfragen eine Revitalisierung erfahren. Nicht alle linguistischen Beschreibungsebenen sind nämlich bisher befriedigend auf ihre raumbildenden Phänomene hin befragt worden. Wie Nadja Kakhro ausführt, ist insbesondere die Syntax einer jener Bereiche, der aus unterschiedlichen Gründen ein dialektologisches Aschenputtel-Dasein fristete (cf. Henn 1983, Löffler 2003). Zwar lassen sich bereits vorhandene dialektologische Korpora durchaus auf aktuelle - eben beispielsweise syntaktische Fragestellungen - hin besehen, wie das Nadja Kakhro in ihrer Untersuchung mit den Abfragen der Wenkersätze auch tut. Nicht alle neuen areallinguistischen Forschungsdesiderata lassen sich aber mit einem Rückgriff auf bereits erhobene Daten früherer Untersuchungen einlösen, was vor allem für technisch anspruchsvolle Untersuchungen wie solche zur Prosodie gilt. So müssen neue Daten erhoben werden und damit kommt auch der Dialekt, wie er an der Jahrtausendwende gesprochen wird, in den Blick. Dass sich in diesen aktuellen Daten teilweise raumbildende syntaktische Variablen nachweisen lassen, zeigt einerseits, dass eine eingehende Beschäftigung mit der arealen Komponente syntaktischer Phänomene lohnt, und andererseits, dass selbst der Kontakt mit der Standardsprache, wie er im Umfeld der untersuchten, "ausgebauten" schweizerdeutschen Dialekten verstärkt zu erwarten ist, areal bedingte syntaktische Unterschiede keineswegs zum Verschwinden gebracht hat.
Nicht nur der Dialekt, wie er an der Jahrtausendwende ausgeprägt ist, ist Forschungsgegenstand in der aktuellen Dialektologie, sondern auch der Dialekt, wie er an der Jahrtausendwende gebraucht wird. Die Stellung des Dialekts in "modernen" gesellschaftlichen Konstellationen, in denen der Zugang sämtlicher Bevölkerungskreise zur Standardsprache gesichert ist, ist keineswegs stabil, und damit auch von der Wissenschaft her von den veränderten gesellschaftlichen und medialen Bedingungen her immer wieder neu zu auszuloten. So skizziert Jürgen Macha in seinem Abriss zur Dialektologie ein kürzlich in die Wege geleitetes soziodialektologisches Projekt, das den unbekannten oder möglicherweise falsch eingeschätzen Verhältnissen in Norddeutschland nachgehen soll, während Sara Hägi und Joachim Scharloth das Verhältnis der Deutschschweiz zu Dialekt und Standardsprache, oder vielmehr das Verhältnis von koexistierenden Varietäten überhaupt, neu überdenken und die Diskussion zur Fergusonschen L- und H-Varietät um das Gegensatzpaar Primär- und Sekundärvarietät bereichern und in die dialektsoziologische Diskussion einbringen, die gerade in der letzten Zeit durch kontroverse wissenschaftliche Sichtweisen (cf. Haas 2004, Berthele 2004), aber auch im Alltagsdiskurs neu entfacht worden ist, letzteres vornehmlich im Zusammhang mit der Frage nach der angemessenen schulischen Instruktion der Standardsprache.
Der aktuelle Dialekt erweist sich also nach wie vor als lohnendes Forschungsobjekt, nicht nur was seine genuin areale Dimension betrifft, wo es noch immer Grundlagenarbeit zu leisten gilt, sondern auch was den Aspekt seines Gebrauchs betrifft.
Dass Dialektologie und Sprachwissenschaft nicht zwei verschiedene Disziplinen sind, sondern sich gegenseitig bedingen, ist an dieser Tagung deutlich zum Ausdruck gekommen. Wie schon zu junggrammatischen Zeiten eines Jost Winteler (cf. Winteler 1876), als die damals modernsten phonologischen Theorien der Zeit in Sprachwissenschaft und Dialektologie nutzbar gemacht wurden, sind es heute soziolinguistische, syntaktische oder andere Theorien, die den dialektologischen Zugriff leiten und dialektale Phänomene, den heutigen wissenschaftlichen Standards angemessen, zu erfassen und zu erklären versuchen. Das Bestreben, neben einer Bestandesaufnahme regionaler Varianz die erhobenen Daten mit den aktuellen linguistischen Modellen in Verbindung zu bringen, wird in den Untersuchungen aus dem Umfeld des SADS deutlich (cf. Glaser 2003; zur Erhebungsmethode Glaser 2000). Claudia Bucheli Berger, welche die areale Dimension der Passivkonstruktionen herausarbeitet, bringt bei der grammatischen Bewertung der verschiedenen Passivkonstruktionen die aktuelle Grammatikalisierungsforschung ins Spiel (Hopper/Traugott 1993). Natascha Frey stellt sich unter anderem die Fragen, ob die - wohl mit Diskursfunktionen in einem Zusammenhang stehende - Verdoppelungen von w-Elementen, die eine weniger klare Raumstruktur zeigen, als Klitika zu betrachten sind und wie innerhalb einer generativen Grammatik die Positionierung rsp. die Bewegung der w-Elemente zu modellieren sind. Janine Steiner, Matthias Friedli, Claudia Bucheli Berger, deren Untersuchungsgrössen häufig nicht kategorisch, sondern variabel realisiert werden, konzeptionieren diese Variation in einem korrelativen Forschungsparadigma, wie sie in den 1960er Jahren entwickelt worden sind. Die Variation wird als Korrelat unabhängiger sozialer Grössen wie Alter, Geschlecht, sozioökonomische Zugehörigkeit betrachtet, welche die dynamische Komponente des Sprachwandels aufdecken soll (cf. Gilles 2003). Jürg Fleischer verfasst eine sprachtypologisch angelegte Studie und kann anhand der verschiedenen, nach der Accessibility Hierarchy von Keenan/Comrie (1977) geordneten dialektalen Relativsätze plausibel machen, dass die unflektierten Anschlüsse, wie sie in den Dialekten präferiert werden, der "Natürlichkeit" von Dialekten zuzuschreiben sind, während bestimmte flektierte pronominale Anschlüsse der "Nicht-Natürlichkeit" standardisierter Varietäten geschuldet sind. Dass die Beschäftigung mit syntaktischen Phänomenen nicht-standardisierter und damit auch dialektaler Varietäten nicht nur ein lohnendes, sondern ein dringliches Anliegen ist, liegt damit auf der Hand: Wenn Aussagen zur Universalgrammatik angestrebt werden oder wenn die Idee einer Standard Average European Language verfolgt werden soll, sind standardsprachliche Daten offensichtlich unzureichend.
Der aktuelle Stand der Technik macht es möglich, dass sich die Sprachwissenschaft prosodischen Phänomenen annehmen kann, deren dialektale Relevanz zwar nie bestritten wurde, deren schwierige Zugänglichkeit aber die entsprechende Forschung verunmöglichten und Georg Heike noch 1983 bilanzieren liess: "Untersuchungen zu den suprasegmentalen Eigenschaften deutscher Mundarten sind selten vorgenommen worden" (Heike 1983: 1159). Der Mangel an einschlägigen Untersuchungen zeigt sich auch in der neuesten Einführung in die Dialektologie (Löffler 2003: 87), die zu diesem Forschungsbereich nur gerade vier Arbeiten auflisten kann. Das Forschertrio Katrin Häsler/ Ingrid Hove/Beat Siebenhaar zieht aus den Erkenntnissen zur Sprachsynthese von Berndeutsch und Zürichdeutsch bahnbrechende Ergebnisse etwa zu zeitlichen Parametern sprachlicher Äusserungen. Obwohl wegen des immensen Analyseaufwandes, welcher der erfolgreichen Synthese vorangeht, nur bestimmte prosodische Aspekte weniger Einzelsprecher haben untersucht werden können, deutet sich mit dieser Arbeit an, dass in der Dialektologie jetzt zu den technischen Apparaten auch die Theorien auf dem Tisch sind, die eine adäquate Erfassung der arealen Komponente im Bereich der Prosodie erlauben und endlich die bisherigen intuitiven Annäherungen Geschichte werden lassen, wie sie sich etwa bei Rudolf Suter (1976:48) noch wie folgt ausnehmen rsp. dem damaligen Stand der Technik entsprechend ausnehmen mussten:
Nachstehend versuchen wir behelfsmässig, das heisst mit konventioneller Notenschrift, ein paar typische Beispiele von Sprachmelodien einigermassen zu erfassen. Die feineren Übergänge und die Unterschiede der Tonstärke können allerdings nicht oder höchstens in Andeutungen wiedergegeben werden. (Heraushebungen H. Ch.)
Die Arbeiten machen aber auch deutlich, dass sich innerhalb der Dialektologie ein derart hoher Spezialisierungsgrad abzeichnet, der gerade bestätigt, dass der Forschungsgegenstand Dialekt nicht zwingend eine eigene Disziplin begründet, sondern dass es die diversen aktuellen sprachwissenschaftlichen Modelle und Theorien sind, in welche die verschiedenen dialektologischen Forschungsfragen eingebunden werden.
Nimmt man die Ergebnisse der Freiburger Nachwuchstage als ein Trendbarometer für die aktuelle Dialektologie, so zeichnen sich zwei dialektologische Wenden ab: eine syntaktische Wende, welche die Raumstruktur linguistischer Grössen erhebt, die bisher wenig beachtet und für wenig relevant gehalten wurden, eine prosodische Wende, welche die Raumstruktur linguistischer Grössen erhebt, die immer sehr wohl für relevant gehalten wurden, die aber technisch nicht in den Griff zu bekommen waren. Und beide Wenden sind - wie schon immer in der Geschichte der Dialektologie - verknüpft mit den Fragestellungen, die in der Sprachwissenschaft überhaupt Konjunktur haben.
Berthele, Raphael (2004): "Vor lauter Linguisten die Sprache nicht mehr sehen - Diglossie und Ideologie in der deutschsprachigen Schweiz". In: Christen, Helen (ed.): Dialekt, Regiolekt und Standardsprache im sozialen und zeitlichen Raum. Wien: 111-136.
Gilles, Peter (2003): "Zugänge zum Substandard: Korrelativ-globale und konversationell-lokale Verfahren". In: Androutsopoulos, Jannis K./Ziegler, Evelyn (eds.): "Standardfragen". Bern: 195-215.
Glaser, Elvira (2000): "Erhebungsmethoden dialektaler Syntax". In: Stellmacher, Dieter (ed.): Dialektologie zwischen Tradition und Neuansätzen. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beiheft 109. Stuttgart: 258-276.
Glaser, Elvira (2003): "Schweizerdeutsche Syntax: Phänomene und Entwicklungen". In: Dittli, Beat et al. (eds.): Gömmer MiGro? Freiburg/Schweiz: 39-66.
Haas, Walter (2004): "Die Sprachsituation in der deutschen Schweiz und das Konzept der Diglossie". In: Christen, Helen (ed.): Dialekt, Regiolekt und Standardsprache im sozialen und zeitlichen Raum. Wien: 81-110.
Heike, Georg (1983): "Suprasegmentale dialektspezifische Eigenschaften. Überblick und Forschungsbericht". In: Besch, Werner et al. (eds.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbband. Berlin: 1154-1169.
Henn, Beate (1983): "Syntaktische Eigenschaften deutscher Dialekte. Überblick und Forschungsbericht". In: Besch, Werner, et al. (eds.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbband. Berlin: 1255-1282.
Hopper, Paul J./Traugott, Elisabeth Closs (1993): Grammaticalization. Cambridge.
Keenan, Edward L./Comrie, Bernard (1977): "Noun phrase accessibility and universal grammar". Linguistic Inquiry 8: 63-99.
Löffler, Heinrich (2003): Dialektologie. Eine Einführung. Tübingen.
Suter, Rudolf (1976): Baseldeutsch Grammatik. Basel.
Winteler, Jost (1876): Die Kerenzer Mundart des Kantons Glarus in ihren Grundzügen dargestellt. Leipzig/Heidelberg.