Vorwort

Erla Hallsteinsdóttir (Odense) / Ken Farø (Kopenhagen)


Neue theoretische und methodische Ansätze in der Phraselogieforschung

"Vermutlich wäre es irrig, die Phraseologismen nur als Grenzfall zu behandeln" (Burger 1973: 8)

Phraseologismen sind ganz normale Wortschatzeinheiten. Diese Auffassung setzt sich in der Phraseologieforschung zwar schleppend, aber trotzdem immer mehr durch und sie hat wichtige theoretische und methodische Konsequenzen. Auch wir sind dieser Meinung: Unserem Ausgangspunkt nach sind Phraseologismen darüber hinaus bilaterale Sprachzeichen, die wie Einzelwörter aus einer Inhalts- und einer Ausdrucksseite bestehen. Sie unterscheiden sich aber von Wörtern durch ihre (graphisch disjunkte) Polylexikalität. Wörter sind monolexikalisch und bilden daher graphisch eine Einheit - sie sind Monolexeme [1]. Im Gegensatz zu frei gebildeten Sätzen [2] sind Phraseologismen lexikalisiert, d. h. sie sind Einheiten im mentalen Lexikon der Sprecher und werden in der Sprachverwendung reproduziert. Phraseologismen können allerdings in der Regel nicht an ihrer äußeren Form als lexikalisierte Einheiten erkannt werden, denn formal gibt es nur selten einen Unterschied (i. e. morphosyntaktische Abweichungen) zu frei gebildeten Sätzen (cf. Jakobsen 2005: 150). Gerade dieses Merkmal: ihre "semiotische Unauffälligkeit" macht sie zum Problem für "phraseologische Ignoranten" [3], die dazu tendieren, in den Phraseologismen eine besonders starke kommunikative Intention zu sehen, die nicht unbedingt und meistens tatsächlich nicht vorhanden ist (cf. Farø 2006).

Die Auffassung von Phraseologismen als ganz normalen Sprachzeichen erfordert einen holistisch-integrativen Zugang, in dem auch Beziehungen von Phraseologismen zu anderen Sprachzeichen erfasst werden können; eine umfassende Erforschung und Beschreibung der Phraseologie kann nur in Relation zu anderen sprachlichen Einheiten erfolgen. Für die sprachwissenschaftlich orientierte Phraseologie bedeutet dies eine Integration der Phraseologie in den weiten Kontext anderer sprachwissenschaftlicher Disziplinen [4]. Eine solche Integration erfordert zunächst die Klärung einer Reihe von theoretisch-methodischen Prämissen. Einige davon sollen hier kurz berührt werden.

In den letzten Jahren hat es eine Reihe neuerer Forschungsansätze gegeben, die einerseits bewährte Methodik anderer Disziplinen auf die Phraseologieforschung übertragen und die andererseits die Grenzen der traditionellen Phraseologie durchbrechen und neu definieren wollen. Einer davon ist die korpuslinguistische Methodik. Die Einbeziehung von empirischen Sprachdaten als Grundlage für die Phraseologieforschung gehört inzwischen zur Tagesordnung.

Der Vorteil empirischer Korpusdaten ist, dass sie eine Herangehensweise an Sprachdaten ermöglichen, die - soweit dies möglich ist [5] - "ohne Vorannahmen" über deren Beschaffenheit ist (cf. Storjohann 2006: 64). Somit wäre durch Korpusdaten eine intersubjektive - i. e. objektivere - Sprachbeschreibung gewährleistet, die, in Abhängigkeit von Größe und Zusammenstellung des Korpus, dem tatsächlichen Sprachgebrauch entspricht.

Die Ergebnisse bisheriger Arbeiten mit Korpusdaten zeigen, dass der Feinheitsgrad der Analyse einen großen Einfluss auf das Ergebnis derselben haben kann, v.a. in Arbeiten, die sich mit der semantischen Beschreibung von Phraseologismen, Äquivalenzfragen u. ä. beschäftigen (cf. Farø 2006). Dass die Granularität einer Untersuchung eine wichtige Rolle spielt und dass unterschiedliche Untersuchungsziele mitunter auch verschiedene Granularitätsgrade erfordern können, sollte in der zukünftigen Phraseologieforschung mehr reflektiert werden.

Stathi weist in ihrem Beitrag in diesem Heft darauf hin, dass die Korpuslinguistik [6] die traditionelle sprachwissenschaftliche Dichotomie zwischen Kompetenz und Performanz verwirft. Sie thematisiert damit einen Berührungspunkt zum zunehmenden Bewusstsein für eine notwendige Differenzierung zwischen der Phraseologie im abstrakten Sprachsystem, in der korpusbasierenden Sprachverwendung und in der mentalen Sprachverarbeitung der Sprecher (cf. Häcki Buhofer 1993: 148).

Unsere Untersuchungen zur Verwendung von Phraseologismen in Texten und zur mentalen Verarbeitung von Phraseologismen bestätigen, dass es einen großen Unterschied zwischen den Eigenschaften der jeweils gewonnenen Sprachdaten gibt [7]. Die Konsequenz, die wir daraus ziehen, ist eine klare theoretisch-methodische Unterscheidung zwischen Daten aus der Sprachverwendung und psycholinguistisch-intro-/multispektiven Daten.

Wir gehen noch einen Schritt weiter und ersetzen die traditionellen dichotomischen Modelle (langue vs. parole bzw. Kompetenz vs. Performanz) durch ein trichotomisches Beschreibungsmodell, mit dem methodisch in Relation zum jeweiligen Untersuchungsziel streng zwischen (1) Daten aus der Sprachverwendung (Lesarten- bzw. Bedeutungsrealisierung) und (2) mentalen Sprecherdaten (Lesarten- bzw. Bedeutungsverarbeitung) einerseits, und (3) dem aus diesen beiden Bereichen zu abstrahierenden virtuellen Sprachsystem (Lesarten- bzw. Bedeutungspotenzial) andererseits unterschieden werden kann (cf. dazu Hallsteinsdóttir im Druck).

Phraseologismen als Sprachzeichen werden im Sprachsystem als Einheiten aufgefasst und diese Einheiten sind prinzipiell arbiträr - wie alle anderen Sprachzeichen auch (cf. Farø 2005, 2006 und im Druck, sowie den Beitrag in diesem Heft). Die Auffassung von Phraseologismen als sprachsystematisch arbiträren Einheiten besagt nicht notwendigerweise, wie häufig von Vertretern der kognitiven Linguistik angenommen und als Makel einer "traditionellen" [8] Auffassung angemerkt (cf. beispielhaft Raymond W. Gibbs Jr. in Cacciari/Tabosse 1993: 57 ff.), dass diese auch immer im mentalen Lexikon als Einheiten - als "mehr oder weniger komplexe Wörter" (Hass 2006: 6) - verarbeitet werden müssen. Die Möglichkeiten einer kompositionellen Verarbeitung, die schon vielfach beschrieben wurden (cf. z. B. Nunberg/Sag/Wasow 1994), schließen u.E. eine sprachsystematische Einheit nicht aus (cf. op.cit.: 498 ff.). Sie sagt auch nicht, dass die Erforschung von Ikonizität, Motivation und anderen Phänomenen in der Phraseologie nicht weiterhin betrieben werden sollte. Sie besagt nur, dass das Idiom von einer arbiträr-soziologischen Gebrauchsregel gesteuert wird (und nicht von der Ausdrucksseite her), die prinzipiell in jede Richtung gehen kann und die sich immer wieder in den konkreten phraseologischen Sprachunterschieden offenbart. Dass man den jeweiligen Zustand selbstverständlich immer post quem im Bezug auf die Ausdrucksseite nachvollziehen und analysieren kann, ändert nichts daran, dass der grundlegende Mechanismus arbiträr ist. Sonst wären die vielen bereits dokumentierten, durchaus "unlogischen" Sprachdivergenzen in diesem Bereich undenkbar. Es sind wohl auch nicht ohne Grund interlingual-diachron arbeitende Linguisten, die an diesem Axiom festhalten möchten (auch Saussure war ein solcher).

Die prinzipielle Arbitrarität von Idiomen besagt, dass die Verbindung von signifiant und signifié keine zwingende, notwendige, sondern eine rein konventionelle ist. Bereits Burger (1973) und Rothkegel (1973) haben dies angemerkt, es scheint aber unter einem heute eher gemeinsprachlichen Gebrauch von "Arbitrarität" z. T. in Vergessenheit geraten zu sein. Methodisch gesehen ist die sprachsystematische Arbitrarität also eine grundsätzliche und äußerst notwendige Annahme, die es ermöglicht, den Untersuchungsgegenstand Phraseologie ohne (subjektive) Vorannahmen über die/eine motivierte Relation zwischen Inhalt und Ausdruck zu betrachten. Damit wird nicht abgestritten, dass eventuell retrospektiv-empirisch in der Sprachverwendung (in Korpora) eine Art Motivierung/Ikonizität oder psycholinguistisch gesehen eine Motivierbarkeit festgestellt werden kann, die teilweise konventionelle Züge annehmen kann (cf. Hümmer in diesem Heft).

Durch ihre Konstitution als "Zeichen der sekundären Nomination" (cf. Wotjak 1992: 33) - sie bestehen aus Komponenten, die als selbstständige Wörter schon eigene Bedeutungen (gehabt) haben -, haben Phraseologismen [9] mindestens zwei potenzielle Lesarten [10], eine konventionelle einheitliche phraseologische Lesart und eine komponentenbasierte kompositionelle ("wörtliche") Lesart, die durch die Addition der Bedeutung(en) der einzelnen Komponenten konstruiert wird. Phraseologismen sind ihrem Wesen nach als lexikalisierte Mehrwortverbindungen potenziell mehrdeutig.

Diese Prämisse sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie häufig die potenziellen Lesarten vorkommen und inwieweit sie sich ähneln oder überlappen. Es handelt sich aber um eine wichtige methodische Voraussetzung, um davon ausgehend die Art und Realisierungsweise der Lesarten bzw. die Unterschiede derselben bei unterschiedlichen Arten von Mehrwortverbindungen zu untersuchen und somit eine Kategorisierung nach der Art der Bedeutungskonstitution zu ermöglichen.

Eine weitere Prämisse, die mit der potenziellen Mehrdeutigkeit eng zusammenhängt, ist der Anschluss an die Theorie der graduellen Salienz von Bedeutungen. Demnach gibt es weder eine prinzipielle Aktivierung der wörtlichen Bedeutung noch eine prinzipielle Aktivierung der phraseologischen Bedeutung im mentalen Lexikon der Sprecher in der Sprachverarbeitung (cf. z. B. diverse Beiträge in Cacciari/Tabossi 1993), sondern die geläufigste Bedeutung wird zuerst aktiviert. Wenn sie nicht passt, werden andere Bedeutungen konstruiert (cf. Giora 1997, 1999). Mit dieser Theorie kann sowohl die Dominanz der phraseologischen Bedeutung im Korpus (das seltene Vorkommen wörtlicher Lesarten), als auch die Unmöglichkeit einer rein wörtlichen Verwendung geläufiger Phraseologismen (eine geläufige phraseologische Bedeutung wird im mentalen Lexikon immer automatisch aktiviert) erklärt werden.

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Die in diesem Themenheft vorgestellten Forschungansätze sind vom seit einigen Jahren anhaltenden generellen Trend zum Einsatz von Computern als Hilfsmittel und Werkzeug in der Phraseologie geprägt. Dieser Trend geht Hand in Hand mit einer ausgeprägten empirischen Phase, in der sich seit etwa 20 Jahren die Phraseologie als Disziplin befindet (cf. Häcki Buhofer 1995). So bilden elektronische Korpora die empirische Grundlage für Untersuchungen der Phraseologie im Sprachgebrauch und sie liefern die Basis für die angewandte Arbeit an Wörterbüchern und Lehrmaterialien, empirische Daten zum Wissen der Sprecher über Phraseologie werden mittels Fragebögen gesammelt, Analysen von Sprachdaten sowohl aus Korpora als auch aus Befragungen werden z. T. automatisiert mit dem Computer durchgeführt, das Internet als Kommunikationsmedium ermöglicht internationale Zusammenarbeiten und grenzunabhängige Forschungsprojekte und - last, not least - das Internet dient als Publikationsmedium sowohl für angewandte Produkte als auch für die theoretischen Ergebnisse der Forschungsarbeit.

In den ersten Beiträgen geht es u. a. um die Klärung grundsätzlicher theoretischer Fragen und die Entwicklung neuer Beschreibungsmethoden auf der Grundlage empirischer Sprachdaten aus Korpora.

Jan-Philip Soehn (Tübingen) charakterisiert Eigenschaften, durch die sich eine Wortverbindung als Idiom konstituiert. Er stellt ein auf der HPSG basierendes Analyseverfahren vor, das Lesarten von Phraseologismen als vorgefertigte - lizensierte - semantische Muster zu bestimmen und beschreiben ermöglicht.

Christiane Hümmer (Potsdam) diskutiert in ihrem Beitrag traditionelle Merkmale von Phraseologismen und Methoden, diese auf der Grundlage von empirischen Sprachdaten neu zu charakterisieren. Sie präsentiert ein Analyseverfahren, mit dem bestimmte Eigenschaften von Idiomen wie Motiviertheit, Festigkeit und Expressivität auf der Basis von Korpusdaten untersucht und beschrieben werden können.

Ken Farø (Kopenhagen) diskutiert die Relevanz von drei semiotischen Begriffen, Ikonographie, Ikonizität und Ikonizismus, für die Phraseologieforschung und unterstreicht die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen ihnen. Er argumentiert dafür, dass jeder dieser Begriffe eine eigene kontextuell adäquate Perspektive darstellt, die auch in der Phraseologie als solche erkannt werden muss.

Ekaterini Stathi (Berlin) stellt ein Konzept für computerlinguistische Untersuchungen zur Phraseologie als Sprachverwendung vor. Sie beschreibt die Möglichkeiten der Korpuslinguistik, Sprache im tatsächlichen Gebrauch zu untersuchen und diskutiert grundlegende Begriffe wie Norm, Pattern und das Kompositionalitätsprinzip aus einer korpuslinguistischen Perspektive. Am Beispiel von ins Gras beißen wird eine korpusbasierte Bedeutungsanalyse durchgeführt, in der die Bedeutungen des Idioms erfasst und die idiominternen Bedeutungsbeziehungen als Netzwerk dargestellt werden.

In den letzten 15 Jahren sind häufig uneinheitliche und unpräzise empirische Analyseverfahren in der Phraseologieforschung eingesetzt worden, die z. T. zu kontroversen Ergebnissen geführt haben. In ihrem Beitrag gibt Britta Juska-Bacher (Zürich) eine Einführung in grundlegende statistische Verfahren, und eine Gebrauchsanleitung, wie diese Verfahren produktiv in der Phraseologieforschung eingesetzt werden können.

Erla Hallsteinsdóttir (Odense), Monika Šajánková (Bratislava) und Uwe Quasthoff (Leipzig) werten zwei unabhängig voneinander durchgeführte Untersuchungen zur Frequenz von Phraseologismen im Textkorpus und zu ihrer Geläufigkeit bei Sprechern aus. Als Ergebnis der Auswertung präsentieren sie eine Liste mit hochfrequenten und geläufigen deutschen Phraseologismen, die sie als einen ersten Vorschlag für ein phraseologisches Optimum für die Fremdsprache Deutsch zur Diskussion stellen.

Von einem phraseodidaktischen Standpunkt aus diskutiert Vida Jesenšek (Maribor) die Möglichkeiten und Probleme der Integration von Phraseologie in den Fremdsprachenunterricht. Am Beispiel des Forschungsprojekts EPHRAS beschreibt sie verschiedene Aspekte der Entwicklung von mehrsprachigen phraseologischen Lehr- und Lernmaterialien, u. a. die Kriterien für die Auswahl der zu vermittelnden Phraseologismen und die phraseodidaktische Aufbereitung anhand eines Mehrebenen-Matrixmodells. Als ein Ergebnis des Projekts wird eine mehrsprachige Phraseologiedatenbank für Fremdsprachenlerner realisiert.

Antje Heine (Leipzig/Helsinki) stellt ein lexikographisches Konzept für die Erfassung deutscher nicht- und schwach idiomatischer verbnominaler Wortverbindungen vor. Sie entwickelt ein Raster für die korpusbasierte Beschreibung solcher Wortverbindungen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Fremdsprachenlernern. Ihr Konzept wird sie im Rahmen eines deutsch-finnischen Wörterbuchprojekts in die Praxis umsetzen. Sie betont die Notwendigkeit einer ausführlichen einsprachigen Beschreibung als Basis für die interlinguale Beschreibung und für die Integration der idiomatischen Wortverbindungen in allgemeinsprachliche Wörterbücher.

Von der Aarhuser Schule der funktionalistischen Lexikographie ausgehend präsentieren Richard Almind, Henning Bergenholtz und Vibeke Vrang (Aarhus) die theoretisch-methodischen Grundlagen eines einsprachigen dänischen Internet-Idiomwörterbuchs. In ihrer Diskussion weisen sie auf den wichtigen Unterschied zwischen Lexikographie und Lexikologie hin. Die funktionalistische Lexikographie stellt die Bedürfnisse der Wörterbuchbenutzer in den Mittelpunkt. Wörterbücher sind Werkzeuge, die ihren Benutzern z. B. bei konkreten Rezeptions- und Produktionsproblemen Hilfe leisten sollen. Neben zwei Suchprinzipien: "intelligenten" Suchalgorithmen, die sich auf die Benutzer einstellen und einer neuartigen intuitiv-assoziativen Suche nach Schlüsselwörtern, stellen sie ein Register für die lexikographische Erfassung dänischer Phraseologismen vor.

Ebenfalls im Zeichen der lexikographisch-funktionalistischen Schule diskutiert Patrick Leroyer (Aarhus) die Methodik bei der Integration von Idiomen in konkreten bilingualen Wörterbuchprojekten innerhalb der Fachlexikographie. Er beschreibt das generell problematische Zusammenspiel von Phraseologie (als sprachwissenschaftliche Sub-Disziplin) und Lexikographie (als eigenständige Disziplin) und die Problematik der Integration phraseologischer Forschungsergebnisse in der Lexikographie. Er plädiert für eine funktional orientierte Handhabung von Phraseologismen und schlägt vor, die Phraseologie prinzipiell in Relation zu den Bedürfnissen der vorgesehenen Wörterbuchbenutzer zu behandeln.

Elisabeth Piirainen (Steinfurt-Borghorst) stellt zwei großangelegte Forschungsprojekte vor, in denen Daten mittels Fragebögen erfasst werden. Sie beschreibt einerseits eine Untersuchung der geographischen Verteilung von Phraseologismen innerhalb von Deutschland und andererseits stellt sie ein international angelegtes Forschungsprojekt vor, in dem die weltweite Verbreitung von ausgewählten Idiomen untersucht wird.

Hieß es 1981 noch, die Phraseologie sei "noch eine sehr junge Wissenschaft und außerhalb der Sowjetunion nur in Ansätzen ausgebildet" (Burger et al. 1982: XIII), so wird heute allgemein von einer etablierten Forschungsdisziplin gesprochen. Dies bekräftigt auch die Publikation des HSK-Bandes zur Phraseologie, die für 2006 angekündigt ist (Burger et al. im Druck; für einen Überblick über die germanistische Forschungsgeschichte der Phraseologie in den letzten dreißig Jahren cf. Burger 2005). Die Beiträge dieses Heftes geben einen spannenden - in erster Linie sprachwissenschaftlich geprägten - Einblick in diese Disziplin [11]. Sie zeigen einerseits, dass sich die Phraseologie theoretisch-methodisch noch in einer regen Entwicklung befindet, in der noch viele Fragen ungeklärt sind bzw. neu aufgeworfen werden und andererseits liefern sie den Beweis dafür, dass die theoretisch-methodischen Ergebnisse der Forschung - allen Unkenrufen zum Trotz - schon in einer fruchtbaren Symbiose von Theorie und Praxis in angewandten Projekten umgesetzt werden.

 

Wir möchten den Autoren und den Herausgebern von Linguistik online für ihren Einsatz herzlich danken.

 

Anmerkungen

1 Es ist klar, dass dies eine Fokussierung auf das Schriftbild voraussetzt. Phonologische und intonatorische Fragen sind in diesem Zusammenhang nicht unser Anliegen, obwohl sie natürlich eine mindestens genau so wichtige Perspektive darstellen. [zurück]

2 Dieser Gegensatz ist aber eher für "phraseologische Ignoranten" (z. B. Kinder und Lerner) relevant und sollte nicht überfokussiert werden, denn er folgt schon aus dem Wortschatzstatus, der das primäre Merkmal von Phraseologismen ist. Systematisch ist er recht unwesentlich. [zurück]

3 Selbstverständlich im nicht-wertenden Sinn. [zurück]

4 Da die Phraseologie in der allgemeinen Sprachwissenschaft nach wie vor nicht vollständig integriert ist (cf. Feilke 1996), wäre ein alternatives Verfahren die Integration der Sprachwissenschaft in die Phraseologie. [zurück]

5 Eine vollständigeLoslösung vom linguistischen Vorwissen wird kaum möglich sein. [zurück]

6 Zur anwendungsorientieren Korpuslinguistik cf. z. B. Bergenholtz (1996) und Storjohann (2006). [zurück]

7 Eine korpusbasierte Analyse der Lesarten von Idiomen in Deutscher Wortschatz hat z. B. gezeigt, dass die lexikalisierte idiomatische Bedeutung in der Regel in der Sprachverwendung die dominante ist; "wörtliche" Lesarten kommen nur sehr selten vor (cf. Hallsteinsdóttir im Druck). Trotzdem ist das Potenzial für wörtliche bzw. kompositionelle Lesarten in der Sprachverarbeitung, d. h. im mentalen Lexikon der Sprecher, latent vorhanden. Dieses Potenzial ermöglicht u. a. das gezielte Spielen mit den Lesarten und es ist die Grundlage für einige Strategien zur Bedeutungserschließung bei unbekannten Phraseologismen (cf. Hallsteinsdóttir 2001). [zurück]

8 Was die "traditionelle" Auffassung in der Phraseologieforschung ist, ist eine offene Frage (zum Topos "traditional view" s. Dorbrovol'skij/Piirainen (2005:32)). U. E. ist es eher die Vorstellung von Phraseologismen als sprachlichen Besonderheiten, d. h. die nicht-integrative Auffassung, die dieses Prädikat verdient. [zurück]

9 Idiome (i. e. S.) haben sie in der Tat per definitionem (cf. Farø 2006). [zurück]

10 Lesarten werden hier nach Burger (1998: 59) als "die möglichen semantischen Realisationen einer bestimmten Wortverbindung" definiert. [zurück]

11 Der Phraseologie wird aufgrund ihrer Beziehungen zu anderen Disziplinen: Didaktik, Translatologie, Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaft, Volkskunde etc., häufig ein inhärenter interdisziplinärer Charakter zugesprochen (cf. Burger et al. 1982: 6 ff.). [zurück]

 

Literaturangaben

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