Semantische Besonderheiten phraseologischer Ausdrücke – korpusbasierte Analyse

Christiane Hümmer (Potsdam)



1 Einleitung

In der Phraseologieforschung werden Phraseologismen als lexikalische Einheiten betrachtet, die sich durch eine Reihe von semantischen und morphosyntaktischen Besonderheiten von freien Wortverbindungen einerseits und andererseits von Einzellexemen unterscheiden. Zentrale Vertreter dieser Klasse von Lexikoneinheiten zeichnen sich durch Vorhandensein der Merkmale Idiomatizität und Expressivität sowie morphosyntaktische Festigkeit aus, bei phraseologischen Einheiten, die eher der Peripherie dieser Klassen angehören, sind einzelne dieser Merkmale nicht oder in abgeschwächtem Grade vorhanden (cf. z. B. Hessky 2000). Ein weiteres Merkmal, das im Zusammenhang mit phraseologischen Einheiten diskutiert wird, ist ihr mehr oder weniger hoher Grad an Motiviertheit. Alle diese Eigenschaften werden im Allgemeinen als graduell betrachtet.

Mit dem Aufkommen großer digitaler Sprachkorpora und der damit verbundenen Verfügbarkeit systematisch zusammengestellter und linguistisch aufbereiteter sprachlicher Verwendungsdaten in den letzten Jahren ist in verstärktem Maße versucht worden, linguistische Aussagen auf eine breite empirische Basis zu gründen. Im vorliegenden Artikel soll daher ausgelotet werden, welche Möglichkeiten der empirischen Operationalisierung von Aussagen über die phraseologischen Einheiten zugeschriebenen besonderen Eigenschaften ein korpusbasierter Ansatz bietet. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf die semantischen Besonderheiten, d. h. auf die Entwicklung einer Methode zur korpusbasierten Feststellung des Grades an Idiomatizität, Motiviertheit und Expressivität.

Im ersten Teil des vorliegenden Artikels wird auf jede der genannten Eigenschaften eingegangen, die Forschungslage kurz charakterisiert sowie eine Methode beschrieben, die diese Eigenschaften mit beobachtbaren Phänomenen in den Verwendungsdaten in Verbindung bringt. Im zweiten Teil des Artikels werden anhand von drei Fallstudien Anwendung und mögliche Ergebnisse der skizzierten Methode diskutiert.

 

2 Vorannahmen aus der Phraseologieforschung und korpusbasierte Methode

2.1 Idiomatizität

Unter Idiomatizität wird in der Phraseologieforschung ein irreguläres Verhältnis zwischen den Bedeutungen der Teile eines komplexen Ausdrucks und der Bedeutung des Ganzen verstanden (cf. Fleischer 1997). Basis dieser Begriffsdefinition ist die Annahme, dass die Bedeutung komplexer sprachlicher Ausdrücke sich im Regelfall kompositional, d. h. aufgrund der Bedeutung der ihn konstituierenden lexikalischen Einheiten sowie ihrer semantischen Kombinatorik und den Regeln der Grammatik ergibt. Idiomatizität wird allgemein als eine graduelle Eigenschaft verstanden. Extrem stark idiomatisch ist ein Mehrwortausdruck, wenn seine Komponenten an der Konstitution der Gesamtbedeutung überhaupt nicht beteiligt sind. Zuluaga (1992) vergleicht in diesem Zusammenhang die Funktion der den komplexen Ausdruck bildenden Lexeme mit der von Phonemen innerhalb einer Lautsequenz ("signos diacríticos - como los fonemas", Zuluaga 1992: 127). In ähnlicher Weise äußert sich auch Hessky (1992). Dobrovol'skij weist darauf hin, dass im Falle der Annahme einer vollständig opaken Semantik Idiome praktisch mit "long words" (2000: 114) gleichgesetzt werden.

Aufgrund der Erkenntnis jedoch, dass diese Sichtweise für die Charakterisierung aller idiomatischen Ausdrücke wohl zu kurz greift, da in den meisten Fällen die Bedeutung der Komponenten "nicht gänzlich 'verschwunden'", sondern "in unterschiedlicher Weise an der Verwendung des Ausdrucks beteiligt" ist (Burger 2003: 56), wurden die Begriffe der semantischen Autonomie einzelner Komponenten, der semantischen Teilbarkeit bei phraseologischen Ausdrücken bzw. der phraseologischen Gebundenheit von Komponentenbedeutungen entwickelt (cf. u. a. Keil 1997, Dobrovol'skij 2000, Burger 2003). Diese Begriffe hängen eng miteinander zusammen. Semantisch autonom ist eine Komponente, wenn sie einen identifizierbaren Eigenbeitrag zur Gesamtbedeutung des Ausdrucks leistet, d. h. wenn einer Idiomkomponente innerhalb des komplexen Ausdrucks eine eigenständige Bedeutung zukommt. Eine phraseologisch gebundene Bedeutung liegt dann vor, wenn die semantisch autonome Komponente im Idiom eine Bedeutung trägt, die sie in anderen Kontexten - also unabhängig vom komplexen Ausdruck − nicht hat. Semantisch teilbar schließlich sind nach allgemeinem Verständnis "[...] solche Idiome, deren Konstituenten als Träger selbständiger Bedeutungen empfunden werden, d. h. die semantische Struktur dieser Idiome läßt sich in einer solchen Weise zergliedern, daß einzelne Konstituenten mit bestimmten Teilen der semantischen Struktur homomorph korrespondieren." (Dobrovol'skij 2000: 116). Ein (vollständig oder teilweise) semantisch teilbarer phraseologischer Ausdruck ist also vollständig oder teilweise aus semantisch autonomen Komponenten aufgebaut, deren autonome Bedeutungen phraseologisch gebunden sein können.

Das Konzept der Teilbarkeit wird oft als die Umkehrung des Konzepts der Kompositionalität verstanden, da die Teilbarkeit von der Gesamtbedeutung ausgehend den Komponenten Teile dieser Gesamtbedeutung zuordnet, während Kompositionalität von den Komponentenbedeutungen ausgehend das Zustandekommen der Gesamtbedeutung betrachtet. Der Begriff Teilbarkeit impliziert dabei wegen seiner Bildung mit Hilfe des Suffixes -bar die Möglichkeit der Zuweisung autonomer Bedeutung. Im vorliegenden Artikel soll hingegen anhand der Korpusdaten nachgewiesen werden, dass die Zuweisungen autonomer Bedeutungen an Idiomkomponenten bei teilbaren Idiomen bzw. bei solchen, die eine oder mehrere semantisch autonome Komponenten enthalten, nicht nur eine Möglichkeit darstellen. Dadurch verschwindet die klare Unterscheidung von Teilbarkeit (top down) und Kompositionalität (bottom up). Der vorliegende Artikel liefert damit zusätzliche Evidenz für die von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern postulierte Kompositionalität auf der Ebene der autonomen Komponentenbedeutungen. Keil etwa nennt diesen Typ von phraseologischen Ausdrücken "übertragen-kompositionelle Phraseologismen" (1997: 102; cf. auch Nunberg/Sag/Wasow 1994).

Eine Annäherung an das Problem der Idiomatizität über Gebrauchsdaten ist auf der Basis des referierten Konzepts der semantischen Autonomie einzelner Komponenten bzw. der phraseologisch gebundenen Bedeutung möglich. Geht man davon aus, dass ein hoher Grad an Idiomatizität sich dadurch auszeichnet, dass die Teile des Ausdrucks am Zustandekommen der Gesamtbedeutung nicht beteiligt sind, dann kann die Feststellung von semantischer Autonomie, also eines eigenständigen Beitrags einer Komponente zum Zustandekommen der Gesamtbedeutung als Hinweis auf einen geringeren Grad an Idiomatizität gewertet werden.

In der Literatur ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass bestimmte Formen der Transformierbarkeit und Modifizierbarkeit der festen Idiomstruktur als Indizien dafür gewertet werden können, dass den betroffenen Idiomkomponenten eine identifizierbare eigenständige Funktion im komplexen Ausdruck zukommt, dass sie also einen autonomen Beitrag zur Gesamtbedeutung des Ausdrucks leisten (cf. Keil 1997; Römer/Müller 2003). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden Korpusdaten für die zu untersuchenden phraseologischen Einheiten nach dem Vorkommen solcher Indizien für semantische Autonomie durchsucht. Zusätzlich zu den in der Literatur immer wieder genannten Kriterien Attribution durch adjektivische Attribute, Genitvphrasen und Relativsätze, Topikalisierung, Passivierung, pronominale Wiederaufnahme und Erfragung einzelner Idiomkomponenten (cf. z. B. Gibbs/Nayak 1989, Nunberg/Sag/Wasow 1994, Keil 1997) werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung außerdem noch weitere Kontextmerkmale in die Überlegungen mit einbezogen: Für relevant erachtet werden bestimmte Fälle von Komponentensubstitution, syntaktisch und/oder semantisch zum Zielausdruck parallele Kontextstrukturen sowie alle Formen der anaphorischen und kataphorischen Referenzen zwischen einzelnen Komponenten der phraseologischen Einheit und Elementen des Kontexts. Insgesamt ergibt sich also folgendes Inventar von Phänomenen, die auf semantische Autonomie einzelner Komponenten hindeuten:

Attribute:
 
(1) Gegen einen Denker wie Dostojewski, aus dem doch nur "die Konventionalität des religiös inspirierten Zukunftsmenschen" spricht, verkündet der anscheinend mit allen thanatologischen Wassern gewaschene Bohrer seine Osterbotschaft: "Der Tod ist der Beginn des Nichts."
(Frankfurter Allgemeine 26.03.1997, S. 5)

Relativsätze:
 
(2) Dann müssen wir alle nicht um Deutschland fürchten: Denn es geht darum, Standpunkte zu wechseln und nicht gleich Standorte. Und ich rufe nach den jungen, pragmatischen Leuten in beiden Verbänden. Leute, die den Boden noch sehen, auf dem sie mit beiden Füßen stehen.
(die tageszeitung 02.03.1995, S. 10)

Topikalisierung (im zitierten Beispiel zusätzlich mit Numerustransformation):
 
(3) Eine kleine Rempelei − wie die Deutschen so sind − bringt die schöne Spanierin derart zu Fall, daß sie sich eines ihrer zarten Beine bricht. Fürderhin erstrahlt es in unschuldigstem weißen Gips. Ganz anders die Dame, Paloma, die der schöne Inhalt ist. Faustdick hat sie es hinter dem Ohr, so müssen wir einen Film lang glauben − gerade so wie der "Bruder" genannte Macho-Typ, der einen teuflischen Plan ausheckt, als er von einer drei Millionen schweren Lebensversicherung des neuen Verehrers erfährt.
(Süddeutsche Zeitung 14.11.1995, S. 20)

Passivtransformation (sofern sie feste Idiomkomponenten betrifft):
 
(4) "Kohldampf wird diesmal nicht geschoben!"
(Fleischer 1997: 50)

Fragesatztransformation:
 
(5) "Was für einen Bären hat sie Dir eigentlich aufgebunden?"
(Keil 1997: 85)

Anaphorische Referenzen:
 
(6) So traten die Kanzlerberater einen begrenzten Rückzug an und schafften wenigstens das Dilemma beiseite, das darin bestand, daß beide Veranstaltungen zur gleichen Uhrzeit beginnen sollten. Kohl verschob seinen Termin auf 20 Uhr, Herzog sprach eine Stunde vorher. Damit hatten die Journalisten, die auf beiden Hochzeiten tanzen wollten, Gelegenheit, von einer zur anderen zu wechseln.
(Süddeutsche Zeitung 16.01.1997, S. 23)

Parallele Kontextstrukturen:
 
(7) Nach allen Regeln der Kunst abgebrüht und mit allen Abwässern der Großstadt gewaschen, gibt er den Citoyen, der sich in der abendländischen Geistesgeschichte auskennt und die Metropolen-Mythen nur so aus dem Ärmel schüttelt.
(konkret 1998, S. 48)

Substitutionen:
 
(8) Anscheinend bekommen die Kinder das bei uns mit der Muttermilch eingetrichtert.
(die tageszeitung 05.04.1993, S. 20)

Die Annahme, dass diese Phänomene semantische Autonomie anzeigen, basiert darauf, dass bei den Transformationen und Modifikationen einzelne Idiomkomponenten sich syntaktisch wie Elemente einer freien Wortverbindung verhalten und dass diese Tatsache auch auf Parallelität zwischen dem semantischen Beitrag von Elementen fester und freier Wortverbindungen zum Gesamtausdruck hindeutet: Durch Transformationen wie Passiv und Topikalisierung werden einzelne Komponenten thematisch hervorgehoben. Im Falle von Attributionen finden ausschließlich auf eine Komponente und ihre Bedeutung innerhalb des Ausdrucks bezogene Modifikationen statt. Das zusätzliche Indiz paralleler Kontextstrukturen zeigt an, dass der komplexe Ausdruck in seiner syntaktischen und semantischen Struktur vom Sprecher wahrgenommen wird. Die semantische Parallelität gibt zusätzlich einen Hinweis auf die den einzelnen Komponenten zugewiesene Bedeutung. Auch im Falle des Beispiels der Ersetzung von einsaugen/aufsaugen durch "eintrichtern" kann ein Hinweis darauf gesehen werden, welches der spezifische und semantisch autonome Beitrag der verbalen Komponente im Idiom ist.

Die Unterscheidung in semantische Autonomie und phraseologisch gebundene Bedeutung wird auf der Basis von Korpusdaten folgendermaßen vorgenommen: Für eine gegebene semantisch autonome Komponente werden die Kontexte überprüft, in denen diese Komponente unabhängig von der festen Wendung vorkommt. Nimmt das Lexem in einigen dieser Kontexte eine ähnliche Bedeutung an wie die, die sie innerhalb des festen Ausdrucks trägt - auch wenn sich diese unabhängige Verwendung diachron gesehen aus dem festen Ausdruck heraus entwickelt hat - dann kann von phraseologischer Gebundenheit nicht gesprochen werden.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich also folgende Möglichkeit, aufgrund von Korpusdaten Grade von Idiomatizität festzustellen: Besitzen innerhalb eines komplexen Ausdrucks einzelne Komponenten semantische Autonomie, dann kann davon ausgegangen werden, dass Idiomatizität im strikten Sinne nicht in vollem Umfang gegeben ist. Der Grad an Idiomatizität verringert sich, je nachdem, ob lediglich einer, mehreren oder allen Idiomkomponenten eine identifizierbare Eigenbedeutung zukommt. Zusätzlich ist es von Relevanz, ob diese autonome Bedeutung als phraseologisch gebunden gelten kann: Ein komplexer Ausdruck, dessen Komponenten zwar autonome, aber phraseologisch gebundene Bedeutungen aufweisen, ist stärker idiomatisch als ein Ausdruck, dessen Komponenten in ihrer wendungsinternen Bedeutung auch außerhalb des Ausdrucks vorkommen. Dabei ist das Merkmal der phraseologisch gebundenen Bedeutung nicht unbedingt als dem der semantischen Autonomie im oben beschriebenen Sinne nachgeordnet zu verstehen. Auch bei Fehlen der aufgezählten Indizien kann semantische Autonomie von Komponenten aufgrund des Merkmals der phraseologischen Gebundenheit nachgewiesen werden: Kann gezeigt werden, dass eine Idiomkomponente unabhängig von diesem Ausdruck in der gleichen Bedeutung vorkommt, dann ist das ebenfalls ein Indiz für ihre semantische Autonomie innerhalb des Zielausdrucks.

2.2 Motiviertheit

Der Begriff Motiviertheit ist zunächst einmal der Gegenbegriff zu Arbitrarität (cf. Saussure 1916). Bei Einzellexemen, die weder durch Derivation noch durch Komposition zustande gekommen sind, ist nach Saussure die Verbindung von Signifikant und Signifikat arbiträr, also willkürlich. Für idiomatische phraseologische Ausdrücke hingegen wird generell eine diachrone Motiviertheit angenommen, insofern sich ihre Bedeutung "auf irgendeine Weise aus der literalen Bedeutung enwickelt hat" (Keil 1997: 84). Synchron betrachtet allerdings erklären einige Wissenschaftler typische idiomatische phraseologische Einheiten für in gleicher Weise arbiträr wie Einzellexeme (cf. u. a. Hessky 1992). Gleichzeitig ist vielfach geäußert worden, dass zumindest in einigen Fällen zwischen dem Signifikat und dem Signifikant idiomatischer Mehrwortausdrücke auch synchron gesehen ein erkennbarer Zusammenhang besteht. In diesem Sinne liegt Motiviertheit bei phraseologischen Ausdrücken immer dann vor, wenn ihre Bedeutung auf der Basis von Komponentenbedeutungen, Struktur und Metapher verstehbar ist (cf. Burger 2003: 66). Dies ist unter anderem auch der Fall, wenn die Bedeutung des Ausdrucks aufgrund eines allgemeinverständlichen Symbols einleuchtet. Der Sprecher, der den Ausdruck und seine phraseologische Bedeutung kennt, kann also einen Zusammenhang zwischen beiden Ebenen erkennen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Verknüpfung von Bedeutung und Form der ursprünglichen Benennungsmotivation entspricht oder nicht. Motiviertheit bezieht sich also auf die "nachträgliche Interpretierbarkeit" im Sinne von Dobrovol'skij:

Die Sprache ist folglich arbiträr und nichtarbiträr zugleich: arbiträr im Sinne der Imprediktabilität und nichtarbiträr im Sinne der nachträglichen Interpretierbarkeit relevanter Phänomene. (Dobrovol'skij 2001: 90).

Es ist also klar, dass Motiviertheit im Falle von idiomatischen phraseologischen Ausdrücken nicht bedeuten kann, dass die Zuordnung von Form und Bedeutung eindeutig ist, dass also die Dekodierung, geschweige denn die Enkodierung, ohne vorherige Kenntnis von Form und Bedeutung möglich ist. Insofern ist unbestritten, dass phraseologische Einheiten funktionell und aus kontrastiver Perspektive arbiträr sind (cf. Farø 2005). Weder kann im Sinne einer prospektiven Motiviertheit (cf. Farø 2005) auf der Basis des Ausdrucks auf seine Bedeutung geschlossen werden, noch ist die Zuordnung von Bedeutung zu ausdrucksseitig gleichen oder ähnlichen Phraseologismen übereinzelsprachlich konstant. Die Verbindung von Ausdruck und Bedeutung bei phraseologischen Einheiten ist vielmehr konventionalisiert und somit selbstverständlich in gewissem Sinne arbiträr. Und dennoch kann sie gleichzeitig motiviert genannt werden, wenn die konventionalisierte Bedeutung eine der Interpretationsmög-lichkeiten darstellt, die das sprachliche Material, aus dem der Ausdruck besteht, sowie seine spezifische Kombination, zulässt.

Die Analyse der Verwendungsdaten für die dieser Untersuchung zugrundeliegenden phraseologischen Ausdrücke zeigt darüber hinaus, dass die Zuordnung einer bestimmten kausalen Verknüpfung zwischen Form und Bedeutung bei diesen phraseologischen Einheiten innerhalb der Sprachgemeinschaft in hohem Maße konstant ist. Motiviertheit beruht also nicht auf einer individuellen ad-hoc Entscheidung des Sprechers bzw. der Sprecherin, sondern ist Teil des gemeinsamen Sprachwissens. Anhand der Daten kann nachgewiesen werden, dass dieses Wissen bezüglich der Motiviertheit des phraseologischen Ausdrucks die Bedeutung und Verwendung dieses Ausdrucks wesentlich determiniert.

Wie bereits im Rahmen der Diskussion um den Begriff der Teilbarkeit bemerkt wurde, ist Motiviertheit in dem Sinne, wie sie hier untersucht wird, also nicht die Möglichkeit der Konstruktion einer Motivation, also Motivierbarkeit (cf. Burger/Buhofer/Sialm 1982), sondern eine nachweisbare rekurrente Tatsache. Es steht natürlich außer Frage, dass einzelne Sprecher aufgrund eigener Assoziationen oder in konkreten Kontexten ad hoc idiomatische phraseologische Einheiten individuell motivieren können (cf. Hallsteinsdóttir 2001: 202ff). Diese Form der Motivierbarkeit, auf die auch Häcki Buhofer wiederholt hinweist (z. B. 1999) ist hier jedoch nicht das Thema. Am Beispiel der drei Fallstudien geht es im vorliegenden Artikel um beobachtbare, häufige und daher vom einzelnen Sprecher und konkreten Kontext abstrahierbare Merkmale der Motiviertheit, die damit als Teil der systematischen Eigenschaften der Ausdrücke verstanden wird.

Das im vorliegenden Artikel verwendete Verständnis von Motiviertheit umfasst zwei unterschiedliche Aspekte: Als motiviert gilt eine phraseologische Einheit hier einerseits, wenn zwischen ihrer wörtlichen Bedeutung bzw. der zugrundeliegenden Metapher und der phraseologischen Bedeutung ein erkennbarer Zusammenhang besteht. Dieser Aspekt deckt sich mit dem referierten allgemeinen Verständnis von Motiviertheit. Als zweiter Aspekt kommt hinzu, dass eine phraseologische Einheit auch dann motiviert ist, wenn ihre Komponenten in ihrer wörtlichen oder übertragenen (phraseologisch gebundenen oder freien) Bedeutung am Zustandekommen der Bedeutung des Gesamtausdrucks beteiligt sind. Diese Definition vereinigt damit die Unterscheidung in paradigmatische Transparenz und syntagmatische Transparenz ("motivation" vs. "isomorphism", Geeraerts 1995: 59) unter dem Überbegriff der Motiviertheit. Sie lässt sich auf alle Typen phraseologischer Einheiten, also auch auf solche ohne wörtliche Bedeutung sowie auf teil- und nicht-idiomatische feste Ausdrücke anwenden. Die Entscheidung für ein solches, weites Verständnis von Motiviertheit gründet darin, dass Motiviertheit dadurch zum Gegenstück zu Arbitrarität als dem Fehlen jeden Zusammenhangs zwischen sprachlichem Material und Bedeutung wird, wie sie im Allgemeinen für Einzellexeme in der Linguistik postuliert wird (cf. Burger 2003: 66).

Wie aus dem Gesagten hervorgeht, wird auch Motiviertheit, genau wie Idiomatizität, im Rahmen dieser Untersuchung als graduelle Kategorie betrachtet. Die Grade der Motiviertheit ergeben sich aus einer Kombination der genannten paradigmatischen und syntagmatischen Aspekte und können zusätzlich danach abgestuft werden, ob einzelne, mehrere oder alle Komponenten bzw. die Gesamtbedeutung des Ausdrucks eine paradigmatische oder syntagmatische Motiviertheit aufweisen.

Zum Verhältnis von Kompositionalität, Idiomatizität und Motiviertheit ist in der Literatur verschiedentlich folgendes Problem erwähnt worden: Durch die häufige Gleichsetzung von Idiomatizität und nicht-Kompositionalität und die Definition von Motiviertheit als Verstehbarkeit auf der Basis der Bedeutungen der Komponenten eines komplexen Ausdrucks werden Idiomatizität und Motiviertheit zu unmittelbaren Gegenbegriffen voneinander: Je höher der Grad an Motiviertheit, desto geringer der Grad an Idiomatizität (Burger 2003: 66; cf. auch Keil 1997: 83). Wenn aber Motiviertheit mit Kompositionalität gleichzusetzen ist, dann ist dieser Begriff nicht vonnöten. Im Verständnis des vorliegenden Artikels, der explizit sowohl die paradigmatische als auch die syntagmatische Ebene betrachtet, steht Motiviertheit nur in Bezug auf den zweiten Aspekt im Gegensatz zu Idiomatizität, wie sie in Abschnitt 2.1 definiert wurde.

Die Beurteilung des Grades der Motiviertheit anhand von Gebrauchsdaten erfolgt auf der Grundlage der Annahme, dass Bedeutung und Verwendung einer lexikalischen Einheit sich gegenseitig determinieren. Diese Annahme impliziert, dass kontextuelle Merkmale der Verwendung einer lexikalischen Einheit Rückschlüsse auf systematische Eigenschaften dieser lexikalischen Einheit erlauben (cf. z. B. Blumenthal/Diwersy/Mielenbacher 2005). Der vorliegende Artikel argumentiert damit gegen die Annahme, dass typische Verwendungsmerkmale lexikalischer Einheiten synchron betrachtet arbiträre Gebrauchsregeln darstellen (Farø, pers. Kommunikation), die ein Sprecher durch die eigene empirische Erfahrung erwirbt, die aber in keinem Zusammenhang mit systematischen Bedeutungsmerkmalen des Ausdrucks stehen. Die Interpretation von Kontextmerkmalen als Indizien für eine synchrone Motiviertheit einer lexikalischen Einheit wären in dieser Sichtweise entweder reine Konstruktion oder aber Ausdruck von synchron bedeutungslos gewordenen Überbleibseln der ursprünglichen Benennungsmotivation. Die hier dargestellten Untersuchungsergebnisse liefern jedoch Evidenz dafür, dass der Zusammenhang von kontextueller Einbettung und Motiviertheit der phraseologischen Einheiten auch synchron lebendig ist: Jede Verwendung der drei phraseologischen Einheiten macht kreativ Gebrauch von den innerhalb der Konvention (cf. weiter oben) eröffneten Möglichkeiten.

Die beiden genannten Aspekte von Motiviertheit werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung an einer Reihe von Kontextmerkmalen festgemacht: Der Zugang zum paradigmatischen Aspekt erfolgt zum einen über beobachtbare Assoziationen an wörtliche Komponenten- und Ausdrucksbedeutungen im Kontext sowie an die zugrundeliegende Metapher und zum anderen über weitere typische Merkmale der kontextuellen Einbettung.

Zur ersten Gruppe von Kriterien zählen z. B. solche Verwendungen des Zielausdrucks, in denen wörtliche und phraseologische Bedeutung nicht klar auseinander gehalten werden können. Mehrfachlesarten dieser Art können die Nähe von wörtlicher und phraseologischer Bedeutung zeigen, da ein Interpretationszusammenhang zwischen beiden Ebenen angedeutet wird. Ein weiteres Indiz liefern solche Belege, in denen die dem Ausdruck zugrundeliegende Metapher über das Idiom hinaus in den Kontext hineinwirkt. Das Weitertragen der Metapher in den Kontext kann in solchen Fällen der Herstellung von Textkohärenz dienen (cf. Xiaohu Feng 2003). In ähnlicher Weise können auch Assoziationen an wörtliche Komponentenbedeutungen in Form von Quasisynonymen, Antonymen oder in anderer Weise semantisch verwandten lexikalischen Einheiten im Kontext ein Mittel zur Herstellung von Textkohärenz darstellen (cf. Stubbs' Arbeiten zu Kollokation und Texkohärenz in Stubbs 2002). Gehäufte Beobachtungen letzterer Art können als Indiz dafür gewertet werden, dass die Komponentenbedeutungen des Ausdrucks präsent und für die kontextuelle Einbettung relevant sind. Häufige Fälle von Aktivierung der Metapher über das Idiom hinaus deuten auf deren Lebendigkeit hin.

Das zweite genannte Kriterium - typische Merkmale der kontextuellen Einbettung - beinhaltet, dass bestimmte rekurrente Merkmale des Ausdruckskontextes auf eine Motiviertheit des Zielausdrucks zurückgeführt werden können. Dieses Kriterium ist für jeden einzelnen Ausdruck individuell mit Inhalt zu füllen. Für eine nähere Erläuterung dieses Kriteriums wird daher auf die Darstellung der Analyseergebnisse in den Abschnitten 4.1-4.3 verwiesen.

Zu den Indizien für eine Motiviertheit im Sinne des Aspekts der Beteiligung der Komponentenbedeutungen am Zustandekommen der Gesamtbedeutung zählen schließlich alle bereits weiter oben aufgezählten Indizien für semantische Autonomie einzelner Komponenten.

2.3 Expressivität

Ein weiteres Merkmal, das häufig phraseologischen Einheiten als besondere Untergruppe von Lexikoneinheiten zugeschrieben wird, ist das der Expressivität. Mit Expressivität ist dabei gemeint, dass phraseologische Einheiten grundsätzlich Bedeutungsmerkmale transportieren, die auf besondere emotionale Involviertheit des Sprechers hindeuten. Nach dieser Auffassung beinhalten phraseologische Einheiten insbesondere subjektiv-wertende (insbesondere negativ-wertende) Aussagen, sie sind stilistisch markiert bzw. gehören umgangssprachlichen bzw. sprechsprachlichen Registern an (cf. u. a. Hessky 1992, Hyvärinen 1992).

Hierbei deutet sich eine besondere Funktion von phraseologischen Einheiten innerhalb des Lexikons an. Phraseologischen Einheiten wird nicht, wie einfachen lexikalischen Einheiten, die primäre Funktion der Benennung von Sachverhalten zugesprochen (cf. u. a. Kühn 1985, Hessky 1992). Nur in Ausnahmefällen dienen zumindest zentrale Vertreter der Klasse der phraseologischen Einheiten diesem Zweck (cf. u. a. Hyvärinen 1992). Vielmehr erfüllen sie in besonderer Weise die Funktion der Kommunikation emotionaler Zustände, der "Expressivitätssteigerung" (Fleischer 1996: 336), welche sich aus ihrer Bildlichkeit, eventuellen besonderen lautlich-rhythmischen Eigenschaften, semantischen Verdoppelungseffekten etc. speisen (cf. u. a. Fleischer 1997).

Bisher existieren nur wenige empirische Untersuchungen zur Expressivität von phraseologischen Einheiten (cf. jedoch Gréciano 1988, Drescher 1997), so dass die Hypothese, es handle sich hierbei um ein wesentliches Charaktermerkmal dieser Lexikoneinheiten, weder bestätigt noch widerlegt werden konnte. Einen Ansatzpunkt zur Überprüfung der Hypothese der besonderen Expressivität phraseologischer Ausdrücke bietet die Vorgehensweise, die Stubbs (2002) zur Feststellung semantischer Prosodie von lexikalischen Einheiten vorschlägt. Zwar lässt sich Stubbs' semantische Prosodie nicht direkt mit dem gleichsetzen, was die Phraseologieforschung unter Expressivität versteht. Dennoch bietet sich auf diesem Wege eine Möglichkeit, herauszufinden, ob die meisten phraseologische Einheiten negativ oder positiv (oder anderweitig) wertende Aussagen treffen, ob also positive oder negative Konnotiertheit zu den typischen Merkmalen phraseologischer Einheiten gehört. Stubbs beurteilt negative oder positive semantische Prosodie, d. h. implizite negative oder positive Bedeutung, die ein Ausdruck besitzt, nach der Häufigkeit anderer eindeutig negativ- oder positiv-wertender Ausdrücke im Kontext. Sind also unter den Kollokatoren einer lexikalischen Einheit auffällig viele mit negativer oder positiver Bedeutung, kann dies als Anzeichen einer systematischen negativen oder positiven Bedeutungsnuance für den Zielausdruck selbst gewertet werden. Auf diese Weise kann für jeden korpusbasiert untersuchten phraseologischen Ausdruck festgestellt werden, ob er negative oder positive Konnotationen bzw. über diese Dichotomie negativ/positiv hinaus eventuell auch andere Formen semantischer Prosodie, etwa Ironie, besitzt. Eine generelle Aussage darüber, ob Konnotiertheit zur Natur der phraseologischen Einheiten gehört, wäre allerdings erst aufgrund einer großen Menge solcher Untersuchungen möglich.

 

3 Datengrundlage

Die Verwendungsdaten, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen, kommen aus einem der Korpora, die an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Projekts "Digitales Wörterbuch des Deutschen des 20. Jahrhunderts" erstellt wurden (www.dwds.de). Das Korpus umfasst etwa 949 Mio. Wörter aus den Genres Literatur, Gebrauchstexte und Presse aus allen Dekaden des 20. Jahrhunderts. Im Korpus besteht jedoch ein sehr deutliches Übergewicht an Pressetexten aus den 90er Jahren.

Zur Gewinnung eines Belegkorpus von Belegen für den jeweils zu untersuchenden phraseologischen Ausdruck, das sowohl Aussagen über typische als auch über mögliche Vorkommen der Zieleinheit erlaubt, wird folgendes Vorgehen festgelegt: Es werden aus dem Korpus mit Hilfe mehrerer Anfragen verschiedene Belegkorpora extrahiert. Dabei orientiert sich die erste Anfrage relativ nah an der im DUDEN (Drosdowski/Scholze-Stubenrecht 1992) angegebenen kanonischen Form, alle weiteren Anfragen werden so formuliert, dass sie explizit nach bestimmten, von dieser kanonischen Form abweichenden Verwendungen suchen. Da alle diese Anfragen übergenerieren, d. h. auch Treffer produzieren, die keine Idiombelege darstellen, müssen in den Ergebnismengen zunächst die tatsächlichen Idiombelege manuell identifiziert werden. Die resultierenden Belegkorpora werden dann zu einem Belegkorpus vereinigt, das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit alle im Korpus vorhandenen Idiombelege enthält. Dieses Belegkorpus bildet die Grundlage für Aussagen über Attribute, Substitutionen und Transformationen. Die anderen Kriterien - parallele Kontextstrukturen, anaphorische Referenzen, Mehrfachlesarten, kontextuelle Ausbreitung der Metapher, positiv- bzw. negativ-wertende Kollokationen etc. - können hingegen lediglich an einer Zufallsstichprobe untersucht werden, da sie eine sehr detaillierte und daher zeitintensive Analyse jedes einzelnen Belegs verlangen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde die Anzahl der näher zu analysierenden Belege auf mindestens 40 festgelegt, wobei für das Idiom auf allen Hochzeiten tanzen im Rahmen einer anderen Untersuchung sogar 80 Belege untersucht wurden. Diese Anzahl kommt aus der Abwägung der Kriterien der zeitlichen Bewältigbarkeit einerseits und des Einblicks in die Verhältnisse im Gesamtbelegkorpus andererseits zustande.

 

4 Fallstudien

Im Folgenden soll anhand von drei Fallstudien die Anwendung der beschriebenen Methode beispielhaft ausgeführt werden. Die Analysen der drei Idiome etw. aus dem Ärmel schütteln, auf allen Hochzeiten tanzen und etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen sind Teil einer größeren Untersuchung, bei der etwa 60 phraseologische Ausdrücke nach der gleichen Methode analysiert wurden. Die drei hier besprochenen Idiome wurden ausgewählt, weil sie sich bezüglich der Kriterien Idiomatizität, Motiviertheit und Expressivität unterschiedlich verhalten. Während der Ausdruck etw. aus dem Ärmel schütteln stark idiomatisch ist, ist der Grad der Idiomatizität bei etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen und auf allen Hochzeiten tanzen geringer. Für etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen zeigt vor allem das Verb semantische Autonomie. Auf allen Hochzeiten tanzen schließlich ist am schwächsten idiomatisch: hier tragen alle Komponenten eine identifizierbare eigenständige Bedeutung, die im Falle des Nomens Hochzeiten nicht einmal im strengen Sinne phraseologisch gebunden ist. Für alle untersuchten Ausdrücke kann aufgrund unterschiedlicher kontextueller Indizien festgestellt werden, dass ihre Bedeutung und Verwendung auf der Basis der Bedeutung ihrer Komponenten und der zugrundeliegenden Metapher motiviert ist.

Eine weitere Tatsache, die die Analyse der Daten sichtbar macht, ist, dass sich die spezifische Bedeutung und Verwendung eines idiomatischen phraseologischen Ausdrucks durch die Angabe einer Paraphrase nicht erschöpfend charakterisieren lässt. Die Untersuchung zeigt nicht nur dass, sondern auch in welcher Weise die Ebene der wörtlichen Komponentenbedeutungen sowie die Ebene der Metapher und der Rolle der einzelnen Komponenten innerhalb der Metapher einen determinierenden Einfluss auf die Bedeutungskonstitution des Gesamtausdrucks ausübt.

4.1 Etw. aus dem Ärmel schütteln

Das Idiom etw. aus dem Ärmel schütteln erweist sich auf der Basis der Datenanalyse als stark idiomatisch in dem Sinne, dass den einzelnen Komponenten kein oder ein kaum identifizierbarer autonomer Beitrag zur Bedeutungskonstitution des Gesamtausdrucks zukommt. Die vorkommenden Attribute zum Nomen Ärmel modifizieren die Bedeutung dieser Komponente nur auf der wörtlichen Ebene und dienen so zur näheren Beschreibung des (äußeren) Erscheinungsbildes der Person, von der die Rede ist. Sie stehen damit nicht in Zusammenhang mit der phraseologischen Bedeutung des Idioms. Die alternativen Belegungen des Nomens Ärmel mit dem Nomen Handgelenk sowie alternative Belegungen der Verbstelle mit ziehen, holen oder zaubern können sowohl aufgrund ihrer Frequenz als auch aufgrund der damit einhergehenden Bedeutungsveränderung des Gesamtausdrucks als Instanzen der Verwendung anderer, wenn auch stark verwandter Idiome gewertet werden. Bezüglich der Motiviertheit des Ausdrucks lässt sich feststellen, dass trotz fehlender semantischer Autonomie der Komponenten bestimmte typische Eigenschaften der Verwendungskontexte dieses Ausdrucks deutlich mit Bedeutungsmerkmalen der Komponenten und der zugrundeliegenden Metapher in Zusammenhang stehen. Die Verwendungsbelege für etw. aus dem Ärmel schütteln deuten also durchaus auf Motiviertheit der phraseologischen Bedeutung des Ausdrucks hin.

4.1.1 Idiomatizität

Die Analyse aller aus dem Korpus gewonnener Belege des komplexen Ausdrucks etw. aus dem Ärmel schütteln (insgesamt 335) nach den Kriterien Attribution, Substitution und Transformationen sowie einer Stichprobe von 40 Belegen nach den Kriterien anaphorische Referenzen und parallele Kontextstrukturen ergibt folgendes Verwendungsprofil:

In 13 von 335 Belegen kommt der Ausdruck modifiziert durch Adjektiv- bzw. Genitivattribute zum Nomen Ärmel vor (nicht mitgerechnet sind dabei die Belege, in denen das Nomen selbst substituiert ist oder als Kopf eines Kompositums fungiert, s.u.). In allen Fällen beziehen sich diese Attribute auf die wörtliche Bedeutung des Nomens. Beispiele für solche Attribute sind "aus den maßgeschneiderten/aus kurzen/weiten Ärmeln" bzw. "aus dem Ärmel seiner schwarzseidenen Robe/seines mausgrauen Anzugs". In den meisten Fällen wird so eine genauere Beschreibung des Aussehens der Person, von der im Kontext die Rede ist, geleistet. Ähnliches gilt für die im Korpus vorhandenen 12 Kompositumsbildungen (Beispiele: "Rockärmel", "Jackenärmeln", "Megaärmeln", "aus dem Schweizer Baumwollärmel", "Zauberärmel", "Tuxedo-Ärmel", "Frackärmel"). Die vorkommenden Modifikationen sprechen also nicht für eine identifizierbare autonome Bedeutung von Ärmel(n) auf phraseologischer Ebene.

Was die Substitutionen des Nomens und des Verbs betrifft, so finden sich im Korpus 37 Belege für den Ausdruck etw. aus dem Handgelenk schütteln sowie 208 Belege für etw. aus dem Ärmel ziehen/holen/zaubern. Aufgrund der hohen Frequenz dieses Ausdrucks muss angenommen werden, dass es sich nicht um Abweichungen gegenüber der kanonischen Form des Idioms etw. aus dem Ärmel schütteln, sondern entweder um lexikalisierte Varianten oder aber um eigenständige Idiome handelt. Im vorliegenden Artikel wird angenommen, dass Letzteres der Fall ist. Zwar finden sich unter den Belegen tatsächlich solche, in denen etw. aus dem Handgelenk schütteln bzw. etw. aus dem Ärmel ziehen/holen/zaubern von etw. aus dem Ärmel schütteln semantisch ununterscheidbar sind. Dazu gehören u. a. folgende Beispiele:

(9) Das ist so, ja, und daß ich eine Durchsetzungsstrategie dann nicht aus dem Handgelenk schütteln kann, das ist klar.
(konkret 1989, S. 43)

sowie

(10) O Herr Jason, nun müssen Sie etwas erzählen, Georg sagt immer, das könnte keiner wie Sie, und Sie zögen Geschichten aus dem Ärmel wie Taschentücher.
(Schaeffer 1920/1995: S. 665)

Dennoch sind für beide Ausdrücke klare Verwendungsprototypen erkennbar, die sich vom Prototyp der Verwendung von etw. aus dem Ärmel schütteln deutlich unterscheiden. Für etw. aus dem Handgelenk schütteln sind das Kontexte, in denen von einer Tätigkeit die Rede ist, in der tatsächlich das Handgelenk involviert ist (Dirigieren, Klavierspielen) sowie in Abweichung von diesem Prototyp die Ersetzungen von Handgelenk durch "Fuß-" oder "Kniegelenk":

(11) Eben genauso leicht, wie es ihm fiel, aus dem Fußgelenk einen zentimetergenauen Paß zu schütteln.
(Süddeutsche Zeitung 30.04.1999, S. 50)

Die prototypische Bedeutung des Ausdrucks etw. aus dem Ärmel ziehen/holen/zaubern kann mit 'etwas Vorbereitetes (überraschend) hervorholen' paraphrasiert werden, vorzugsweise ist dabei das Objekt, das aus dem Ärmel gezogen, geholt oder gezaubert wird eine Spielkarte, vor allem ein Trumpf, ein As oder ein Joker (102 von 208 Belegen):

(12) Dies ist ein Trumpf, den die Olympiagesellschaft oft und gern aus dem Ärmel zieht, denn die Olympischen Spiele kommen und gehen, wenn sie kommen, während die Umwelttechnologie bleibt.
(Süddeutsche Zeitung 26.06.1997, S. 23)

Auch etw. aus dem Ärmel schütteln kann die Bedeutung 'etwas Vorbereitetes (überraschend) hervorholen' annehmen, doch orientiert sich dieser Ausdruck um einen anderen Prototyp herum. Dieser kann durch die Paraphrase 'etw. (das üblicherweise nicht als leichte Aufgabe gesehen wird) mühelos hervorbringen' beschrieben werden. Weitere typische Merkmale sind, dass üblicherweise von kreativen Prozessen wie dem Komponieren von Liedern oder dem Finden von Entscheidungen die Rede ist und dass die direkte Objektstelle auffällig häufig von Objekten im Plural besetzt ist (cf. dazu Abschnitt 4.1.2). Aus den genannten Gründen wurden die Belege für diese beiden Ausdrücke nicht als Varianten in das Belegkorpus für den hier untersuchten Ausdruck aufgenommen.

Das Nomen Ärmel wird außerdem in zehn Fällen substituiert. Von diesen zehn sind zwei bemerkenswert, weil in ihnen eine Anwendung des Ausdrucks auf nicht-belebte Subjekte stattfindet. so schüttelt "der Tdi [...] die Mehrleistung mit Abgasturbolader und Ladeluftkühler aus dem Schaufelrad" und ein Motor "eine Leistung von nur 75kW (102PS) aus den vier Zylindern". In diesen Belegen, wie auch in der abweichenden Form "aus dem Ärmel, pardon, aus dem Chip" (im Kontext ist die Rede von einem Computer) entsteht eine Analogie zwischen dem Ärmel als Kleidungsstück bzw. Körperteil auf das, was der Ärmel einer Maschine sein könnte. Die übrigen Substitutionen entstammen alle den Bereichen 'Körperteile' oder 'Kleidungsstücke' ("die Antwort lässt sich nicht aus der Hand schütteln", "Wohnungen aus der Tasche schütteln" etc.). Insgesamt finden alle Substitutionen in Anlehnung an die wörtliche Bedeutung der Komponente Ärmel statt. Diese Beobachtung lässt ähnlich wie die oben besprochenen Fälle von Attribution schließen, dass das Nomen keine semantische Autonomie auf der Ebene der phraseologischen Bedeutung besitzt.

Ähnliches lässt sich über die 12 weiteren Belege sagen, in denen eine Verbsubstitution stattfindet: Die Substitutionen des Verbs ("aus dem Ärmel kramen/pokern/herausschießen/befördern" sowie die Konverse "etw. rutscht/purzelt/fliegt jemandem aus dem Ärmel") bewegen sich ebenalls auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung der Komponente schütteln (bzw. herausschütteln).

An Transformationen des Ausdrucks sind sehr wenige zu finden. Die Passivbelege des Idioms sind für den vorliegenden Zweck der Feststellung semantischer Autonomie uninteressant, da bei der Transformation kein fest lexikalisch besetztes direktes Objekt betroffen ist. Ansonsten ist lediglich ein Beleg für eine Relativsatzbildung vorhanden, der sich ebenfalls auf die wörtliche Bedeutung des Nomens Ärmel bezieht:

(13) Er schüttelt es aus einem Ärmel, in dem noch viele Geschichten stecken dürften.
(Frankfurter Allgemeine 27.09.1997, S. B5)

Allerdings spielt in diesem Beispiel nicht ausschließlich die kontextunabhängige Lexikonbedeutung von Ärmel eine Rolle. Vielmehr verdeutlicht dieser Kontext auch die Rolle des Nomens Ärmel. Ärmel wird hier innerhalb der Metapher im Sinne eines Verstecks oder eines Aufbewahrungsortes gedeutet.

Ähnliches gilt für den folgenden Beleg:

(14) Wir erinnern uns an Kohls Bemerkungen 1990: das populistische Gerede, eine starke Marktwirtschaft würde den Aufbau-Ost sozusagen aus dem Überschuß im Ärmel schütteln
(die tageszeitung 20.07.1992, S. 10)

Auf diese Tatsache soll im Zusammenhang mit der Frage nach der Motiviertheit des Ausdrucks sowie seiner Lesarten noch näher eingegangen werden (cf. Abschnitt 4.1.2).

Weitere Indizien für eine semantische Autonomie einzelner Idiomkomponenten konnten in der genauer untersuchten Zufallsstichprobe nicht gefunden werden. Die Überprüfung der phraseologischen Gebundenheit der autonomen übertragenen Komponentenbedeutungen macht also keinen Sinn, da sich für den vorliegenden Ausdruck keine solchen Komponentenbedeutungen identifizieren lassen.

Insgesamt kann also festgestellt werden, dass der Ausdruck etw. aus dem Ärmel schütteln stark idiomatisch ist und höchstens andeutungsweise eine Zuordnung autonomer Bedeutung zu einzelnen Komponenten erkennen lässt. Die genannten sprachspielerischen Modifikationen des Nomens Ärmel zeigen jedoch, dass die wörtliche Bedeutung von Komponenten dem Sprecher durchaus bewusst bleibt und für den kreativen Umgang mit Sprache zur Verfügung steht. Im nächsten Abschnitt soll außerdem nachgewiesen werden, dass auf einer anderen Ebene, nämlich der des Bildes, jede Komponente ihren Beitrag zur Entstehung des Gesamtbildes leistet und damit auch die Bedeutung des Ausdrucks klar beeinflusst.

4.1.2 Motiviertheit

Die Untersuchung der Stichprobe aus dem Belegkorpus für den Ausdruck etw. aus dem Ärmel schütteln auf die Kriterien Mehrfachlesart und kontextuelle Ausbreitung der Metapher hat ergeben, dass sich keine Belege finden lassen, die diese Merkmale aufweisen. Im Belegkorpus wurden zwar zwei Belege identifiziert, in denen Assoziationen an wörtliche Komponentenbedeutungen im Kontext auftreten, hierbei handelt es sich aber eher um die im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Hinweise dafür, dass der Sprecher diese wörtliche Komponentenbedeutung wahrnimmt und dass sie bei der Kontexteinbettung des Idioms eine Rolle spielen können:

(15) Der Mann, der die politischen Verhältnisse Bremens erschütterte, schüttelt als Mann mit vielen Ehrenämtern lieber Hände als Ideen aus dem Ärmel.
(die tageszeitung 1999, S 22)

Auch die Ergebnisse der Analyse, die im vorangegangenen Abschnitt präsentiert wurden, scheinen auf einen geringen Grad an Motiviertheit für das vorliegende Idiom hinzudeuten.

Im Hinblick auf das Kriterium der typischen Eigenschaften der kontextuellen Einbettung jedoch können bestimmte Charakteristika identifiziert werden, die mit der dem Idiom zugrundeliegenden Metapher und dem Bedeutungsbeitrag einzelner Komponenten innerhalb dieser Metapher in Zusammenhang stehen. Im Belegkorpus fällt beispielsweise auf, dass die lexikalische Belegung der direkten Objektposition des Ausdrucks auffällig häufig im Plural steht. Im Vergleich zu der Tatsache, dass Pluralobjekte im Gesamtkorpus etwa halb so häufig sind wie direkte Objekte im Singular, stellt ein Übergewicht pluralischer Objekte (23 von 40 näher analysierten Belegen) in der Objektposition des Idioms eine signifikante Beobachtung dar. Aus dem Ärmel werden "die abwechslungsreichsten Verzierungen", "Weltrekorde" oder "hymnische[n] Rock- und Campfiresongs" geschüttelt. Diese Tatsache lässt sich damit in Verbindung bringen, dass das Verb schütteln eine repetitive Handlung beschreibt, bei der nicht nur ein, sondern eine Vielzahl von Objekten aus dem Ärmel hervorkommen.

Die Komponente Ärmel steht innerhalb der Metapher entweder für einen peripheren Körperteil der Person von der im jeweiligen Kontext die Rede ist oder aber für ein Versteck oder einen Aufbewahrungsort. Aus dieser Interpretation ergibt sich gleichzeitig eine Verbindung zu den verschiedenen möglichen Lesarten des Ausdrucks: Zum einen produziert eine Person entweder aus sich selbst heraus, ohne Rückgriff auf weitere Ressourcen ohne große Anstrengungen Dinge, die üblicherweise große Mühe bereiten. Hier fügen sich die Bedeutungsnuancen des peripheren Körperteils mit der nachlässigen Bewegung des Schüttelns zum Gesamtbild einer mühelosen Tätigkeit zusammen. Zum anderen kann der Ausdruck die Bedeutung annehmen, dass eine Person (eventuell plötzlich und überraschend) Dinge hervorholt, die für die Personen in ihrer Umgebung vorher nicht sichtbar waren. In dieser Lesart fungiert die Komponente Ärmel als Aufbewahrungsort bzw. Versteck.

In dieser Interpretation lässt sich also feststellen, dass ein Zusammenhang zwischen den Komponentenbedeutungen innerhalb der Metapher sowie dem insgesamt eröffneten Bild und der Idiombedeutung durchaus vorhanden ist, dass also von einer Motiviertheit im Falle des Idioms etw. aus dem Ärmel schütteln zumindest im Sinne des paradigmatischen Aspekts gesprochen werden kann.

4.1.3 Semantische Prosodie

Im Allgemeinen kann festgestellt werden, dass die Kollokate des Idioms etw. aus dem Ärmel schütteln für eine klar positive semantische Prosodie dieses Ausdrucks sprechen. In den Verwendungskontexten kommen Lexeme wie "locker", "mühelos", "brillant" etc. vor. Dennoch finden sich auch Belege, in denen der Ausdruck eine negative Wertung seitens des Sprechers impliziert. Ein Beispiel für einen solchen Beleg sei hier zitiert:

(16) Professionell veranstaltet, verbessern sie das Betriebsklima und bieten wie Händlertagungen, Außendienstveranstaltungen und Lieferantenseminare nach außen die Möglichkeit, sich positiv darzustellen. Nebenbei lassen sich Bekanntheitsgrad der Produkte und Dienstleistungen sowie das Ansehen des Unternehmens steigern. Solch ein Betriebsfest läßt sich nicht nebenbei von einem eilig eingesetzten Festkomitee oder lustlosen Betriebsrat aus dem Ärmel schütteln. Noch mehr als konsequente Planung und Organisation braucht es einen tragfähigen Leitgedanken.
(Frankfurter Allgemeine 13.05.1994, S. 7)

Es ist klar, dass hier "ein Betriebsfest [...] aus dem Ärmel schütteln" in Kontrast zu einer ordentlich und gut organisierten Veranstaltung gestellt wird. Nebenbei wird an diesem Beispiel deutlich, dass bei der Kategorisierung nach negativ- und positiv-wertenden Kollokationen auch auf die bestehenden semantischen Relationen zwischen dem Ausdruck und seinen Kollokaten geachtet werden muss. Bei einer automatischen Analyse könnten solche kontextuellen Oppositionen wie sie hier zwischen aus dem Ärmel schütteln und "positiv darstellen", "Ansehen des Unternehmens steigern", "konsequente Planung und Organisation" und "tragfähigen Leitgedanken" das Bild leicht verzerren.

4.2 Auf allen Hochzeiten tanzen

Von den hier beispielhaft untersuchten Idiomen erweist sich der Ausdruck auf allen Hochzeiten tanzen als der am schwächsten idiomatische. Auf der Basis der Beleganalyse kann festgestellt werden, dass der Komponente Hochzeiten im Ausdruck die autonome übertragene Bedeutung 'Ereignisse' zukommt. Die genauere Spezifikation dessen, welche Ereignisse konkret gemeint sind, erfolgt dabei typischerweise durch Identifikation des Nomens Hochzeiten mit im Kontext genannten Ereignissen über anaphorische Referenz. Die Daten lassen erkennen, dass sich für das Nomen Hochzeiten in der Bedeutung 'Ereignisse' aus dem Idiom heraus eine von dem festen Ausdruck relativ unabhängige Existenz ergibt. Aufgrund der doppelten Anzeigefunktion bestimmter Merkmale sowohl für Idiomatizität als auch für Motiviertheit sowie aufgrund zusätzlicher Hinweise im Sinne der Kriterien, die für die Untersuchung der Motiviertheit festgelegt wurden, ergibt sich für dieses Idiom auch ein hoher Grad an Motiviertheit. Bezüglich der semantischen Prosodie lässt das Belegkorpus keine eindeutigen Aussagen zu. Das Idiom kann sowohl mit einer negativen als auch mit einer positiven Wertung verbunden sein; in vielen Fällen ist gar keine Wertung erkennbar.

4.2.1 Idiomatizität

Das Verwendungsprofil des Ausdrucks auf allen Hochzeiten tanzen kann folgendermaßen beschrieben werden: Im Belegkorpus der insgesamt 182 Verwendungen des Ausdrucks, die das Korpus liefert, finden sich sieben Fälle von Adjektiv- und drei Fälle von Genitivattributen zum Nomen Hochzeiten (z. B. "auf allen politischen/ausländischen Hochzeiten"; "auf allen Hochzeiten der Chemie/des Bankgeschäfts"). Das Nomen Hochzeiten wird darüber hinaus vier Mal substituiert ("auf allen Queer-Parties", "auf allen Bällen"), in 35 Belegen steht Hochzeit anstatt von Hochzeiten, das Verb tanzen wird zehn Mal substituiert bzw. erweitert ("auf allen Hochzeiten schwofen/präsent sein/den Boden unter den Füßen haben/tanzen und trinken"). Eine auffällige Besonderheit im Belegkorpus für dieses Idiom ist, dass der Quantor allen innerhalb der Präpositionalphrase sehr variabel ist. In 85 von 182 Belegen wird allen durch einen anderen Quantor oder Artikel ersetzt bzw. erweitert, wobei unter diesen 85 Belegen selbstverständlich auch alle diejenigen Belege gezählt sind, in denen Hochzeit im Singular steht, so dass eine Quantifikation durch einen Allquantor ohnehin unmöglich ist. Beispiele sind: "auf zwei/drei/allen drei/beiden/vielen Hochzeiten" bzw. "auf jeder/einer anderen/der falschen/einer/dieser Hochzeit". Es kommen außerdem zwei Erweiterungen durch Relativsatz vor ("auf allen deutschen Hochzeiten, zu denen er geladen wurde", "auf allen Hochzeiten, welche die Beinahe- oder Jetzt-doch-Millionenstadt Köln bereithält"). Unter den 80 Belegen, die näher analysiert wurden, finden sich zehn mit Kontextstrukturen, die eine strukturelle und semantische Parallelität zum Idiom aufweisen (Beispiel: "mit zwanzig tanzte er bereits auf allen Hochzeiten, sang bei den ersten Nachkriegssitzungen und gründete kurzerhand seinen eigenen Verein"), sowie 35 Belege mit klaren anaphorischen Referenzen zwischen dem Nomen Hochzeiten und Elementen im Kontext (Beispiele (17) und (18), s.u.). Diese Besonderheit soll im Folgenden den Ausgangspunkt für die Interpretation des spezifischen Verwendungsprofils dieses Idioms bilden:

Im vorliegenden Artikel wird die Auffassung vertreten, dass die aufgeführten Daten für eine starke semantische Autonomie des Nomens Hochzeiten im Sinne einer übertragenen Bedeutung 'Ereignisse' sprechen. Diese Interpretation ergibt sich vor allem aus der Beobachtung des Zusammenhangs zwischen den klaren anaphorischen Referenzen und der Variabilität des Quantors allen. Gerade in den Belegen, in denen allen durch konkrete Zahlangaben wie beiden oder drei ersetzt ist, wird ein anaphorischer Zusammenhang mit Elementen des Kontexts dadurch deutlich, dass eine entsprechende Anzahl von Ereignissen genannt wird. Zwei Beispiele sollen diese Aussage illustrieren:

(17) Beide Institutionen sind (nicht erst seit dem Amtsantritt Herzogs) ängstlich bemüht, sich nicht gegenseitig auszustechen. So traten die Kanzlerberater einen begrenzten Rückzug an und schafften wenigstens das Dilemma beiseite, das darin bestand, daß beide Veranstaltungen zur gleichen Uhrzeit beginnen sollten. Kohl verschob seinen Termin auf 20 Uhr, Herzog sprach eine Stunde vorher. Damit hatten die Journalisten, die auf beiden Hochzeiten tanzen wollten, Gelegenheit, von einer zur anderen zu wechseln.
(Süddeutsche Zeitung 16.01.1997, S. 23)

(18) Nach der bitteren 28:32-Niederlage nach Verlängerung beim Zweitliga-Pokalschreck VfL Bad Schwartau tanzt die Arason-Truppe ab sofort nur noch auf einer Hochzeit, nämlich in der Bundesliga.
(Frankfurter Rundschau 10.01.1997, S. 6)

Im ersten Beispiel wird der anaphorische Zusammenhang vor allem durch die Parallelität von "beide Veranstaltungen" und "beiden Hochzeiten" deutlich sowie durch die anaphorischen Referenzen zwischen beiden Hochzeiten und "von einer zur anderen wechseln". Im zweiten Beispiel wird die Identifikation über die Spezifikation "nämlich..." erreicht.

Dieser anaphorische Zusammenhang wird dabei auch in vielen der Belege markiert, in denen die kanonische Form auf allen Hochzeiten erhalten bleibt. Ein solcher Fall ist beispielsweise der folgende Beleg:

(19) Politische Multitalente, die auf allen Hochzeiten vom Ortsvereinsvorstand über die Beiratsfraktionen zum Landesparteitag und in der Bürgerschaft tanzen, sollen gefälligst kürzer treten und auch dem einfachen Basis-Genossen die Chance lassen, irgendwann mal zum Funktionär aufzusteigen.
(die tageszeitung 18.07.1990, S. 9)

Auch die übrigen Beobachtungen fügen sich in diese Interpretation. Generell kann gesagt werden, dass das Nomen Hochzeiten die autonome übertragene Bedeutung 'Ereignisse' oder 'Veranstaltung' besitzt und dass diese allgemeine Bedeutung durch den Kontext spezifiziert werden muss. Dies geschieht in den meisten Fällen durch explizit markierte oder auch implizite anaphorische Referenz zwischen dem Nomen Hochzeiten und im Kontext genannten konkreten Ereignissen, in einigen Fällen aber auch durch Attribution ("auf allen Hochzeiten der Chemie" s. o.) oder auch durch Relativsatz etc. Auf diese Weise wird auch eine kontextuelle Verankerung des komplexen Ausdrucks im Kontext erreicht.

Es sei an dieser Stelle außerdem angemerkt, dass die Adjektiv- und Genitivattribute im Falle dieses Idioms eine vollkommen andere Funktion ausüben als beim Idiom etw. aus dem Ärmel schütteln. Während sich die Attribute zum Nomen Ärmel eindeutig auf die wörtliche Bedeutung dieses Ausdrucks beziehen und, wie oben ausgeführt, die Idiombedeutung in keiner Weise modifizieren, sind die Attribute an Hochzeiten auf die übertragene Lesart dieses Nomens bezogen und daher Anzeichen für dessen semantische Autonomie (cf. zu diesem Thema auch Dobrovol'skij 2000b). Diese Erkenntnis zeigt, dass ein direkter Rückschluss von dem Vorkommen von Modifikationen auf semantische Autonomie nicht möglich ist, da die spezifische Funktion der Modifikationen mit berücksichtigt werden muss.

Der semantisch autonome Beitrag des Verbs tanzen ist hingegen weniger eindeutig identifizierbar. Bestimmte Indizien sprechen aber dafür, dass diesem Verb innerhalb des Idioms, vor allem auch aufgrund seiner Rolle im Zusammenhang der Metaphorik des Ausdrucks die Bedeutung 'mitmachen' bzw. 'dabei sein' zukommt. Zu solchen Indizien zählen etwa bestimmte Verbsubstitutionen, wie etwa "dabei sein" und "präsent sein", die den autonomen Beitrag des Verbs sozusagen in eine Paraphrase übersetzen. Hinzu kommt, dass − da ja wie festgestellt die Präpositionalphrase aufgrund der semantischen Autonomie von Hochzeiten auf der phraseologischen Ebene kompositional ist - dem Verb in gewisser Weise automatisch semantische Autonomie im Sinne des verbalen Beitrags zur phraseologischen Bedeutung zukommt. Die Paraphrase 'bei allen Ereignissen/Veranstaltungen präsent sein/mitmachen' beschreibt diesen Bedeutungsbeitrag des Verbs. Seine übertragene Bedeutung ergibt sich parallel zur Rolle des Verbs innerhalb der Metapher (cf. Abschnitt 4.2.2).

Ein zusätzliches Indiz für einen relativ hohen Grad an Idiomatizität des Ausdrucks auf allen Hochzeiten tanzen liefert die Beobachtung, dass das Nomen Hochzeiten auch in anderen Kontexten manchmal die Bedeutung 'Veranstaltungen', 'Ereignisse' annehmen kann. Eine Suche unter Nutzung der Suchmaschine google im Internet fördert eine Reihe von Belegstellen zu Tage, in denen das Nomen diese Bedeutung in der Verbindung "andere Hochzeit" bzw. "falsche Hochzeit" annimmt:

(20) Der Erfolg ist eine ganz andere Hochzeit und nicht das Threadthema
( http://forum.freenet.de zu Hartz 4: Stand: 4.3.2006)

4.2.2 Motiviertheit

Der Grad der Motiviertheit des vorliegenden Idioms auf allen Hochzeiten tanzen kann aufgrund aller in Abschnitt 4.2.1 genannten Verwendungsmerkmale als hoch angesetzt werden.

Neben den in den vorangegangenen Abschnitten genannten Hinweisen auf semantische Autonomie der Komponenten und damit auf den kompositionalen Beitrag der Komponenten zur Bedeutung des Gesamtausdrucks finden sich in der genauer analysierten Stichprobe von 80 Belegen zwei für gleichzeitige Präsenz der wörtlichen und der übertragenen Lesart des Ausdrucks sowie 14 Belege, in denen die Metaphorizität des Idioms bzw. einzelne Komponentenbedeutungen in den Kontext hineinwirken. Diese Beispiele zeigen, dass die Bedeutung des Idioms auf der Basis der zugrundeliegenden Metapher motiviert ist. Ein Beispiel sei hier zitiert:

(21) Der disziplinierte, harte Arbeiter Fujimori tanzt zudem auf allen Hochzeiten, wenn auch etwas ungelenk und wenig spontan. Doch ob in der Badehose oder im Poncho, auf dem Fahrrad oder auf dem Podium, der listige Fuchs stößt damit zwar nicht auf Liebe, aber doch auf Sympathie.
(Frankfurter Allgemeine 08.04.1995, S. 5)

In diesem Beleg ist die Berührung von Metapher und phraseologischer Bedeutung des Gesamtausdrucks besonders deutlich. Die Adjektivphrasen "ungelenk" und "wenig spontan" sind semantisch gesehen typische Modifikatoren der wörtlichen Bedeutung von tanzen und transportieren gleichzeitig die durch das Idiom eröffnete Bild in den weiteren Kontext. Die gesamte Situation des Politikers, der auf allen Veranstaltungen zugegen ist und mitmischt wird als Tanzen auf allen Hochzeiten umgedeutet; die beiden Adjektive besagen dabei, dass Fujimori bei seinen Auftritten nicht uneingeschränkt geschickt und der Situation angemessen agiert. Tanzen besitzt also innerhalb des Ausdrucks die Bedeutung, 'sich in der der Situation angemessenen Weise aktiv beteiligen'. So wie zu tanzen eine typische Aktivität von Gästen auf Hochzeiten darstellt, so tut auch jemand, der auf allen Hochzeiten tanzt, das, was von ihm in der jeweiligen Situation erwartet wird. Die Aufzählung von Situationen im darauf folgenden Satz ("[...] ob in der Badehose oder im Poncho, auf dem Fahrrad oder auf dem Podium [...]") steht dabei für die verschiedenen Hochzeiten, auf denen sich Fujimori bewegt.

In diesem und ähnlichen Belegen steckt daher ein weiteres Indiz dafür, dass die Metapher und die Rolle der einzelnen Komponenten innerhalb der Metapher sowie auch ihre wörtliche Bedeutung die Bedeutung des Gesamtausdrucks mit bestimmt.

4.2.3 Semantische Prosodie

Der Ausdruck auf allen Hochzeiten tanzen wird im Korpus sowohl mit impliziter negativer als auch mit positiver Bewertung verwendet. Die Auswertung des Kollokationsprofils ergibt keine klare Präferenz für Kollokatoren mit negativ-wertender Bedeutung. Im Belegkorpus des Idioms auf allen Hochzeiten tanzen sind sehr viele Belege aus dem Bereich der Sportberichterstattung enthalten. In den meisten dieser Belege nimmt das Idiom die von der Wertung her neutrale Bedeutung 'an allen Turnieren teilnehmen' an. Diese Tatsache mag dem Übergewicht der Textsorte Presse im Korpus geschuldet sein.

4.3 Etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen

Das Idiom jmd. hat etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen trägt vor allem zu den Themen Idiomatizität und Motiviertheit noch neue und wichtige Aspekte bei. Zu beobachten ist beim Ausdruck insbesondere eine relativ starke Variabilität des Verbs. Die Variabilität bewegt sich dabei in klar definierbaren Grenzen und resultiert in diesem Fall vor allem aus der Nähe zwischen wörtlicher und metaphern-interner Lesart. Die geringe Variabilität der Präpositionalphrase hingegen lässt auf eine geringe semantische Autonomie ihrer Komponenten schließen. Die Untersuchung der Kriterien für die Beurteilung der Motiviertheit des Ausdrucks führt auch im Falle von etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen zu dem Ergebnis, dass typische Merkmale der Kontexteinbettung dieses Idioms - in diesem Fall der semantische Typ des direkten Objekts sowie Assoziationen an die eröffnete Metaphorik im Kontext - in klarer Verbindung mit den wörtlichen Komponentenbedeutungen sowie der Metapher und der Bedeutung der Komponenten innerhalb der Metapher stehen.

4.3.1 Idiomatizität

Das Profil des Idioms etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen nach den Kriterien für Idiomatizität auf der Basis seiner 166 Korpusbelege ergibt eine relativ starke Inflexibilität der Präpositionalphrase bei gleichzeitig starker Variabilität des Verbs. Insgesamt findet sich nur vier Belege für Kompositumbildungen ("Vatermilch", "Echt-Kuhmilch") sowie fünf Belege für Adjektivattributionen an das Nomen Muttermilch ("mit der abergläubischen/kommunistischen/linksliberalen Muttermilch"). Diese Attribute beziehen sich weder auf die wörtliche Bedeutung des Nomens wie im Fall von etw. aus dem Ärmel schütteln, noch dienen sie direkt der thematischen Spezifikation einer semantisch autonomen Nomenbedeutung auf der phraseologischen Ebene. Vielmehr beschreiben diese Attribute genauer die Herkunft der Person, von der gesagt wird, sie habe etwas mit der Muttermilch eingesogen. Die Attribute nehmen damit Bezug auf die im Nomen Muttermilch transportieren metaphorischen Assoziationen.

(22) Ich bin noch ein Kind der Vergangenheit, ich bin noch nicht geheilt von jener knechtischen Demuth, jener knirschenden Selbstverachtung (. . .), die wir mit der abergläubischen Muttermilch eingesogen.
(Süddeutsche Zeitung 13.12.1997, S. 90)

Sehr breit ist hingegen die Varianz des Verbs, die hier in einer Tabelle dargestellt ist:

Verb

Anzahl Belege

Verb

Anzahl Belege

einsaugen

86

bekommen

1

aufsaugen

48

lernen

1

hineinsaugen

1

einflößen (passiv)

8

einnehmen

1

eingeben (passiv)

1

einziehen

1

injizieren (passiv)

1

trinken

3

verabreichen (passiv)

1

schlürfen

1

eingießen (passiv)

1

sich einpfeifen

1

eintrichtern (passiv)

1

aufnehmen

9

mitgeben (passiv)

1

erfahren

1

beibringen (passiv)

1

mitkriegen

2

erziehen (passiv)

1

mitbekommen

2

   

Die Tabelle zeigt bereits, dass die Verben sich in semantische Gruppen einteilen lassen: Zunächst finden sich mit "einziehen", "trinken", "einnehmen" etc. eine Reihe von Quasisynonymen der beiden kanonischen Verben einsaugen und aufsaugen. Eine weitere Gruppe ("erfahren", "lernen", mitkriegen" etc.) entspricht etwa der übertragenen Bedeutung des Verbs in diesem Idiom. Die beiden letzten Gruppen schließlich lassen sich als Konverse der beiden ersten beschreiben: "einflößen", "verabreichen", "eingeben" etc. entsprechen der ersten Gruppe, und "eintrichtern", "mitgeben", "beibringen" etc. entsprechen der zweiten. Die Varianz des Verbs erscheint also auf den ersten Blick sehr groß, auf den zweiten aber erkennt man, dass die Möglichkeiten der Substitution semantisch beschränkt sind. Aus den beschriebenen Daten lässt sich daher folgern, dass dem Verb im Idiom etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen eine semantisch autonome Rolle zukommt, wohingegen die Präpositionalphrase, deren übertragene Bedeutung etwa mit 'schon sehr früh' beschreibbar ist, nicht weiter in semantisch autonome Bestandteile untergliedert werden kann. Die semantische Autonomie des Verbs lässt sich dabei wohl nicht zuletzt darauf zurückführen, dass seine Bedeutung innerhalb der Metapher seinem Bedeutungsbeitrag zur phraseologischen Ebene ('in sich aufnehmen') sehr nah ist.

4.3.2 Motiviertheit

Wie die beiden ersten analysierten Ausdrücke zeigt auch die Verwendung des Idioms etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen eine starke Beeinflussung durch Metapher und Komponentenbedeutungen. Die Motiviertheit dieses Idioms lässt sich einerseits an der kontextuellen Wirkung seiner Metaphorik ablesen, andererseits zeigt auch die semantische Präferenz, die zwischen dem Idiom und der lexikalischen Besetzung seiner direkten Objektstelle erkennbar ist, den Einfluss der Motivation: In 12 von 40 eingehender analysierten Belegen sind im Kontext Elemente zu finden, die in einem semantischen Zusammenhang mit den Bereichen 'Familie', 'Kindheit' stehen. Dazu gehören solche Elemente wie "Enkel", "geboren und aufgewachsen" "Tradition", "Vaterland", "Sorge und Obhut", "Eltern" etc. sowie die Gegensatzrelation, die zwischen dem Idiom und Kontextelementen wie "Annäherung im Erwachsenenalter" und "das Gefühl für Tierzucht kann man nicht erwerben" besteht.

Gleichzeitig ergibt sich bei der Durchsicht der lexikalischen Belegungen der direkten Objektstelle eine klare semantische Präferenz für Lexeme und Phrasen, die sich als 'Ideologien', 'Einstellungen', 'Neigungen' und 'intuitive Fähigkeiten' klassifizieren lassen. Dazu gehören unter anderem "Antisemitismus", "Misstrauen gegenüber der Staatsmacht", "der Hang zum Trivialen und zum kulturell verbrämten trash" und "Rhythmik". Zwischen dieser semantischen Klasse und der Metapher des Idioms besteht insofern ein Zusammenhang, als die Vorstellung, etwas als Kind durch Vermittlung der ersten sozialen Kontaktpersonen, der Mutter bzw. der Eltern und des Elternhauses erfahren zu haben mit einer besonders tiefen, vorbewussten Verankerung dieser Inhalte verbunden ist.

Einer der drei Belege für das Kriterium Mehrfachlesart soll schließlich die Bedeutung dieses Kriteriums illustrieren:

(23) Über die Kunst des Weinmachens sagt er: "Wenn man im Burgund aufwächst, saugt man den Wein schon mit der Muttermilch ein, und wenn die Trauben richtig reif und gesund sind, macht sich der Wein sowieso von selbst, man muss nur die Natur walten lassen".
(Neue Zürcher Zeitung 15.08.1998, S. 103)

Im zitierten Beleg sind beide Lesarten gleichzeitig präsent: zum einen die wörtliche, insofern kommuniziert wird, dass im Burgund das Weintrinken so alltäglich ist, dass Mütter, die ja selbst Wein trinken, diesen Wein ihren Säuglingen durch die Muttermilch weitergeben, so dass schon kleine Kinder an das Weintrinken gewöhnt sind. Diese Lesart ist in dem Beispiel selbstverständlich nicht wirklich ernsthaft gemeint, aber es wird mit dieser Assoziation gespielt. Auf der phraseologischen Ebene vermittelt die Verwendung des Ausdrucks im Kontext, dass der Wein zum Burgund so sehr dazugehört, dass die Menschen, die dort geboren werden und aufwachsen von klein auf ein enges Verhältnis zum Wein entwickeln und dadurch beinahe von Natur aus gute Kenntnisse über guten Wein und die Herstellung von Wein haben. Die beiden Lesarten überschneiden sich insofern, als man sich vorstellen kann, dass jemand, der von Kind auf in engen Kontakt mit Wein kommt, sich quasi zu einem natürlichen Experten auf diesem Gebiet entwickelt. Insofern zeigt diese gleichzeitige Präsenz von wörtlicher und phraseologischer Lesart den motivierten Zusammenhang der beiden Ebenen.

4.3.3 Semantische Prosodie

Für das vorliegende Idiom konnte weder eine Präferenz für positiv-wertende noch für negativ-wertende Kollokate festgestellt werden.

 

5 Ergebnisse und Ausblick

Die Analyseergebnisse der korpusbasierten Untersuchung zeigen, dass die im ersten Abschnitt entworfene Methode geeignet ist, Aussagen über Idiomatizität, Motiviertheit, Expressivität (im Sinne einer positiven oder negativen Konnotiertheit) und Festigkeit von idiomatischen phraseologischen Ausdrücken mit Hilfe empirischer Daten zu gewinnen. Gleichzeitig wird durch die Untersuchung deutlich, dass eine direkte Inferenz aus dem quantitativen Vorkommen der angenommenen Kriterien Attribution, Substitution, Transformation, parallele Kontextstrukturen, kontextuelle Wirkung der Metapher, typische Eigenschaften der kontextuellen Einbettung etc. auf diese Eigenschaften nicht möglich ist. Die gewonnenen Daten bedürfen der weitergehenden Interpretation. So wurde beispielsweise gezeigt, dass sowohl Hochzeiten, als auch Ärmel und Muttermilch durch Adjektiv- und Genitivattribute erweitert werden. Die Funktion dieser Attribute ist jedoch in jedem der drei Fälle unterschiedlich: Die Modifikatoren zum Nomen Ärmel beziehen sich auf die wörtliche Bedeutung dieser Komponente und dienen der näheren Beschreibung der äußeren Erscheinung der Person, von der die Rede ist. Die Modifikatoren zu Hochzeiten beziehen sich auf die semantisch autonome übertragene Bedeutung dieses Nomens und dienen der Anpassung dieser übertragenen Bedeutung an den konkreten Kontext. Die Modifikatoren zu Muttermilch schließlich nehmen auf den metaphorischen Gehalt dieser Komponente Bezug. Auch die Substitutionen von Komponenten können sehr unterschiedlicher Natur sein. So wird im vorliegenden Artikel die häufige Substitution von schütteln durch ziehen aus den genannten Gründen dahingehend interpretiert, dass sich dadurch ein eigenständiger Ausdruck mit einem eigenen Verwendungsprototypen konsituiert, wohingegen die Substitutionen des Verbs einsaugen bzw. aufsaugen bei etw. mit der Muttermilch einsaugen/aufsaugen durch ihre Freiheit bei gleichzeitiger semantischer Systematizität für dessen semantische Autonomie sprechen.

Einige der hier angenommenen Kriterien, wie etwa die Deutung von typischen Eigenschaften der kontextuellen Einbettung im Sinne eines Indizes für systematische Motiviertheit mögen spekulativer erscheinen als andere. Dazu lässt sich sagen, dass natürlich die gesamte vorgeschlagene Methode des Rückschließens von beobachtbaren Phänomenen auf Merkmale wie Idiomatizität oder Motiviertheit auf Interpretation beruht. Es sei jedoch hier darauf hingewiesen, dass sie diesen Nachteil mit allen linguistischen Methoden gemein hat. Ein Vorteil der vorgeschlagenen Methode ist hingegen zum einen, dass sie sich auf natürliche (im Gegensatz zu konstruierten, in einer künstlichen Experimentsituation entstandenen oder auf metasprachlicher Reflexion beruhenden) Sprachäußerungen stützt und dass sie zum anderen alle ihre Induktionsschritte auf angebbaren Datenmengen begründet und explizit macht.

Insgesamt lässt sich sagen, dass jeder der analysierten idiomatischen Ausdrücke ein stark idiosynkratisches Verwendungsprofil aufweist. Dadurch ist zwar die Identifikation von Kriterien zur empirischen Beurteilung von Merkmalen wie Idiomatizität etc. möglich, diese müssen aber in ihrer Gesamtkonstellation für jedes Idiom einzeln betrachtet und bewertet werden. Die Variabilität des Quantors in der Präpositionalphrase auf allen Hochzeiten ergibt z. B. erst in ihrer Relation zu den häufigen anaphorischen Referenzen und parallelen Kontextstrukturen ein sinnvolles Gesamtbild.

Des Weiteren lässt die Untersuchung die Schlussfolgerung zu, dass die spezifische Bedeutung dieser phraseologischen Ausdrücke aus dem Zusammenspiel von phraseologischer, metaphorischer und wörtlicher Ebene entsteht. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die unterschiedlichen Bezugsebenen der Attribute hingewiesen. Ein weiteres Beispiel ist der Fall des Idioms auf allen Hochzeiten tanzen, bei dem insbesondere die Komponente Hochzeiten eine semantisch autonome übertragene Bedeutung trägt. Gleichzeitig machen aber auch kontextuelle Assoziationen an die durch das Idiom eröffnete Metapher die Beteiligung der metaphorischen Ebene am Zustandekommen der Gesamtbedeutung deutlich (cf. Beispiel (21)). Die vorgestellten Analysen zeigen außerdem eine grundsätzliche Motiviertheit der untersuchten Ausdrücke. Die Motiviertheit wird dabei nicht ad hoc in bestimmten Kontexten konstruiert, sondern sie zeigt sich in typischen Kontextmerkmalen als konstante Eigenschaft der Idiome. Diese hier festgestellten generellen Tendenzen bestätigen sich auch im Rahmen der größeren Untersuchung, der die drei Fallstudien entnommen sind.

Zuletzt sei an dieser Stelle noch auf einen möglichen Zusammenhang der korpusbasierten Vorgehensweise mit psycholinguistischen Untersuchungen zum Thema hingewiesen: Die Ergebnisse einiger psycholingistischer Untersuchungen lassen darauf schließen, dass bei der Verarbeitung von idiomatischen Ausdrücken grundsätzlich auch eine (teil-)kompositionale Analyse stattfindet (cf. u. a. Gibbs/Nayak 1989, Gibbs/Nayak/Cutting 1989, Gibbs 1990, Nayak/Gibbs 1991). Die vorliegende Untersuchung unterstützt diese Erkenntnis insofern, als gezeigt wird, dass Komponentenbedeutungen - sowohl wörtliche als auch übertragene, semantisch autonome - bei der kontextuellen Einbettung der untersuchten Ausdrücke eine wichtige Rolle spielen. Die Untersuchung liefert damit zusätzliche Evidenz gegen die generelle Gleichsetzung phraseologischer Ausdrücke mit "long words" (cf. Abschnitt 2.1). Die Korpusdaten könnten dabei als sichtbarer Niederschlag einer psychologischen Realität interpretiert werden. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich alle idiomatischen phraseologischen Ausdrücke diesbezüglich einheitlich verhalten (cf. Häcki Buhofer 1999). Ein weiterer Bezug besteht zu den Untersuchungen, die Häcki Buhofer (1999) referiert und die auf der Basis von Paraphrasierungen von Idiombedeutungen durch Sprecher auf große Vagheit und Uneinheitlichkeit in der Kenntnis der Bedeutungen vieler phraseologischer Ausdrücke hindeutet, während bei anderen übereinstimmend ähnliche Bedeutungsangaben gemacht werden: Die Korpusdaten zeigen für die untersuchten Ausdrücke eine klare Prototypenbildung, d. h. überindividuelle Einigkeit in Verwendung und Bedeutung der untersuchten phraseologischen Ausdrücke.

 

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