Dialektale Varietät als Fremdsprache unterrichten. Ein Erfahrungsbericht

Barbara Feuz (Bern)



1 Einleitung

"Meine ersten sprachlichen Eindrücke hatten einen Nachgeschmack. Sie bedeuteten Schock, Unverständnis, das Aufhören von Kommunikation. Obwohl ich während eines Jahres Deutschstunden genommen hatte, war die Ankunft in der Schweiz wie eine kalte Dusche; ich konnte nicht einmal die Begrüssungsformel verstehen. Was war mit meinen hart erarbeiteten Sprachkenntnissen geschehen? Wo waren meine Fortschritte geblieben? Der Dialekt hatte sie zunichte gemacht! Ich überspielte meine Betroffenheit mit einem Dauerlächeln, die Familienangehörigen meines Mannes taten es mit Blumen. Sie waren ausserordentlich nett, und sie sprachen auch Deutsch, aber nicht gerne, nach den ersten Sätzen wechselten sie auf Dialekt. Es war nicht absichtlich, sondern aus Gewohnheit. (.....) Deutsch lernen war gut, Dialekt verstehen war lebensnotwendig, und so pendelte ich hin und her gerissen zwischen den zwei Unbekannten." (Kummer 1991:62)

Dieses Zitat einer jungen Südamerikanerin steht stellvertretend für die Aussagen vieler fremdsprachiger Menschen, die ich während meiner Tätigkeit als Kursleiterin für Schweizerdeutsch kennenlerne. Sie realisieren, dass ihnen Standarddeutsch bei ihren Bemühungen, sich in der Deutschschweiz zu integrieren, nur bedingt helfen kann.

Die Tatsache, dass Fremdsprachige bei ihrer Ankunft in der Deutschschweiz fast im gesamten mündlichen Kommunikationsbereich mit einem Dialekt konfrontiert werden, der sich zum Teil erheblich von Standarddeutsch unterscheidet, ist vor allem für diejenigen, die sich für ihren Aufenthalt in der Deutschschweiz mit Deutschlernen vorbereitet haben, ärgerlich und frustrierend.

Diese zusätzliche Erschwerung wird in den allermeisten Fällen negativ erlebt. Es entstehen Vorurteile und Ablehnung dem Dialekt gegenüber und auch gegenüber den Menschen, die diesen Dialekt sprechen.

Diese Einstellung kann durch das Kennenlernen des Dialekts verändert werden.

Wenn Sie zunächst einmal selbst hören möchten, wie Berndeutsch klingt, dann finden Sie hier eine ganz kleine Hörprobe, nämlich den Anfang der ersten Lektion aus dem Lehrbuch Bärndütsch (Feuz 1995). Eine Umschrift und eine Übersetzung der Passage stehen ebenfalls zur Verfügung.


2 Mediale Diglossie

Die Erkenntnis, die ich aus der Erfahrung als Kursleiterin für Schweizerdeutsch gewonnen habe, zeigt, dass der Nutzen des Erlernens der dialektalen Varietät in erster Linie Versöhnung ist: Versöhnung mit der Sprachsituation in der Deutschschweiz. Viele Lernende geben mir in Gesprächen an, dass sie bei ihrer Ankunft in der Deutschschweiz gar nicht gewusst hätten, dass hier Standarddeutsch und die dialektalische Varietät gebraucht würden, dass ihnen Deutsch allein nur zum Teil genügen würde.

Die Sprachsituation der Deutschschweiz, die im allgemeinen als Diglossie, d.h. als Zweisprachigkeit von Mundart und Standardsprache, bezeichnet wird, ist durch jahrhundertealte staatliche und kulturelle Eigenständigkeit bedingt. Wir sprechen von medialer Diglossie, weil die Wahl - Dialekt oder Standardsprache - je nach Medium, Schriftlichkeit oder Mündlichkeit, vollzogen wird (Ammon 1995: 283). Heute trifft diese strikte Zuordung, Schriftlichkeit (Standarddeutsch), Mündlichkeit (Dialekt), nicht mehr ganz zu: die Mundart wird auch für schriftliche Kommunikation gebraucht (Reklame, Kartengrüsse, E-mails, SMS) und nach wie vor werden gewisse öffentliche Reden, Verhandlungen und Nachrichtensendungen auf Hochdeutsch gehalten. Stefan Sonderegger spricht in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung von einer "... totalen, medial weitgehend, aber nicht völlig geschiedenen Diglossie zwischen hochdifferenzierten Mundarten auf der einen Seite und einer schweizerisch gemässigten Form des Hoch- oder Standarddeutschen auf der anderen Seite." (Sonderegger 1999).

Die Tatsache, dass der Stellenwert der Mundart ist in den letzten Jahren stetig gestiegen ist, löst nicht nur eitel Freude aus, es gibt Stimmen, die befürchten, das Hochdeutsch des Schweizers und Schweizerin werde immer unzureichender, die Sprachkompetenz in der Standardsprache ginge zurück und führe somit zu einem Verlust der Verständigungsfähigkeit inner- und ausserhalb der Schweiz. Es würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, dieser Frage weiter nachzugehen. Wichtig für mich bleibt, dass die Mundart auf der einen Seite Gebiete erobert hat (Radio, TV, Kirche) und mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten im E-Bereich neue Gebiete dazu gewonnen hat.


3 Teilnehmer-Analyse

Ich unterscheide zwischen internen Dialekt-Sprachkursen in öffentlichen oder privaten Unternehmen, bei denen der berufliche Hintergrund der TeilnehmerInnen recht homogen ist (dazu zähle ich auch die Kurse an der Universität Bern, an der ich fremdsprachigen Studentinnen und Studenten Berndeutsch unterrichte) und zwischen "Freizeit"-Kursen an Sprachschulen, bei denen die TeilnehmerInnen alters- und berufsmässig sehr verschieden sein können. Da finden sich Informatiker aus den USA, Hausfrauen aus Rumänien, Lehrerinnen aus Südamerika, Orthopäden aus Deutschland, Kellner aus Italien und Ingenieure aus der Romandie...

Allen gemeinsam ist, dass das Bildungsniveau recht hoch ist. Im Vergleich zum Beispiel zu DaF(Deutsch als Fremdsprache)-Kursen kann in Dialektkursen mit lerngewohnten Teilnehmenden gerechnet werden. Die meisten haben zuvor mindestens eine weitere Fremdsprache gelernt (oft ist es standarddeutsch).

Die persönliche Motivation ist sehr verschieden und von höchstem Interesse.

Sehr oft sind es berufliche Gründe. Zum Beispiel wird angegeben, dass der Kontakt mit Kunden entscheidend ist (sei das im Verkauf, im Spital oder anderen Geschäften).

Dazu einige Zitate aus einer Umfrage bei KurseilnehmeriInnen (solche Umfragen gehören zur individuellen Kursplanung und werden jeweils am Anfang eines Kurses durchgeführt):

Familiäre und private Gründe werden auch oft genannt: Vor allem junge Frauen, die durch ihre Heirat in die Deutschschweiz gekommen sind, möchten ihre neue Familie verstehen und spätestens, wenn ihre eigenen Kinder Mundart sprechen, ist die Motivation gross genug, einen Kurs zu besuchen.

Auffallend ist, dass immer wieder festgestellt wird, dass die DeutschschweizerInnen keine Lust haben, Standarddeutsch zu sprechen. Die Fremdsprachigen lassen sich durch diese Beobachtung zum Dialektlernen animieren:

So kann ich verallgemeinernd sagen, dass sich die Kursteilnehmerinnen aus beruflichen und/oder privaten Gründen zu einem Kursbesuch entschliessen, dass sie alle mehr oder weniger sensibel auf Kommunikationsstörungen reagieren, die sie der Hochdeutsch-Verdrossenheit des Deutschschweizers zuordnen. Zudem haben sie meistens gute Hochdeutschkenntnisse. Und - m.E. ein wichtiger gemeinsamer Punkt: Diese Menschen wollen sich bei ihren Intergrationsbemühungen anstrengen, sie machen den ersten Schritt, sie nehmen den schwierigen Weg auf sich und passen sich an, auch wenn er oder sie im sprachlichen Umgang auf der Dialektstufe der Unterlegene ist.

Der Vorwurf, die Frage der Anpassung sei einseitig den Fremdsprachigen zugeschoben, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Das Problem unserer Sprachsituation wird aber nicht gelöst durch die simple Forderung, dass mit Fremdsprachigen vermehrt hochdeutsch gesprochen werden sollte, damit die Kommunikation etwas symmetrischer und weniger von Ungleichgewicht bestimmt sei! Die Abneigung, hochdeutsch sprechen zu müssen, ist bei vielen Deutschschweizern spürbar. Gewissen Gesprächssituationen wird ausgewichen, wenn nicht so gesprochen werden kann "wie uns der Schnabel gewachsen ist."

Friedrich Dürrenmatt hat es so beschrieben: "Ich rede Berndeutsch und schreibe Deutsch. Der deutschschweizerische Schriftsteller bleibt in der Sprache dessen, der anders redet, als er schreibt. Zur Muttersprache tritt gleichsam die Vatersprache. Das Schweizerdeutsche als seine Muttersprache ist die Sprache seines Gefühls, das Deutsche als seine Vatersprache ist die Sprache seines Verstands, seines Willens." (Dürrenmatt, zitiert nach Flückiger 1989: 81)[1]


4 Ziele und Inhalte

Als generelles und übergeordnetes Ziel der Schweizerdeutschkurse kann festgehalten werden:

Der Unterricht soll einen Beitrag leisten zur Erleichterung der Integrationsbemühungen von fremdsprachigen Menschen in der Deutschschweiz.

Das bedeutet, dass die angestrebten Ziele übers reine Sprachlernen hinausgehen müssen und sozio-kulturelle Aspekte einfliessen.

Ich unterscheide folgende Ziele:

Kommunikation im Alltag:

Sprachenvergleich:

Sozio-Kultur:

Aus diesen Zielen ergeben sich folgende Inhalte:

Redemittel:

Die Progression reicht von sprachlich einfachen Situationen (z.B. begrüssen, danken, sich entschuldigen) bis zu komplexeren (z.B. Geschäft, Telefon), vom Basiswortschatz (wie Zahlen und Wochentage) zu Listen mit Wörtern, die nicht vom Standarddeutschen ableitbar sind.

Hörverstehen:

Die Unterrichtssprache ist von Anfang an der Dialekt.
Dialoge, Gespräche und Lieder werden gehört.
Dem Lesen und Schreiben wird keine oder nur wenig Bedeutung zugemessen. (Schreiben als Gedächtnis- und Lernhilfe und Lesen von literarischen Texten als Bestandteil der typischen Kultur haben einen eigenen Wert und werden natürlich berücksichtigt!)

Grammatik:

Vor allem Phänomene, die vom Standarddeutschen abweichen (z.B. Relativpronomen, fehlendes Imperfekt und Futurum) und die Konjugation frequenter Verben.


5 Didaktische Grundsätze

Die besonderen Bedingungen der Vermittlung einer dialektalischen Varietät:


6 Lernerfolg

Es ist für mich als Kursleiterin immer wieder erstaunlich, wie rasch die Lernenden gerade zu Beginn eines Kurses Fortschritte machen. Nach wenigen Kurswochen (mit je 1x90 Min Unterricht) erhalte ich äusserst positive Rückmeldungen.
Die Verstehensleistung ist enorm gewachsen.

Dieser hohe Lerneffekt in kurzer Zeit lässt sich aus verschiedenen Gründen erklären:

Die erwähnten Lernziele (s.o.) werden in der Regel innerhalb eines Jahres erreicht. Selbstverständlich ist es sehr individell, was unter dem Kommunikationsziel " Verstehen eines Gesprächs" gemeint wird: Für einen Teilnehmer genügt es, die Bäckersfrau im Quartier zu verstehen, wenn sie ihm den Brotpreis nennt, jemand anderem ist es wichtig, mitzubekommen, was seine Kollegen in der Wohngemeinschaft erzählen, andere wiederum streben danach, kompliziertere Diskussionen verfolgen zu können. Je nachdem richtet sich denn auch der Fokus und die Anstrengung.

Nach wenigen Wochen ist es möglich, im Unterricht neben den Hörverstehen- und Konversationsübungen leichte literarische Texte zu lesen.

Abschliessend stelle ich fest, dass mit überraschend wenig Aufwand die meisten TeilnehmerInnen viel erreichen können:

Abbau von Hemmungen und Verminderung des Fremdheitsgefühls, Erleichterung von Kontakten und schliesslich die angestrebte Verbesserung der Integration.


Anmerkungen

1 Die Aussage machte Dürrenmatt ursprünglich in einem Interview des "Brückenbauers" Nr. 35, am 29.8.1989 [zurück].


Literaturverzeichnis

Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Berlin/New York.

Baur, Arthur (1938/ 111997): Schwyzertüütsch. Grüezi mitenand. Winterthur.

Ferguson, Charles (1959): "Diglossia". Word 15: 325-340.

Feuz, Barbara (1995): Berndeutsch.Ein Lehrgang für Ausländer und Nicht-Deutschschweizer. Muri bei Bern.

Flückiger, Walter (ed.) (1989): Welt der Wörter 3. Lehrmittelverlag des Kt. Zürich.

Kummer, Irmela et al. (1991): Fremd in der Schweiz. Texte von Ausländern. Muri bei Bern.

Maurer, Ernst (2000): Deutsch in der Schweiz. Zug.

Pinheiro-Weber, Ursula / Weber, Jürg (1992): Bärndütsch - le bernois sans peine. Langnau.

Sieber, Peter / Sitta, Horst (1986): Mundart und Standardsprache als Problem der Schule. Frankfurt a. M.

Sonderegger, Stefan (1999): "Bewegung im Sprachlaboratorium. Schweizerdeutsch und Hochdeutsch aus sprachwissenschaftlicher Sicht". In: Neue Zürcher Zeitung. Zürich. 31.Juli / 1.August.

Steffen, M. / Bride, E. (1994): Dictionnaire schwiizertüütsch-französisch. Lausanne.

v.Büren, J.T. (1999): Comprendre le schwyzertütsch, cours autodidacte avec cassette, variantes bernoises, zurichoises et bâloises. Savagnier.

Zwicky, Marcel (o.A.): Modärns Schwyzertütsch. Fribourg.