Passiv im Schweizerdeutschen

Claudia Bucheli Berger (Zürich)



1 Einleitung

Im Rahmen des Projekts Dialektsyntax[1] des Schweizerdeutschen wurden verschiedene syntaktische Phänomene abgefragt. Im Zentrum dieses Artikels steht die detaillierte Auswertung einer Frage zum Akkusativpassiv und zweier Fragen zum Bekommen-Passiv. In einem ersten Schritt wird zunächst die allgemeine Versuchsanordnung des Projekts näher vorgestellt. Danach wird das Akkusativpassiv in der Variation seines Auxiliars und der Kongruenz am Partizip Präteritum dargestellt. Insbesondere wird die genaue Betrachtung der Gestalt der Isoglossen bzw. der Übergänge von einem Auxiliar zum anderen oder von der Kongruenz zur Nicht-Kongruenz zu neuen Erkenntnissen führen. Zum Schluss wird die umstrittene Existenz des Bekommen-Passivs im Schweizerdeutschen anhand des neuen Datenmaterials diskutiert.

 

2 Eckdaten des Projekts Dialektsyntax

Das Projekt Dialektsyntax hat seit Januar 2000 Erhebungen zur Syntax des Schweizerdeutschen durchgeführt. Es wurden an 385 Orten mittels vier schriftlichen Fragebogen 118 Fragen zu 54 verschiedenen syntaktischen Phänomenen gestellt. Bis zum 13. 11. 2003, dem Stichdatum, auf das sich diese Auswertung zum Passiv bezieht, hatten 2'305 Dialektsprecher und -sprecherinnen (fortan: Gewährspersonen) alle vier Fragebogen ausgefüllt, was im Durchschnitt 6 Personen pro Ort ergibt. Es wurde angestrebt, mehrere Gewährspersonen pro Ort zu befragen, um einerseits gesicherte Daten zu erhalten und andererseits auch interpersonale Variation zu erfassen. Die Gewährspersonen mussten ortsfest in zweiter Generation sein. Sie sind zu 60% Männer, zu 40% Frauen. Es werden alle Alterstufen abgedeckt (d.h. die Geburtsjahre reichen von 1906 bis 1986), insgesamt sind 36% der Gewährspersonen über 65 Jahre alt, 12% unter 30 Jahren. Diese breite Altersstreuung trägt dazu bei, dass sowohl Reliktphänomene als auch Neuerungen dokumentiert werden können. Im Gegensatz zur traditionellen Dialektologie, die hauptsächlich ortsfeste Gewährspersonen, die in der Landwirtschaft oder zumindest in einem manuellen Beruf tätig waren, befragt hat, hat das Projekt Dialektsyntax Gewährspersonen aller Berufssparten akzeptiert, um trotz der heutigen Mobilität der Bevölkerung das Kriterium der Ortsfestigkeit noch abdecken zu können. Eine Beschränkung der Gewährspersonen auf Bauern oder Personen mit einer manuellen Tätigkeit hätte die Suche extrem erschwert. Die Gewährspersonen sind zu 25% Studierte (inklusive Lehrer aller Stufen und Absolventen von Studien auf zweitem Bildungsweg, z.B. Technikum, Fachhochschule), 43% der Gewährspersonen üben eine manuelle Tätigkeit aus (Agronomie, Handwerker usw.). Insgesamt sind die Gewährspersonen also untereinander in Bezug auf die sozialen Kriterien sehr verschieden und auch ihre Verteilung auf die einzelnen Ortspunkte ist nicht regelmässig. Es kommen also nicht an allen Ortspunkten Gewährspersonen vor, die ein bestimmtes soziales Kriterium erfüllen, auch wenn dies angestrebt worden ist. Beispielsweise gibt es bei der Frage II.9 zum Akkusativpassiv immerhin 36 Orte, die keine Gewährsfrauen und 22 Orte, die keine Gewährsmänner vorweisen. Gewisse Orte sind nur durch ältere Personen vertreten, andere bieten eine gut durchmischte Auswahl. (Cf. Friedli (in diesem Band) und Steiner (in diesem Band) zu Versuchen von sozio-linguistischen Auswertungen ohne Einbezug der Raumkomponente).

Die Erfassung der Antworten erfolgt im Datenbankprogramm Filemaker Pro; die ersten kartographischen Auswertungen und Darstellungen erfolgen bis dato im Geographischen Informationssystem Arcmap/ArcView.[2]

 

3 Die Passivkonstruktionen

Das Passiv ist eine Strategie, die die Valenz des Verbs verringert. Sie wird angewendet, wenn ein Patiens eine Handlung erleidet, ohne dass jedoch der Urheber der Handlung, das Agens, genannt werden muss oder kann. Die Sprachen Europas und der Welt verwenden dazu verschiedene Mittel (cf. Haspelmath 1990, Thieroff 1994, Wiemer 2004). Es gibt im Deutschen die Möglichkeit, ein Akkusativobjekt oder ein Dativobjekt zu passivieren. Ersteres wird unter der Bezeichnung Akkusativpassiv in dieser Arbeit im Kapitel 4 behandelt, letzteres unter der Bezeichnung Bekommen-Passiv im Kapitel 5 untersucht. Beim Akkusativpassiv verwendet das Standarddeutsche das Auxiliar 'werden' und die eigentliche Handlung wird mit dem Partizip Präteritum kodiert.

Aktiv: Ich fälle den Baum.
Passiv: Der Baum wird gefällt.

Es ist allgemein bekannt, dass sich die schriftliche Sprache mehr des Passivs bedient als die mündliche. Auch in den Mundartgrammatiken des Schweizerdeutschen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die aktive Form vorgezogen werde:

Neben den obigen Feststellungen, dass Passivformen wohl nicht häufig zu erwarten sind, gibt es Hinweise auf die Variation des Passivauxiliars im Höchstalemannischen sowohl in den älteren Mundartgrammatiken als auch in den neueren Arbeiten. So erwähnt beispielsweise Wipf (1910: 145) anfangs des 20. Jahrhunderts für Visperterminen (Wallis), dass choo 'kommen', sii 'sein' und wrdu 'werden' auftreten, wenn auch choo das häufigste sei. Ende des 20. Jahrhunderts stellt Fuchs (1993) in Steg (Wallis) immer noch Variation zwischen den drei Auxiliarien fest. Es stellte sich also einerseits die Aufgabe, die Passivformen überhaupt erheben zu können und andererseits galt es, die Variation des Passivauxiliars zu erforschen.

In Bezug auf das Bekommen-Passiv wollte das Projekt Dialektsyntax testen, ob es überhaupt und wenn ja in welcher Form im Schweizerdeutschen vorkommt. In der standarddeutschen Umgangssprache kann das Dativobjekt eines aktiven Satzes passiviert werden, indem es ins Subjekt gehoben wird, d.h. zum Nominativ wird, wobei das vormalige Vollverb die Form des Partizip Präteritums annimmt und eines der Verben bekommen/kriegen/erhalten als Auxiliar auftritt. Die Bildungsmöglichkeiten des Bekommen-Passivs unterliegen verschiedenen semantischen und syntaktischen Restriktionen (cf. Leirbukt 1997, Diewald 1997), auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden kann. Ein allfällig vorhandenes Akkusativobjekt wird beim Bekommen-Passiv im Akkusativ belassen.

Aktiv: Man erkannte ihm dann den Titel ab.
Bekommen-Passiv: Er bekam/kriegte/erhielt dann den Titel aberkannt.

Daneben gibt es die Möglichkeit, ein dreiwertiges Akkusativpassiv zu bilden, in dem das Dativobjekt als solches erhalten bleibt und der ursprüngliche Akkusativ zum Subjekt wird:

dreiwertiges Akkusativpassiv: Ihm wurde der Titel aberkannt.

Dem Vorkommen dieser Konstruktionen im Schweizerdeutschen wird in dieser Arbeit anhand des Materials aus dem Projekt Dialektsyntax im Kapitel 5 nachgegangen.

 

4 Das Akkusativpassiv

4.1 Die Fragebuchaufgabe zum Akkusativpassiv

Auch wenn eine syntaktische Konstruktion in der Literatur als noch so selten vorkommend beschrieben wird, so gehört sie dennoch zur Gesamtgrammatik eines Dialekts und zu einer umfassenden syntaktischen Beschreibung. Die in der Literatur beschriebene Variation des Passivauxiliars und die im Allgemeinen gut interpretierbaren Antworten, die wir auf Ankreuzfragen zu verschiedensten syntaktischen Phänomenen im ersten Fragebogen erhalten hatten, haben uns dazu bewogen, mittels einer Ankreuzfrage im zweiten Fragebogen ein Akkusativpassiv zu erheben. Dazu haben wir einen Satz[3] in mehreren Varianten suggeriert, der in einen Kontext eingebettet ist, in dem es möglichst natürlich wirkt, wenn das Agens nicht genannt wird. Es galt zu verhindern, dass allzu viele Gewährspersonen aufs Aktiv ausweichen,[4] denn unser Ziel ist es, ein möglichst flächendeckendes Bild vom Vorkommen der verschiedenen Auxiliarien und der Kongruenz am Partizip Präteritum zu erhalten und nicht, die Gebräuchlichkeit zu dokumentieren. Das in der Mundartliteratur erwähnte Bedürfnis zur Umformulierung ins Aktiv sollte nicht in Erscheinung treten müssen. In der Ankreuzfrage werden nur passive Formen suggeriert und es gibt nur eine beschränkte Möglichkeit, andere Formen auf einer Linie unterhalb der Frage zu notieren. Diese Notationsmöglichkeit bei Ankreuzfragen hat sich bewährt. Einerseits hat das Projekt dadurch Belege zu 'unbekannten' syntaktischen Konstruktionen erhalten, was durchaus erwünscht war, aber auf die Beantwortung der eigentlichen Frage keinen Einfluss nahm, andererseits geht es darum, dass die Gewährspersonen die für sie richtigen Schreibformen (bzw. Lautungen), die von den suggerierten Wörtern abweichen, notieren konnten (cf. Bucheli/Glaser 2002). Nachfolgend die im zweiten Fragebogen als neunte Frage gestellte Ankreuzfrage zum Akkusativpassiv:

II.9 Hanna und ihr Mann Fredy gehen beim Sonntagsspaziergang an der alten Villa vorbei, die schon einige Zeit leer
gestanden ist, weil sich lange kein Käufer gefunden hatte. Hanna meint, die Villa stehe immer noch zum Verkauf.
Fredy aber informiert sie:

Welche der folgenden Sätze können Sie in Ihrem Dialekt sagen ("ja"), welche sind nicht möglich ("nein")?

  ja nein  
1)      Nei, si isch grad verchauft worde. 
2)      Nei, si isch grad verchaufti worde. 
3)      Nei, si isch grad verchauft cho. 
4)      Nei, si isch grad verchaufti cho. 
5)      Nei, si isch grad verchauft gange. 
6)      Nei, si isch grad verchaufti gange. 

Welche Variante ist für Sie die natürlichste?

Nr. ___

Würden Sie den Satz normalerweise in einer Form sagen, die nicht aufgeführt ist?

ja      nein

Wenn "ja": Bitte notieren Sie hier den Satz so, wie Sie ihn normalerweise sagen würden:

__________________________________________________________________________

Die Frage II.9 nach dem Akkusativpassiv wurde von den Gewährsleuten ausgefüllt, ohne dass mehr Kommentare, Streichungen und Ersetzung von Wörtern, Überspringen der Frage, usw. als bei anderen Ankreuzfragen auftraten. Es wurden nur 72 Antworten mit einem unpersönlichen Aktiv ('man hat ...', 'sie haben ...') auf der Linie notiert, meistens zusätzlich zu einer angekreuzten Antwort. Insgesamt mussten nur zwei Antworten ausgeschlossen werden, nämlich eine unpersönliche Umformulierung mit dem Verb 'finden' und eine Interpretation des Kontexts, die auf Standarddeutsch folgendermassen lauten würden: Sie haben für die alte Villa einen Käufer gefunden und Es wurde ein Geschäft gemacht.

Zur Herkunft von 'kommen', welches als Passivauxiliar in den Varianten 3) und 4) suggeriert wird, und das insbesondere in den höchstalemannischen Dialekten vorkommt, gibt es verschiedene Theorien: es könnte eine Relexifikation aus dem romanischen Substrat oder eine Weiterentwicklung aus marginalen althochdeutschen Fügungen mit 'kommen' darstellen (cf. Szadrowsky 1930). Äusserst plausibel ist die Möglichkeit eines Zusammenwirkens beider Faktoren. Eine kurze Bemerkung sei zu den suggerierten Varianten 5) und 6), welche 'gehen' als Passivauxiliar enthalten, angefügt. Szadrowsky (1930: 114) interpretiert eine Fügung waß bezahlt gath aus dem Davoser Landbuch des 16. Jahrhunderts dahingehend, dass 'gehen' das Passivauxiliar sei ('was bezahlt wird'). Aus diesem Grund wurden die Varianten 5) und 6) mit 'gehen' zur Frage nach dem Akkusativpassiv hinzugefügt.[5] Unsere Untersuchung hat aber fürs heutige Schweizerdeutsche feststellen müssen, dass 'gehen' als Auxiliar höchst selten oder wohl gar nicht vorkommt. Insgesamt haben nur sieben Personen die Varianten 5) oder 6) angekreuzt und diese Personen leben einzeln weit über das ganze Erhebungsgebiet verstreut (s. Karte I). Wir gehen in solchen Fällen davon aus, dass es sich um Ankreuzfehler handelt. Dieser Befund müsste aber in einem direkten Interview mit den jeweiligen Personen nochmals abgeklärt werden. Die übrigen Antworten haben sich hinsichtlich ihrer räumlichen Komponente problemlos auswerten lassen. Zuerst werde ich die areale Auswertung in Bezug auf das Auxiliar präsentieren (4.2) und danach die areale Gliederung in Bezug auf die Kongruenz darlegen (4.3). Belege zu den im Folgenden diskutierten Akkusativpassiv-konstruktionen und zu den Ausweichstrategien finden sich im Anhang 2.1.

4.2 Areale Auswertung in Bezug auf das Auxiliar

4.2.1 Räumliche Verbreitung aller Nennungen

Die räumliche Verbreitung der Auxiliarien ist auf der Karte I sichtbar, die alle Antworten mit Passiv zu der oben präsentierten Ankreuzfrage II.9 am Stichdatum 13. 11. 2003 darstellt. Die Varianten 1) und 2) mit dem Auxiliar 'werden'[6] sind zusammengefasst und mit einem senkrechten Strich symbolisiert. Analog dazu werden die Varianten 3) und 4), die 'kommen' als Auxiliar enthalten, zusammengefasst und mit einem horizontalen Balken symbolisiert. Die Varianten 5) und 6), welche das Hilfsverb 'gehen' enthalten, werden durch ein Dreieck und die selber notierten Varianten mit 'sein + Partizip Präteritum (+ Kongruenz)' durch einen Punkt angegeben. Karte I enthält deshalb Orte, an denen bis zu drei Symbole gleichzeitig vorkommen, weil ja mehrere Gewährspersonen pro Ort befragt wurden und somit die interpersonale und intrapersonale Varianz an einem Ort unterschiedslos kartiert wird. Es ist ersichtlich, dass das Auxiliar 'werden' in der ganzen Deutschschweiz verbreitet ist, auch im Bündnerland und im Wallis, mit Ausnahme des Sensebezirks. Das Auxiliar 'kommen' tritt im Bündnerland, Wallis und Sensebezirk auf. Ein methodisches Problem soll nachfolgend genauer anhand des Befundes im Sensebezirk diskutiert werden. Im westlichen [sic!] Sensebezirk tritt in der Karte I ausschliesslich 'kommen' als Auxiliar auf. Man kann sich die Frage stellen, ob es sich hierbei um einen Effekt der schriftlichen Befragung und besonders der Ankreuzfrage handelt. Dadurch, dass sowohl 'kommen' als auch 'werden' als Varianten schriftlich vorlagen, hätte es zu längerer Reflexion und bewussten Abgrenzungseffekten beim Ausfüllen der Ankreuzfrage kommen können. So hätte sich beispielsweise eine Gewährsperson des Sensebezirks bewusst durch das alleinige Ankreuzen von 'kommen'-Varianten von den Berndeutschsprechern abgrenzen können, die ihrer Meinung nach nur 'werden' verwenden. Es ist klar, dass es zu Fehleinschätzungen der eigenen Sprachsituation durch die Gewährspersonen kommen kann. Um diesen methodischen Nachteil wett zu machen, wurde im Projekt Dialektsyntax nicht nur eine, sondern durchschnittlich sechs Gewährspersonen pro Ort befragt.[7] Auf Karte I repräsentieren also die Symbole im gesamten Sensebezirk die Antworten von insgesamt 69 Personen, die verteilt auf die 11 Orte leben. Der Befund im Sensebezirk, welcher auf Karte I im Westen nur 'kommen' als Auxiliar vorweist, kann daher als ein abgesicherter Befund gewertet werden. Natürlich muss nochmals erwähnt werden, dass es sich dabei um Antworten äusserst ortsfester Gewährspersonen handelt und dies somit nur eine Aussage zum Basisdialekt darstellt. Die dialektale Gesamtsituation dürfte weitaus komplexer sein (cf. Egger 1993).

Des Weiteren entnimmt man der Karte I, dass vereinzelt im ganzen Erhebungsgebiet, als Punkte dargestellt, die Konstruktion 'sein' plus Partizip Präteritum (mit oder ohne Kongruenz) notiert wurde.[8] Es handelt sich dabei um das so genannte Zustandspassiv, das von seiner Semantik her eine enge Beziehung zum hier untersuchten Vorgangspassiv hat, und auf dessen Formen und areale Verbreitung ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann (Beschreibung und Kartierung in Bucheli Berger/Glaser 2004).

4.2.2 Vergleich mit der Karte 266 des Sprachatlas der Deutschen Schweiz, Band III

Der Vergleich unserer Karte I mit älteren Darstellungen zu 'kommen' als Hilfsverb ist interessant. Im Sprachatlas der Deutschen Schweiz (SDS) gibt es zwar keine Karte zum Passivauxiliar, aber eine zum Inchoativ '(sonst) wirst du krank' (Band III, Karte 266). Hier ist ebenfalls in den südlichen Zonen der Gebrauch des Auxiliars 'kommen' statt 'werden' dokumentiert. Wenn man den Befund dieses in direkter Befragung erhobenen Materials unserer Karte I gegenüberstellt, beobachtet man, dass in denselben drei Zonen, in denen 'verkauft kommen' in unserer Untersuchung angekreuzt wird, auch beim SDS die Antworttypen 'sonst kommst du krank' genannt wurden. Dies bestätigt, dass unser schriftlich erhobenes Datenmaterial grundsätzlich zu ähnlichen Befunden führt. Gleichzeitig erstaunt die Exaktheit der Übereinstimmung, bedeutet dies doch, dass es im Basisdialekt in den letzten 50 Jahren keine massiven arealen Verschiebungen in Bezug auf das Auxiliar 'kommen' gegeben hat. Dass sowohl der Inchoativ 'krank kommen' als auch das Passiv 'verkauft kommen' eine ähnliche areale Gliederung vorweisen, ist erwartet worden, aber nicht in dieser sehr starken Übereinstimmung.[9] Die wenigen Abweichungen des Materials der Frage II.9 des Projekts Dialektsyntax von der Karte 266 im SDS III werden nachfolgend im Detail dargestellt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass aus dem Vergleich der Karte I mit anderen und älteren Quellen hervorgeht, dass im Wallis die Variation zugenommen hat, in der Bündner Herrschaft und im St. Galler Oberland erhalten geblieben ist und bis zu den Walsern (GR) vorgedrungen ist. Heute scheint einzig das westliche Sensegebiet das Auxiliar 'kommen' als alleinige Strategie in der Basismundart bewahrt zu haben. Insgesamt tritt das Passivauxiliar 'kommen' heute noch in demselben bauchbindenartigen[10] Areal auf wie das Inchoativauxiliar 'kommen' im SDS III 266.

4.2.2 Quantitätenverteilung und Isoglossenstruktur

Wie oben schon erwähnt wurde, hat das Projekt Dialektsyntax mehrere Gewährspersonen pro Ort befragt. Man kann nun pro Ort darstellen, in welchem Verhältnis zur Gesamtzahl der Gewährspersonen eine Variante angegeben wird, um im ganzen Untersuchungsgebiet Muster (Massierungen, gleichartige Zonen, Schwundzonen usw.) zu ermitteln.[11] Die quantitative Verteilung der Antworten kann Aussagen über die Dynamik der Variation und den Dialektwandel machen. Durch die Darstellung der Quantitätenverteilung am Stichtag (13. 11. 2003) soll die Beschaffenheit der Übergangszone von einem Passivauxiliar zum anderen dargestellt werden. Es ergeben sich drei grundsätzlich verschiedene Typen von Übergängen: im Westen die traditionelle Isoglosse; im Osten der graduelle Übergang von Ort zu Ort mit je einer Variante an den Extrempunkten und der komplementären Verteilung der Quantitäten in der Variations- und Übergangszone; im Süden das Auftreten einer neuen Variante, die zu der alten Variante hinzutritt.

Auf der Karte II ist die prozentuale Nennung im Verhältnis zur Gesamtzahl der Gewährspersonen des Ortes für das Passivauxiliar 'werden' dargestellt, auf der Karte III die analoge Auswertung von 'kommen' als Passivauxiliar. Bei der Betrachtung des Westens auf beiden Karten fällt auf, dass die Übergangszone äusserst klein ist und daher mit einer traditionellen Isoglosse verglichen werden kann.

Im Westen ist die Grenze zwischen dem Auxiliar 'kommen' und 'werden' nahezu identisch mit der Kantonsgrenze zwischen dem Sensebezirk (Kanton Freiburg) und dem Kanton Bern. Nur fünf Orte, dies- und jenseits der Kantonsgrenze gelegen, bezeugen einen Übergang, indem die eine Variante quantitativ abnimmt, während die andere zunimmt: Heitenried FR, Überstorf FR, Laupen BE, Schwarzenburg BE und Guggisberg BE. Im westlichen Sensebezirk erkennt man auf der Karte III das Kerngebiet, in dem 'kommen' zu 100% erscheint. Die Areale von 'kommen' und 'werden' lassen sich fast wie Puzzleteile zusammensetzen.

Bei der Betrachtung des Ostens auf den Karten II und III ergibt sich tendenziell das Bild einer 'schiefen Ebene', wie Seiler (erscheint) sie für den Finalanschluss im Schweizerdeutschen schon beschrieben hat. In der schiefen Ebene tritt beim Akkusativpassiv von Norden nach Süden das Auxiliar 'kommen' graduell zunehmend auf, während von Norden nach Süden das Auxiliar 'werden' graduell abnehmend ist; die Quantitäten an den einzelnen Ortspunkten sind mehr oder weniger komplementär auf die beiden Auxiliarien verteilt.

Auf der Karte II ist ersichtlich, dass im Osten 'werden' im St. Galler Oberland und in der Bündner Herrschaft stark präsent ist (76-100%). Es nimmt das Taminatal hinauf quantitativ ab (Valens und Vättis SG liegen zwischen 41-75%). Im Rheintal fällt 'werden' bei Trimmis ab und erreicht einen letzten Höhepunkt in Chur. Dies bedeutet, dass 'werden' nicht nur vom Norden her eindringt, sondern auch vom städtischen Zentrum Chur ausstrahlt. Dieses Resultat stimmt exakt mit dem Befund im SDS III 266 überein: der SDS erhielt in Chur zuerst spontan würsch krank 'wirst du krank' und erst auf Suggestion hin khuscht krank 'kommst du krank'. Südlich von Chur nimmt 'werden' auf der Karte II stark ab, in den Walserorten wird es in Davos-Monstein und Wiesen nicht genannt (in Lüen und Versam ebenfalls nicht, aber dort haben wir je nur eine Gewährsperson). Demgegenüber erkennt man auf der Karte III, dass 'kommen' gegen Süden hin graduell zunimmt. Gegen Norden hin läuft 'kommen' so kontinuierlich aus, wie 'werden' zunimmt (wenn man von Pfäfers SG absieht). Zudem hat Chur genauso einen Tiefstwert von 'kommen' vorzuweisen, wie es einen Höchstwert von 'werden' hat. Dass die Quantitätenverteilung an einem Ort komplementär ist, trifft sowohl im städtischen Zentrum Chur als auch in den sonstigen Dörfern zu.[12]

Bei der Betrachtung des Südens auf der Karte II und III erkennt man ein gefestigtes älteres Gebiet mit 'kommen', auf das sich ein neueres Gebiet mit 'werden' legt.

Im Wallis bilden die Stadt Visp und das Dorf Ausserberg ein regionales Zentrum, von welchem 'werden' ausstrahlt (76-100%), während die übrigen Orte deutlich niedrigere Werte (41-75% oder 7-40%) oder gar keine Nennung von 'werden' haben (Inden, St. Niklaus, Steg). Im Allgemeinen verzeichnet man im gesamten Wallis einen sehr hohen Anteil an 'kommen': kein Ort liegt unter 41% 'kommen', die Mehrheit zwischen 76-100%, was für die starke Verankerung dieses Auxiliars spricht. Die Addition der Prozentwerte von 'kommen' der Karte III und 'werden' der Karte II ergibt meistens mehr als 100%, was bedeutet, dass viele Gewährspersonen je beide Varianten angekreuzt haben, also intrapersonale Varianz vorliegt. Auch in Visp und Ausserberg, den Zentren des 'werden'-Auxiliars (76-100% in Karte II), umfassen die 'kommen'-Nennungen immer noch 41-75% (Karte III), was mehr als 100% ergibt. Meines Erachtens kann die Tatsache, dass die Verteilung der Quantitäten nicht komplementär ist, so interpretiert werden, dass 'kommen' noch sehr stark im Walliser Dialekt verankert ist und dass 'werden' sich auf diese Basis gelegt hat, ohne 'kommen' bisher massgeblich zu verdrängen, ausser in Visp und Ausserberg.

4.2.3 Das unpersönliche Aktiv als Ausweichstrategie

Die Ausweichstrategie des unpersönlichen Aktivs ('sie haben sie verkauft' oder 'man hat sie verkauft') kommt nicht sehr häufig vor. Insgesamt haben 72 Personen eine aktive Konstruktion hingeschrieben, die auf der Karte IV nach der Anzahl der Nennungen kartiert ist, weil es so wenige sind. Erstaunlich ist, dass sich mit Ausnahme von Diepoldsau SG in der äussersten Nord-Ost-Schweiz die Antworten in der süd-westlichen Hälfte der Deutschschweiz konzentrieren. 41 dieser 72 Personen sprechen einen Walliser Dialekt. Die meisten dieser 72 Personen haben ein Aktiv zusätzlich zu einer angekreuzten Passivvariante angegeben, mit Ausnahme von 8 Personen, die nichts angekreuzt, sondern nur ein Aktiv hingeschrieben haben. Davon sind 5 wiederum im Wallis beheimatet.[13] Bemerkenswert ist zudem, dass die Aktivantworten im Wallis nicht nur sehr viele Orte umfassen, sondern auch pro Ort wesentlich mehr genannt werden, bis zu fünf Personen pro Ort,[14] als in der übrigen Deutschschweiz. Es ist im Wallis also nicht nur von einer Variation zwischen zwei Auxiliarien auszugehen, sondern auch von einer Variation zwischen unpersönlichem Aktiv und Akkusativpassiv in einer Situation, in der Gewährspersonen anderer Regionen die Tendenz haben, eine passive Form zu akzeptieren. Unsere Erhebungen können eine solche Tendenz nur andeuten, weitere Feldforschungen müssten den detaillierten Zusammenhang aufzeigen.

4.3 Areale Auswertung in Bezug auf die Kongruenz am Partizip Präteritum

Im bauchbindenartigen Areal des 'kommen'-Akkusativpassivs existiert eine Variation zwischen Kongruenz- und Nicht-Kongruenzmarkierung am Partizip Präteritum, denn es ist Teil des höchstalemannischen Gebietes, das die Kongruenz mit dem Bezugsnomen am prädikativen Adjektiv (SDS III 256), beim Inchoativ (SDS III 266) und beim koprädikativen Adjektiv (cf. Fuchs 1993, Egger 1993, Bucheli Berger/Glaser 2004, Bucheli Berger 2005) noch kennt. Die Kongruenzmarkierung beim Passiv mit 'kommen' nimmt an der Dynamik des oben beobachteten Wandels des Auxiliars von 'kommen' zu 'werden' teil. Egger (1993) hat den Wandel-Pfad fürs Senslerdeutsche beschrieben: am Anfang steht 'kommen' + Partizip Präteritum + Kongruenz, dann folgt 'kommen' + Partizip Präteritum ohne Kongruenz und am Ende erfolgt der Wechsel von 'kommen' zu 'werden'.

Wir haben in der Ankreuzfrage zum Akkusativpassiv (cf. 4.1) das Auxiliar 'werden' mit Kongruenz am Partizip Präteritum suggeriert, um zu testen, ob es eventuell auch einen anderen Übergang gibt. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein, denn es gibt nur 19 Personen, die diese Variante angekreuzt haben. Die zufällige areale Verteilung dieser Personen legt nahe, dass es sich hierbei um Fehlantworten oder eine höchst seltene Erscheinung handeln könnte (s. Karte V).

Im Folgenden werden die Areale von 'kommen' mit Kongruenz am Partizip Präteritum (Karte VI) und ohne Kongruenz (Karte VII) verglichen. Es handelt sich um Karten, die drei Auswertungen mittels übereinander gelegten Symbolen darstellen. Die Anzahl Nennungen wird in kleinen Quadraten mittels Farben gestuft dargestellt. Der prozentuale Anteil an Nennungen als natürlichste Variante bei oder über 50% wird mit einem grauen Kreis umrahmt. Wenn eine Variante die einzige Antwort einer Gewährsperson ist und der Anteil solcher Antworten bei und über dem prozentualen Wert von 50% liegt, wird das Ganze mit einem schwarzen Kreis hinterlegt. Es zeigt sich wiederum, dass sich die drei Regionen Osten, Westen und Süden unterschiedlich verhalten. Bei der Betrachtung des Ostens auf den Karten VI und VII, erkennt man eine klare Tendenz zu einer 'kommen'-Passiv-Konstruktion ohne Kongruenz.

Auf Karte VI sieht man, dass lediglich einige wenige Gewährspersonen des Projekts Dialektsyntax im Nicht-Walserort Untervaz und in den Walserorten Schiers, Klosters, Davos-Monstein, Wiesen und Safien noch ein 'kommen'-Passiv mit Kongruenz ankreuzen. Als Ausnahme im Kanton Graubünden kreuzen in Vals sechs von zehn Gewährspersonen die Flexion an und alle sechs bezeichnen sie auch als die natürlichste Variante. Vals fungiert sozusagen als 'Reliktbastion'. Für die übrigen Walserorte entsteht der Eindruck, dass mit der Kongruenz ein Relikt kurz vor dem Aussterben steht und wir nur noch die letzten Nennungen dokumentieren. Der Prozess des Schwundes der Kongruenz bei den Walsern steht sicher im Zusammenhang mit einer Anpassung an die umgebenden Dialekte, d.h. mit einer Art Koinéisierung. Ins Bild des Schwundes würde denn auch schon die Bemerkung von Szadrowsky (1936: 454) passen, dass das Passiv mit 'kommen' in Safien ohne Kongruenz gebildet werde, im Gegensatz zum Zustandspassiv, welches Flexion habe. In unserer Erhebung hat nur ein (jüngerer!) Gewährsmann von 14 Gewährspersonen in Safien ein 'kommen'-Passiv mit Kongruenz angekreuzt. Allgemein erscheint im Osten die Konstruktion ohne Kongruenz (Karte VII) häufig als natürlichste Variante (auf der Karte VII mit grauem Kreis umrahmt) und wird an vielen Orten gar als die einzige Konstruktion angegeben, ist also quasi obligatorisch (auf der Karte VII mit schwarzem Kreis hinterlegt). Der bündnerische Dialektausgleich führt dazu, dass die Kongruenz verloren geht, 'kommen' jedoch erhalten bleibt und mit 'werden' in Variation steht.

Bei der Betrachtung des Südens auf den Karten VI und VII erkennt man eine klare Tendenz zu einem 'kommen'-Passiv mit Kongruenz.

Im Wallis wird die kongruenzlose Konstruktion (Karte VII) deutlich weniger häufig angekreuzt als die kongruierende Konstruktion (Karte VI). Den Schwerpunkt der Nennungen der kongruenzlosen Variante (Karte VII) bildet Brig, das städtische Zentrum des deutschsprachigen Wallis. Hier wird die Variante ohne Kongruenz aber meistens zusätzlich zur Variante mit Kongruenz angekreuzt (Karte VI) und letztere wird häufiger zur natürlichsten Variante erklärt. Bemerkenswert ist, dass die kongruierende Variante lediglich an drei Orten auch als einzige Konstruktion von über 50% der Gewährspersonen angegeben wurde (mit einem schwarzen Kreis umrahmt auf der Karte VI). Vergleicht man die Häufigkeit als obligatorische Variante über 50% der kongruenzlosen Konstruktion im Osten (Karte VII) mit derjenigen der über Kongruenz verfügenden Konstruktion im Wallis (Karte VI), bemerkt man, dass im Wallis keine so starke Tendenz zu einer einzigen Variante vorliegt wie im Osten. Dies ist wiederum ein Hinweis darauf, dass im Wallis häufiger variiert wird bzw. viel mehr Konstruktionen in Konkurrenz stehen als im Osten. Eine der Alternativstrategien, das unpersönliche Aktiv, wird im Wallis in besonderer Konzentration verzeichnet (cf. 4.2.3 und Karte IV).

Bei der Betrachtung des Westens auf den Karten VI und VII erkennt man bei den Akzeptanzwerten eine Situation der ausgeglichenen Variation und bei der Angabe der natürlichsten Variante eine tendenzielle Bewahrung des 'kommen'-Passivs mit Kongruenz am Partizip Präteritum.

Auf der Karte VI wird auf einer Nord-Süd-Linie Gurmels-Jaun eine gute Verankerung der Variante von 'kommen' mit Kongruenz sichtbar. Sie wird häufig angekreuzt und häufig von über 50% der Gewährspersonen pro Ort als natürlichste Variante bezeichnet. In Jaun und Gurmels, den nördlichen und südlichen Extrempunkten des Sensebezirks, wird es von über 50% als einzige Antwort gegeben. Gleichzeitig wurde aber im gesamten Sensebezirk auch das 'kommen'-Passiv ohne Kongruenz am Partizip Präteritum (Karte VII) angekreuzt. Dessen prozentualer Anteil kommt mit Ausnahme der Stadt Freiburg i. Ü. bei der Angabe der natürlichsten Variante unter 50% der Befragten zu liegen. Man stellt also fest, dass das 'kommen'-Passiv mit und ohne Kongruenz koexistiert bzw. die Variation der Kongruenz äusserst lebendig ist. Dabei hebt sich die Stadt Freiburg mit der Tendenz zur Kongruenzlosigkeit, die die 50%-Marke als natürlichste Variante (Karte VII) übersteigt, klar vom Umland ab.[15] In den wenigen Orten im Kanton Bern, in denen ein 'kommen'-Passiv vorkommt, wird die Kongruenz am Partizip Präteritum weniger angekreuzt (Karte VI) als die kongruenzlose Variante (Karte VII), was den Wandelpfad von Egger (1993) bestätigt.

Zusammenfassend stellt man fest, dass durch die Befragung von mehreren Gewährspersonen pro Ort und durch die Frage nach der natürlichsten Variante aufgezeigt werden kann, dass im Sensebezirk (mit Ausnahme der Stadt Freiburg i. Ü.) die kongruierende Form leicht überwiegt, dass im Wallis die kongruenzlose Form erst im Aufstreben begriffen ist und dass sich im Osten der Abbau der Kongruenz in der Abschlussphase befindet.

4.4 Bilanz zum Akkusativpassiv

Wie wir oben beobachtet haben, tritt das Passivauxiliar 'kommen' im Schweizerdeutschen in einem bauchbindenartigen Areal auf, das den äussersten Südrand des Alemannischen umfasst. Die Verankerung von 'kommen' im Höchstalemannischen gestaltet sich in den drei Teilgebieten je anders, was anhand der prozentualen Anteile des Auxiliars 'kommen' bzw. der verschiedenartigen Gestaltung des Übergangs vom Auxiliar 'kommen' zum Auxiliar 'werden' gezeigt werden konnte. Die Kongruenz am Partizip Präteritum ist eng mit der Existenz von 'kommen' als Auxiliar verbunden und ist zuerst vom Schwund betroffen. Zusammenfassend bezeugen die drei Zonen den folgenden Ablauf des Schwunds der höchstalemannischen Passivmerkmale bei ortsfesten Gewährspersonen:

  1. Im Sensegebiet beobachten wir den Beginn der Variation und des Wandels. Es gibt einerseits das westliche Sensegebiet, in dem das Auxiliars 'kommen' noch ausschliesslich genannt wird und andererseits den Rest des Sensegebiets, wo es noch stark bevorzugt wird. Insgesamt grenzt das Sensegebiet sich scharf vom 'werden'-Gebiet ab, indem der quantitative Übergang nur wenige Grenzorte umfasst. Dies entspricht einer traditionellen Isoglosse. Zugleich ist die Kongruenz am Partizip Präteritum beim 'kommen'-Passiv im Sensegebiet noch stärker verankert als die Nichtkongruenz.

  2. Im Süden bildet das Wallis eine Variationszone. 'Kommen' als Auxiliar ist noch stark verankert, darauf hat sich bereits ein Gebiet mit 'werden' als Auxiliar gelegt, das das 'kommen'-Auxiliar bisher aber noch nicht stark bedrängt hat. Die Kongruenz am Partizip Präteritum beim 'kommen'-Passiv ist noch stark präsent, aber es gibt auch Nicht-Kongruenz.

  3. Im Osten lokalisiert man eine Zone des Wandels in Gestalt einer 'schiefen Ebene'. Gegen Norden schwindet der Anteil von 'kommen' und derjenige von 'werden' nimmt zu, während 'kommen' gegen Süden hin zunimmt und 'werden' noch nicht ganz eingedrungen ist. Die Kongruenz am Partizip Präteritum beim 'kommen'-Passiv ist fast überall geschwunden, sogar in den Walserorten (mit Ausnahme von Vals).

Des Weiteren fällt auf, dass Städte sich besonders verhalten: Visp repräsentiert im Wallis das Zentrum, von dem die Verbreitung des 'werden'-Auxiliars ausgeht, die kongruenzlose 'kommen'-Passivform scheint von Brig auszugehen.[16] Chur verhält sich in Bezug auf den prozentualen Anteil zwischen den beiden Passivauxiliarien anders als das direkte Umland. Freiburg i. Ü. baut die Kongruenz am Partizip Präteritum beim 'kommen'-Passiv stärker ab als das Umland. Im Übrigen zeigt sich im Osten anhand des quasi vollständigen Abbaus der Kongruenz bei den Walsern, dass Berge bzw. die 'isolierte' Lage heutzutage nicht mehr automatisch mit Bewahrungstendenzen in Verbindung gebracht werden können (mit Ausnahme von Vals[17]).

Im Übrigen drängt sich eine Bemerkung speziell zur Häufung der Passiv-Ausdrucksmittel im Wallis auf. Dieses Gebiet verfügt, wie schon dargelegt wurde, über ein noch gut verankertes 'kommen'-Passiv mit Kongruenz. Dazu gesellt sich ein 'werden'-Passiv, das dem Befund dieser Untersuchung nach zu dieser Basis hinzugetreten ist, ohne dass es bisher zu einer massiven Verdrängung gekommen ist. Daneben existiert ein noch ziemlich lebendiges Resultativ/Zustandspassiv ('sein' oder 'haben' mit Partizip Präteritum mit Kongruenz[18]). Zugleich habe ich weiter oben für das Wallis eine verstärkte Tendenz festgestellt, das unpersönliche Aktiv statt des Passivs zu benutzen. Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, ob diese vielfältige Variation an Ausdrucksformen nur auf soziolinguistische Faktoren zurückgeht, oder ob es auch eine (neue) semantisch-funktionale Distribution geben könnte. Das Phänomen, dass mehrere Passivstrategien gleichzeitig existieren, ist aus anderen Sprachen bekannt, z. B. dem Italienischen, und die Unterscheidung nach semantischen Kriterien wird diskutiert (Thieroff 1994). Im Falle des Wallis drängen sich solche Fragestellungen auf, zumal die prozentuale Verteilung von 'kommen' und 'werden' nicht komplementär ist, was ich als Hinweis darauf deute, dass 'werden' am Anfang additiv hinzugetreten ist. Weitere Feldforschung müsste mit anderen Mitteln als der schriftlichen Befragung semantische Hypothesen klären.

 

5 Das Bekommen-Passiv

Wie Leirbukt (1997) zuletzt anhand von Korpusuntersuchungen gezeigt hat, existiert im Standarddeutschen und in der deutschen Umgangssprache ein Bekommen-Passiv, das verschiedensten semantischen und stilistischen Restriktionen unterliegt. Für das Projekt Dialektsyntax geht es darum, die grundsätzliche Frage zu klären, ob ein Passiv, das ein Dativobjekt mittels eines Auxiliars mit der Semantik 'bekommen' passiviert, im Schweizerdeutschen überhaupt existiert und wenn ja, bei welchen Verben und in welchem Grammatikalisierungsgrad dies vorkommt.

5.1 Die Fragebuchfragen zum Bekommen-Passiv

Zu Beginn der Erhebungen hat das Team des Projekts Dialektsyntax daran gezweifelt, ob ein Bekommen-Passiv im Schweizerdeutschen überhaupt existiert, denn weder die Sekundärliteratur noch die lexikographischen Hilfsmittel erwähnen eine solche Konstruktion. Anhand von Hörbelegen und aufgrund des eigenen dialektalen Sprachgefühls stellten wir die Hypothese auf, dass ein Dativobjekt nicht in dermassen stark grammatikalisierter Form mit einem Auxiliar 'bekommen' passiviert werden kann, wie dies für kolloquiale Varianten des Standarddeutschen beschrieben wird, aber dass es eventuell doch in weniger stark grammatikalisierter Form auftritt. Deshalb wurden im dritten Fragebogen zwei Fragen zu diesem Phänomen gestellt. Zuerst wurden die Gewährspersonen in der zehnten Frage des dritten Fragebogens dazu aufgefordert, den Satz 'Wenn sie dich erwischen, bekommst du den Fahrausweis entzogen' in den Dialekt zu übertragen. In dieser Satzkonstruktion ist 'bekommen' sehr stark als Auxiliar grammatikalisiert, denn ein eigentliches Bekommen wird ja nicht mehr signalisiert, da es mit dem privativen Verb 'entziehen' in Kombination steht. Diese Konstruktion wurde mit einer Übersetzungsfrage erfragt, weil das Projekt Dialektsyntax testen wollte, wie die Gewährspersonen mit der hochdeutschen Vorlage umgehen. Zudem wollten wir - sollte dieses Passiv tatsächlich existieren - die genauen Notationen durch die Gewährspersonen erhalten. Die Frage mit Kontext lautete:

III.10 Markus prahlt bei seinen Kollegen mit seinem neuen Sportwagen. Gestern sei er mit
200 km/h auf der Autobahn gefahren. Die Kollegen warnen ihn eindringlich:

Bitte übersetzen Sie den folgenden Satz in Ihren Dialekt und schreiben Sie ihn so auf,
wie Sie ihn sagen würden:

Wenn sie dich erwischen, bekommst du den Fahrausweis entzogen!

______________________________________________________________________

Als Frage 26 wurde im dritten Fragebogen der Satz 'Kevin bekommt gerade die Haare gewaschen' suggeriert, in dem jemand tatsächlich eine Haarwäsche bekommt bzw. die Semantik des Bekommens noch deutlich mitschwingen kann. Die Abfrage erfolgt mittels einer Ankreuzfrage, in der nur das Bekommen-Passiv suggeriert wird - selbstverständlich mit den regionalen Varianten des Verbs/Auxiliars wie chunt ... über, bechunt und kriegt. Innerhalb der Frage selber wurde unter 4) die Möglichkeit eröffnet, eine eigene Variante zu notieren. Die Frage mit dem Kontext lautete:

III.26 Sie schauen bei Ihren Nachbarn vorbei. Als Sie eintreten, hören Sie aus dem Badezimmer, wie der vierjährige
Sohn Kevin schreit und die Mutter ihn zu beruhigen versucht. Der Nachbar erklärt:

Welche der folgenden Sätze können Sie in Ihrem Dialekt sagen ("ja"), welche sind nicht möglich ("nein")?

  ja nein  
1)      De Kevin chunnt grad d Haar gwäsche über. 
2)      De Kevin bechunnt grad d Haar gwäsche. 
3)      De Kevin kriegt grad d Haar gwäsche. 
 
4)  anders: 

Welche 'Ja'-Variante (1-4) ist für Sie die natürlichste?

Nr. ___

Einige Belege zum Bekommen-Passiv und zu den Ausweichstrategien sind im Anhang 2.2 wiedergegeben.

5.2 Areale Auswertung der Übersetzungsfrage III.10

Wie erwartet erfolgten auf die Frage III.10 fast keine Notationen des Bekommen-Passivs. Eine verschwindend kleine Anzahl von Gewährspersonen, nämlich 31, schreiben ein solches hin. Diese Antworten sind breit über das Erhebungsgebiet verstreut, eine leichte Verdichtung ist lediglich in Graubünden (hauptsächlich mit dem Auxiliar 'kriegen') und im Jura zu verzeichnen (Karte VIII). Ansonsten wurden bevorzugt Umschreibungen vom Typ 'ist der Fahrausweis weg' oder ein dreiwertiges Akkusativpassiv 'wird dir der Fahrausweis entzogen' angegeben. Selten und ohne erkennbares Areal wurde die Tun-Periphrase angegeben. Das Projekt Dialektsyntax kann folglich zeigen, dass das Bekommen-Passiv in dieser stark grammatikalisierten Form im Schweizerdeutschen nicht existiert und die wenigen Nennungen auf den Einfluss der hochsprachlichen Vorlage zurückzuführen sind.

5.3 Areale Auswertung der Frage III.26

Es wurden in der Frage III.26, in der das 'bekommen' noch wörtlich verstanden werden kann, viel mehr Bekommen-Passiv angekreuzt und auch selbst notiert als in der Frage III.10. Die Karte IX verzeichnet alle entsprechenden Nennungen, ungeachtet der lexikalischen Ausprägung.[19] Es ist zu erkennen, dass das Vorkommen zwar flächendeckend ist, aber insgesamt selten über 66 % der Gewährspersonen an einem Ort ausmacht. Meistens handelt es sich um eine bis vier Antworten pro Ort, selten um mehr. Es entsteht kein räumliches Bild. Auch wenn nur diejenigen Orte betrachtet werden, die kein Symbol haben, d.h. an denen keine einzige Gewährsperson ein Bekommen-Passiv angekreuzt oder hingeschrieben hat, ergibt sich kein räumliches Bild (cf. Karte in Glaser (erscheint)). Der Vergleich mit der Karte X, auf der die Wahl des Bekommen-Passivs als natürlichste Variante verzeichnet ist, zeigt, dass weniger Personen es zur natürlichsten Variante erklären - was an sich ein normaler Befund ist, da sich dies auch bei anderen Phänomenen so verhält - aber dass dies im Gegensatz zu anderen Phänomenen dann nicht bewirkt, dass sich ein klares Bild ergeben würde. Die Nennungen, die sich ausschliesslich auf das Auxiliar 'kriegen' beziehen, sind ebenfalls breit über das Gebiet verstreut, aber sie konzentrieren sich leicht in Graubünden/St.Galler Oberland, im Jura und im Wallis um Brig und Visp (Karte XI).

Diese allgemeine Zurückhaltung beim Ankreuzen des Bekommen-Passivs oder bei dessen selbständiger Notation scheint uns darauf hinzudeuten, dass das Bekommen-Passiv keine feste dialektale Verankerung besitzt, sondern eine unter standardsprachlich-umgangssprachlichem Einfluss stehende Struktur darstellt (cf. Glaser (erscheint)). Als Ausweichstruktur wird häufig ein dialektal verankertes, dreiwertiges Akkusativpassiv notiert, das der Struktur 'Dem Kevin werden die Haare gewaschen' folgt. Die meisten Antworten weisen dabei das Auxiliar 'werden' auf (Karte XII), aber im Sensebezirk, in Graubünden und im St. Galler Oberland sind Antworten mit dem Auxiliar 'kommen' erfolgt, also 'Dem Kevin kommen die Haare gewaschen' (Karte XIII).[20] Bemerkenswert ist, dass das dreiwertige Akkusativpassiv mit 'kommen' in Safien GR (im Osten) immerhin von fünf von 14 Gewährspersonen notiert wird, hingegen im Wallis (im Süden), wo das zweiwertige Akkusativpassiv mit 'kommen' sehr gut verankert ist (cf. Kapitel 4.2), überhaupt nicht! Zudem ist im Wallis auf der Karte XII auch nur ein schwaches Auftreten des dreiwertigen Akkusativpassivs mit 'werden' als Ausweichstrategie zu verzeichnen. Die Karte XIV stellt dar, wie sich die von den Gewährspersonen selber notierten Antworten mit einer aktiven Tun-Periphrase im Raum verteilen. Zwar existiert die Tun-Periphrase im ganzen Erhebungsgebiet als Ausweichstrategie, aber im Wallis erreicht sie eine besonders starke Konzentration. Daneben kommt im gesamten Erhebungsgebiet die aktive Form des Vollverbs im Präsens ebenfalls als Ausweichstrategie vor, ohne jedoch einen räumlichen Schwerpunkt zu haben (Karte XV). Pro Ort werden meistens eine bis vier aktivische Varianten notiert, nur an fünf geographisch verstreuten Orten bis zu sieben.

5.4 Bilanz zum Bekommen-Passiv

Der obige Befund bedeutet, dass ein stark grammatikalisiertes Bekommen-Passiv wie in Frage III.10 im Schweizerdeutschen nicht dialektal verankert ist. Im weniger grammatikalisierten Fall der Frage III.26 besteht im Schweizerdeutschen eine marginale Tendenz, das Passiv mit einem Auxiliar der Semantik 'bekommen' zu bilden. Aber die Mehrheit der Antworten bleiben dem dreiwertigen Akkusativpassiv verhaftet, welches den Dativaktanten enthält und dasselbe Auxiliar wie das Akkusativpassiv verwendet ('Dem Kevin werden/kommen die Haare gewaschen'). Die Tendenz, kein Passiv zu bilden, tritt bei der Passivierung eines Dativs noch stärker als beim Akkusativ zu Tage, die Gewährspersonen wechseln häufiger zum Aktiv und zur Tun-Periphrase. Die Existenz des Bekommen-Passivs ist also im Schweizerdeutschen nur in semantisch begrenztem Umfang anzusetzen und stellt eine Konstruktion dar, die unter standardsprachlich-umgangssprachlichem Einfluss des Deutschen steht.

 

6 Schlussfolgerungen und Ausblick

Es wurde in dieser Arbeit erstmals für das gesamte schweizerdeutsche Dialektgebiet das Akkusativpassiv mit seinen verschiedenen Auxiliarien und der Kongruenz am Partizip Präteritum detailliert dargestellt. Die Variation des Auxiliars und der Kongruenz sind raumbildend. Es wurde gezeigt, dass die Verteilung der prozentualen Anteile der Antworten zur Gesamtzahl der Gewährspersonen pro Ort und die Bestimmung der natürlichsten Variante massgeblich dazu beitragen, ein areales Bild davon zu bekommen, wie der Übergang von einem Auxiliar zum anderen und von Kongruenz zu Nichtkongruenz gestaltet ist. Es ergeben sich einerseits eine traditionelle Isoglosse, andererseits übereinanderliegende Areale, in denen die Quantitätenverteilung der einen Variante sich komplementär zu derjenigen der anderen Variante verhalten kann (ähnlich zweier 'schiefen Ebenen', die aufeinander gelegt werden), aber nicht muss (wenn eine Variante additiv zur anderen hinzugetreten ist). Zum Bekommen-Passiv wurde in diesem Artikel erstmals eine Datenerhebung im Schweizerdeutschen vorgestellt. Daraus hat sich ergeben, dass das Bekommen-Passiv in stark grammatikalisierter Form nicht im Dialekt existiert. Lediglich ein Bekommen-Passiv, in dem 'bekommen' noch wörtlich interpretiert werden kann, kommt in begrenztem Umfang im Dialekt vor. Es stellt eine Struktur dar, die dem Einfluss des standardsprachlichen oder umgangssprachlichen Hochdeutschen unterliegt.

Im Allgemeinen kann mit Daten des Projekts Dialektsyntax gezeigt werden, dass syntaktische Phänomene und ihre Variation arealbildend sind. Die Befragung mehrerer Gewährspersonen pro Ort stellt eine abgesicherte Methode dar, um zuverlässliche syntaktische Daten zu erheben, die zeigen, inwiefern in der Literatur genannte Relikte tatsächlich noch lebendig sind, ob allzu abwegig erscheinende syntaktische Konstruktionen tatsächlich existieren und ob in der Literatur verzeichneter Wandel tatsächlich fortgeschritten ist oder als Variation Stabilität erreicht hat. Dies legt eine Basis für zukünftige Untersuchungen, die etwa die Rolle der Mobilität und andere soziolinguistische Faktoren miteinbeziehen.

Insgesamt erweist sich die Dialektsyntax des Schweizerdeutschen als spannendes Forschungsgebiet, in dem nicht nur neue empirische Erkenntnisse in Bezug auf die Dialektgeographie und den Sprachwandel gewonnen werden können, sondern diese neuen Erkenntnisse auch zur Theoriebildung in der Syntaxforschung genutzt werden können.

 

Anmerkungen

1 Finanziert seit Januar 2000 bis Dezember 2005 durch den Schweizerischen Nationalfonds, Projekt Nr. 11-57121.99 und Nr. 11-68244.02. [zurück]

2 Seit Januar 2000 war ich beteiligt am Aufbau des Gewährspersonennetzes, an der Erstellung der Fragebogen und an der Erfassung der Antworten und seit Oktober 2002 auch an einer ersten kartographischen Auswertung ausgewählter Phänomenbereiche, darunter die Auswertung des Progressivs, der Markierung prädikativer und koprädikativer Konstruktionen (Bucheli Berger/Glaser (2004), Bucheli Berger (2005)), des Reflexivs und des Passivs. [zurück]

3 Es handelt sich um ein Passiv Perfekt, das nach Egger (1993: 43) zumindest im Sensegebiet noch die grösste Verbreitung von allen Passivformen hat. Wir sind des Weiteren von der Überlegung ausgegangen, dass bei einem Passiv Perfekt das Ausweichen auf andere Konstruktionen weniger wahrscheinlich ist als bei einem Passiv Präsens. Beispielsweise ist die Tun-Periphrase als Ausweichstrategie für ein Passiv Perfekt wenig wahrscheinlich. Tatsächlich sind nur wenige Antworten im unpersönlichen Präsens erfolgt (cf. Karte IV). Wie Iwar Werlen an der Tagung bemerkt hat, bildet dieses Passiv Perfekt aber keine ideale Basis für die Vergleichbarkeit mit dem Bekommen-Passiv, welches im Präsens erfragt wurde. [zurück]

4 Es ist anzumerken, dass die Ausweichstrategien nicht nur für die Befragung mittels schriftlicher Fragebogen ein Problem darstellen. Z.B. wollte bei der mündlichen Befragung im Lötschental mein ansonsten guter Informant den Satz 'die Brücke wird heuer nicht wieder aufgebaut' nur durch das Aktiv übersetzen. Er wollte zudem das Passiv selbst auf Suggestion hin nicht akzeptieren. Cf. 4.2.3 und Karte IV zur Konzentration der Aktiv-Antworten im Wallis. [zurück]

5 Zudem habe ich in Gressoney und Issime, zwei Walserorten in Italien südlich des Monte Rosa, in mündlicher Befragung Passivformen mit 'gehen' als Auxiliar erhalten. Eine Untersuchung zu deren Ursprung steht noch aus. [zurück]

6 Im Folgenden werden Typen des Auxiliars oder von Strukturen durch die jeweilige standarddeutsche Form in Anführungszeichen dargestellt, z.B. 'werden', 'kommen', 'sie ist verkauft'. Damit sind alle dialektalen Lautungen gemeint, die zu erfassen bei einem Gesamtüberblick unmöglich ist. Beim Bekommen-Passiv sind unter 'bekommen' nicht nur die verschiedenen Lautungen, sondern auch die verschiedenen Lexeme (kriegen, überkommen, bekommen) zusammengefasst. Notationen der Passivsätze und der Ausweichstrukturen durch die Gewährspersonen in einzelnen Dialekten sind in ihrer Originalschreibung im Anhang zu finden. [zurück]

7 Daneben wurden gewisse Phänomene mehrfach und mit verschiedenen Frageformen abgefragt. [zurück]

8 Ohne Kongruenz sind es die Orte Muotathal SZ, Schwanden GL und Rümlang ZH. Kongruenz verzeichnen wir im Wallis an den Orten Visp und Agarn, in Graubünden Rheinwald und Küblis (beides Walserorte), im Berner Oberland Mürren, Wengen, Habkern, Meiringen und Gadmen, im Kanton Glarus Schwanden. [zurück]

9 Interessant wäre auch zu erforschen und mit Karte I zu vergleichen, welche areale Ausdehnung 'Pfarrer/Lehrer kommen' für 'Pfarrer/Lehrer werden' hat. [zurück]

10 Ich danke Walter Haas für die Schöpfung dieses Terminus. [zurück]

11 Die Prozentzahlen werden meistens in drei Stufen eingeteilt. Diese Einteilung ist nicht fix (z.B. je ein Drittel), sondern sie variiert so, dass sich ein areales Bild ergibt, denn dieses soll ja sichtbar gemacht werden. Wenn eine bestimmte Variante als Antwort an einem Ort nicht vorkommt, steht lediglich ein kleiner Punkt, der den Ort als Befragungsort an sich ausweist. [zurück]

12 In dieses Bild der Variation im Rheintal fügt sich ein Kommentar, den eine Gewährsperson (männlich, 1934) aus Untervaz GR notiert hat: 'kommen' (ohne Flexion) sei für ihn als Kind die natürlichste Variante gewesen, aber er gebrauche heute auch 'werden', das er als natürlichste Variante bezeichnet. Des Weiteren hat eine Gewährsperson (männlich, 1920) in Jenins GR, im Rheintal, sowohl 'werden' als auch 'kommen' (ohne Kongruenz am Partizip Präteritum) angekreuzt und dazu notiert: "je nach Zeitpunkt des Verkaufs". Dieser Spur müsste nachgegangen werden, denn, wenn wirklich ein semantischer Unterschied besteht, dann würde dies bedeuten, dass die Variation auch funktional gelenkt und nicht nur von soziolinguistischen Faktoren abhängig ist. [zurück]

13 Im Detail: 1 Zermatt, 1 St. Niklaus, 1 Simplon, 2 Ferden. Die übrigen Regionen: 1 Madranertal UR, 1 Meiringen BE, 1 Mutten GR. [zurück]

14 Beispielsweise 5 von 8 Gewährspersonen in Visperterminen, 4 von 6 in Bürchen, 4 von 8 in Blatten, 5 von 12 Gewährspersonen in Ferden, 4 von 11 in Simplon-Dorf. [zurück]

15 Die Stadt Freiburg i. Ü. scheint in den verschiedensten Bereichen beim linguistischen Wandel vom Umland abzuweichen. Bei dem oben untersuchten syntaktischen Phänomen spielt die Stadt allerdings eine Vorreiterrolle, während sie bei der Vokalisierung von l und dem Rundungsverhalten nach Haas (1999: 138) "nicht führend" sei. [zurück]

16 Die Städte Brig und Visp liegen relativ nahe beieinander, befinden sich beide im Tal und haben beide Industrie. [zurück]

17 Dass Vals als kongruenzbewahrender Ort eine Ausnahme in dieser kongruenzabbauenden Ostregion bildet, kann nur teilweise an der geographisch isolierten Lage liegen, denn auch in Vals gibt es wie in den anderen Walserorten äussere Einflüsse durch Radio/Fernsehen/Internet, Tourismus, Abwanderung der jungen Einheimischen in die Städte usw. [zurück]

18 Das Zustandspassiv hebt sich durch das Vorhandensein von Kongruenz vom kongruenzlosen Perfekt ab (Bucheli Berger/Glaser 2004). [zurück]

19 'Bekommt' und 'überkommt' findet sich eher süd-westlich einer Linie Zürichsee-Walensee, 'kommt ... über' eher nord-östlich der Kantonsgrenze Bern-Aargau/Luzern/Ob-/Nidwalden, ohne südliches Graubünden. Diese Verteilung entspricht derjenigen der Verwendung als Vollverb, die im SDS V 214 für die Übersetzung von 'Ich erhalte 25 Rappen' dokumentiert ist. Für 'kriegt' erhalten wir wesentlich mehr Orte als SDS V 214 ausweist. In Uri wurde uns zwei Mal die Kombination 'bekommt ... gewaschen über' notiert (cf. Anhang 2.2 für genaue Schreibung des Belegs). [zurück]

20 Um das gesamte Areal der Umschreibung mit dem dreiwertigen Akkusativpassiv zu erhalten, müssten die Werte auf den Karten XII und XIII quasi zusammengezählt werden. [zurück]

21 Es wird die Originalnotation wiedergegeben. [zurück]

22 Es gibt insgesamt äusserst wenige selbst hingeschriebene Notationen! [zurück]

23 Es gibt insgesamt äusserst wenige selbst hingeschriebene Notationen! [zurück]

 

Literaturangaben

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Wipf, Elisa (1910): Die Mundart von Visperterminen im Wallis. Frauenfeld.

 

Anhang

1 Karten I-XV


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2 Selbständige Notationen von Passivsätzen und Ausweichstrategien durch Gewährspersonen[21]

2.1 Akkusativpassiv Frage II.9

'werden':  Nei, si isch juscht verchauft worde. (Zürich ZH) 
  Nei, si escht krat verkauft worde. (Vals GR) 
  Nei, schi ischt grad verchöüft wordu. (Visp VS) 
  Nein, si ischt grad verchöift worden. (Innertkirchen BE) 
'kommen':  Nei, schi escht krat verchaufti cho. (Vals GR) 
  Nei, schi ischd krad verchauft cho. (Vals GR) 
  Nei, schi ischt krat verchauft cho! (Safien GR) 
  Nei, schi ischt gat verchöüfti cho. (Saas-Grund VS) 
  Nei, di isch grad verchufti cho. (Giffers FR) 
  Nei, sí isch grad verchíift cho. (Giffers FR) 
Zustandspassiv:  Nei, schi isch verchöifti. (Visp VS) 
  Nei, si isch grad värchauft. (Muotathal SZ) 
Aktiv:  Nei, ma het schi grad verchöift. (Saas-Grund VS) 
  Nei, schi hent schi grad verchöift. (Visperterminen VS) 

2.2 Bekommen-Passiv/dreiwertiges Akkusativpassiv/usw.

Frage III.10

Bekommen-Passiv[22] Wenn schii dii erwütschänd kriagsch du dìr Foahrzüguswiss entzoga. (Churwalden GR) 
  Wenn si di verwütsche, chunnsch dr Fahruswiis entzogen über! (Gelterkinden BL) 
  Wenn si dee verwütsche, bechunsch du de Fahruswies entzoge! (Stüsslingen SO) 
Aktiv:  Wensch die amol verwütschend, denn nämensch diar dr uswis a wägg. (Churwalden GR) 
  Wennsch di vrwütschand, entzüchanschtr dr Fohruswis! (Churwalden GR) 
Tun-Periphrase:  Wenn's di verwütsche, düess dr dr Fahruswis äweg neh! (Gelterkinden BL) 
  Wennsch di verwitschund, dienschter der Fahrüswies entzieh. (Saas-Grund VS) 
Werden-Passiv:  Wenn sy dy verwütsche, wird dir der Fahruswyys entzooge! (Gelterkinden BL) 

Frage III.26

Bekommen-Passiv[23] Dr Kevin berchunt grad d'Haar gwäsche. (Davos GR) 
  Der Kevin kriegt grad d'Haar gwäschni. (Mörel VS) 
  De Kevin kùnnt graad d'Haar gwäschni ùber. (Freiburg/Fribourg FR) 
  De Kevin bechunnt grad ds Haar gwäsches. (Freiburg/Fribourg FR) 
  Der Kevin verchunt gaad d'Haar gwäschni. (Brig VS) 
  De Kevin bechunt grad d'Haar gwäsche über. (Altdorf UR) 
Werden-Passiv:  Em/Im Kevin wärde grad d'Hoor gwäsche. (Stüsslingen SO) 
Kommen-Passiv:  Dam Kevin choma krat Hòòr gwäscha. (Safien GR) 
  Im Kevin chunnt grad z Haar gwäsche. (Giffers FR) 
  Dem Kevin chäme grad d Haar gwäschni. (Überstorf FR) 
'lassen':  Der Kevin muess sich grad d Hoor la wäsche. (Gelterkinden BL) 
Nominalisierung:  Da Kevin uberchut chat an Hoor wäsch. (Avers GR) 
Aktiv:  Em Kevin wäsche mr grad d'Hoor. (Gelterkinden BL) 
Tun-Periphrase:  De Kevin duet grad d Hoor wäsche. (Stüsslingen SO) 
  D'Muetter tuet em Kevin grad d'Hoor wäsche. (Gelterkinden BL) 
  Dum Kevin tiensch grad d Haar wäschu. (Saas-Grund VS)