Eurolinguistik und Europäistik als Fächer der
Universitäten
1 Einleitung
Unbemerkt vom breiten Mainstream der heutigen Linguistik hat sich in den
letzten Jahren eine neue Richtung der Sprachwissenschaft etabliert, die
ein europaweites Szenario der miteinander interagierenden europäischen
Sprachen einführt: die Eurolinguistik. Seit Bildung dieses
Terminus durch Nobert Reiter (cf. Reiter 1995) hat eine Reihe von
Aktivitäten
stattgefunden, die eine neue Ausrichtung der Sprachforschung mit menschlichem
Antlitz versprechen. Das mehrsprachige Individuum, Sprachkontakte und
Interaktion
zwischen den europäischen Sprachen (Sprachkontakttypologie) stehen
im Zentrum der Aufmerksamkeit der Eurolinguisten, vgl. Thesen 1 und 2 im
Pushkin-Manifest (siehe auch Anhang 1):
These 1: Ausgehend von der Überzeugung, daß der
Mensch mit einer faculté du langage geboren ist, die nicht
monolingualer, sondern multilingualer Natur ist, stellt die Eurolinguistik
das mehrsprachige Individuum ins Zentrum der Forschung.
These 2: Im Fokus der Eurolinguistik steht linguistische und
kulturelle Divergenz oder Konvergenz, die durch den Einfluß von
Mehrsprachigkeit
entstanden ist.
Der vorliegende Artikel wird einige eurolinguistische Aktivitäten
der letzten Jahre zusammenfassen (Kap. 2) sowie die Möglichkeit einer
Reformierung und Modernisierung der wissenschaftlichen Ausbildung in den
Nationalphilologien an den europäischen Universitäten erörtern,
die besonders im sprachwissenschaftlichen Bereich längst fällig
ist, um den neuen Bedürfnissen einer europaweiten Orientierung gerecht
zu werden. Es geht dabei um eine notwendige Integration der Eurolinguistik
und anderer Geisteswissenschaften in einem neuen europaübergreifenden
Fach an den Universitäten: der Europäistik (vgl. Kap.
3).
2 Eurolinguistische Aktivitäten
2.1 Die Kluft zwischen Modernisierung und Stagnation
Trotz der großen Innovationsschübe, die heute von der Wirtschaft
und
der modernen elektronischen Technik ausgehen, verharren die
alteingesessenen Nationalphilologien
und Humanwissenschaften in starren nationalen Formen und erweisen sich als
unfähig,
Europa und seine Sprachen unter einer neuen, transnationalen Perspektive zu
betrachten.
Die Einigung Europas unter Bewahrung seiner Vielfalt ist politisch und
wirtschaftlich
im vollen Gang. Dennoch bleibt die Struktur der Nationalphilologien an den
Universitäten
in ihrer Ausrichtung konservativ, und der enge nationale Schwerpunkt in der
Ausbildung
einer neuen, mehr europäisch ausgerichteten Jugend ändert sich kaum.
Die Nationalstaatsgrenzen setzen oft auch sprachliche Barrieren, so daß
die Nationalphilologien ihre Perspektive auf ein national abgestecktes
geographisches
Gebiet eingrenzen, obwohl keine europäische Sprache (mit Ausnahme der
Inselsprachen
Isländisch, Färöisch und Maltesisch) an der Staatsgrenze
aufhört,
sondern als grenzüberschreitende Minderheitensprache auch in anderen
Staaten
gesprochen wird. Trotz der groß angelegten Programme der
Europäischen
Kommission (Erasmus, Sokrates, Tempus, Leonardo usw.) gibt es seitens der
Bürokratie
der Kultusministerien und der Universitätsverwaltungen oft nur
Lippenbekenntnisse
zu Europa. Ein echtes Bekenntnis zu Europa und ein konkretes Handlungsprogramm
für eine Europäisierung der herkömmlichen
nationalphilologischen
Fächer und anderer Geisteswissenschaften, um dem engen Nationalismus
in den
Geisteswissenschaften entgegenzuwirken, sind nicht vorhanden. Solche
Pläne
scheitern meistens an dem sog. Subsidiaritätsprinzip, nach dem jedes
EU-Land
in eigenen Angelegenheiten selbst entscheidet, welche Ausbildungspolitik
betrieben
wird. Für die europaweite Anlage einer solchen Sprachpolitik fehlt es
außerdem
in jedem Mitgliedsland und auf allen Ebenen an Mitteln und an Kompetenz in
Forschung
und Lehre. Dies ist besonders in Ländern mit geringer Akzeptanz der
gegebenen
multikulturellen und multilingualen Strukturen wie der Bundesrepublik
Deutschland
so, wo weiterhin eine veraltete Ausländergesetzgebung aus dem Jahre 1913
gilt, die die Staatsbürgerschaft an das Abstammungsprinzip des Blutes und
nicht an das Territorium koppelt. Unter solchen Umständen kann eine
ethnologische,
europaorientierte Forschung mit Betonung der kulturellen Interaktion zwischen
den Völkern Europas, der Mehrsprachigkeit und der Kontaktlinguistik nicht
zum Tragen kommen, weder in den Studienplänen der Universitäten und
Schulen noch in den Erlassen der Kultusministerien. Im großen und ganzen
herrscht weiterhin ein national ausgerichtetes Ausbildungsprinzip vor und
bleiben
die Schulen und Universitäten Nationalisierungsinstrumente, die national
gesinntes Denken produzieren und kaum europabezogene Perspektiven
einführen,
und dies alles trotz der intensiven Europa-Debatte in Politik, Wirtschaft und
Medien. All dies passiert heute unter unseren Augen in einem Land, das im 19.
Jahrhundert das Land der Sprachwissenschaft par
préférence
war: Deutschland.
Angesichts der organisatorischen und konzeptionellen Mängel in
Europaangelegenheiten
kann man sich deshalb fragen, was die europäischen Schulen und
Universitäten
überhaupt zugunsten des lebenswichtigen länderübergreifenden
Europagedanken ausrichten können? Die große Zahl der
Europäisierer
in Technik, Wirtschaft, Handel und Industrie steht nämlich im scharfen
Kontrast zur Stagnation in den unterfinanzierten und schlecht ausgestatteten
Hochschulen der Bundesrepublik, die unter den Sparmaßnahmen und
Kürzungen
durch die Politiker leiden. Deren Haltung zu den Hochschulen ist
schizophren,
denn nach außen ist sie von Bejahung geprägt ("Wir sind für
Europa und die europäische Zusammenarbeit"), nach innen aber
propagieren
die Politiker den Sparzwang im Umgang mit den öffentlichen Mitteln
("Wir
müssen sparen"). Wenn gekürzt werden muss, sind meistens die
Geisteswissenschaften
das Opfer. Diese Politik hat zur Konsequenz , dass sich kaum ein
Schüler
oder Student in der Bundesrepublik kompetent genug fühlt, um in Sachen
Europa mitdiskutieren zu können. Die Kluft zwischen der blühenden
Globalisierung, der Technik, dem grenzenlosen Handel und Verkehr einerseits
und der Stagnation der Humanwisenschaften mit ihrem veralteten
Nationaldenken
andererseits schafft in Bezug auf europäische Zusammenhänge
Entfremdung
und Indifferenz, die überbrückt werden müssten, damit der
Europagedanke
bei der Jugend nicht nur zu einer leeren Floskel wird, wie es heute oft
schon
der Fall ist. Der Europagedanke steht und fällt mit der Akzeptanz unter
der Jugend. Niemand identifiziert sich mit dem Begriff Europäer oder
dem
Europa-Gedanken. Eine europäische Identität, die aus einer
Einsicht
der gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Relationen entsteht, gibt es in
der jüngeren Generation überhaupt nicht, von der älteren ganz
zu schweigen. Die Eurolinguistik und eine gerechte Europäistik
könnten
hier Abhilfe schaffen, und dies ist eines der wichtigsten Ziele des Pushkin
Manifests, vgl. Thesen 7 und 8:
These 7: Eine solche Sichtweise der gemeinsamen linguistischen
und kulturellen Grundlagen der europäischen Sprachen wird ein Gefühl
von europäischem Zusammenhalt entstehen lassen.
These 8: Ein solches europäisches
Zusammengehörigkeitsgefühl
von der Antike bis zur Moderne wird bei der Schaffung einer europäischen
Identität behilflich sein, die auch heute unter der jüngeren
Generation noch fehlt.
2.2 Europaweite Forschungsinstitute, Publikationen, Tagungen und
Vereine
Ungeachtet der Unfähigkeit der traditionellen Ausbildungssysteme,
europaweit zu denken und zu planen, haben sich in Europa schon in den 1970er
und 1980er Jahren einige Forschungszentren gebildet, die eine Korrektur
der Europa-Indifferenz des nationalphilologischen Establishments anstreben.
Man kann hier auf Zentren wie das Onderzoekscentrum voor Meertaligheid
an der Katholischen Universität Brüssel, das Centre for
Multiethnic
Research in Uppsala sowie das Centre for Research on Bilingualism
in Stockholm, Universitäres Forschungszentrum für
Mehrsprachigkeit
in Bern, Centro Internazionale sul Plurilinguismo in Udine usw.
hinweisen, die durch ihr Angebot von europaweiten Seminaren und Vorlesungen
über linguistische Minderheiten und ihre sozialen und sprachlichen
Probleme alle eine wichtige Funktion als "Europäisierer" an den jeweiligen
Universitäten haben. Hier ist ein unverzichtbares eurolinguistisches
Angebot vorhanden, das die ein eitigen Curricula der traditionellen
Sprachfächer
ergänzt (vgl. die umfassende Liste über solche Zentren und Institute
für Multilingualismus in Europa bei Villalta und Anzil, eds., 2000).
Neben der Gründung solcher europäischer multilingualer
Forschungszentren
sind auch einige wichtige Handbücher zur Kontaktlinguistik zu
erwähnen,
wie z.B. von Goebl et al. (eds.) (1996-1997) mit mehr als 2000 Seiten in
zwei Bänden, der Band VII des Lexikons der Romanistischen Linguistik:
Kontakt, Migration und Kunstsprachen von Holtus, Metzeltin und Schmitt
(eds.) (1998) sowie die Werke von Hinrichs (ed.) (1999) und von Hinderling
und Eichinger (eds.) (1996). Diese Handbücher beweisen eine enorme
Breite der europaweiten kontaktlinguistischen Forschung während der
letzten Jahrzehnte. Unerwähnt bleiben dürfen ferner nicht die
regelmäßig erscheinenden Tagungsakten, z.B. in der Reihe
Plurilingua
(Nelde,
ed., 1983-), Plurilinguismo (Gusmani, ed., 1994-1998) und
Sprachkontakt
in Europa (Ureland, ed., 1978-2001), die jeweils mehr oder weniger
unterschiedliche Aspekte europäischer Sprachkontaktforschung behandeln,
sowie die Z itschriften Multilingua (Berlin) und Journal of
Multilingual
and Multicultural Development (Exeter).
Seit Mitte der 1990er Jahre haben auch einige Tagungen zum Thema
Eurolinguistik
stattgefunden, und zwar zwei Symposien in Glienicke bei Berlin 1997 (vgl.
Reiter, ed., 1999) und in Pushkin, Russland, 1999 (vgl. Ureland, ed., forthc.),
wo der neue Terminus Eurolinguistik explizit für Sprachkontakte
nördlich der Alpen verwendet wurde, sowie eine Tagung in Udine, ebenfalls
1999 (vgl. Fusco / Orioles / Parmeggiani, eds., 2000) über Sprachkontakte
südlich der Alpen. Schließlich sollte hier auch der
Eurolinguistische
Arbeitskreis Mannheim (ELAMA) erwähnt werden, der
am 23.1.1999 von Dozenten und Studenten der Universitäten Mannheim,
Heidelberg und Tübingen gegründet wurde, um das europäische
Denken und den Europagedanken im Rhein-Neckar-Kreis anzuregen. Im April
desselben Jahres wurde er unter dem Namen ELAMA e.V. ins Vereinsregister
eingetragen (vgl. Ureland 2000 und die Homepage unter http://www.elama.de).
2.3 Kooperationspartner für Europäisierung
Das wissenschaftliche Programm des ELAMA für eine Zusammenarbeit
auf europäischer Ebene umfasst nicht nur Universitäten in
Baden-Württemberg
(Heidelberg, Mannheim und Tübingen), sondern auch
Partneruniversitäten
im Inland (Universität Leipzig), in anderen Mitgliedsstaaten der
Europäischen
Union (Strasbourg, Frankreich; Udine, Italien; Stockholm, Schweden) und
in Osteuropa (St. Petersburg, Russland; Vilnius, Litauen; Izmir, Türkei),
wo Forschung zu Themen wie Kontaktlinguistik, sprachliche Minderheiten
und Multilingualismus einen immer größeren Kreis von Interessenten
gewinnt, weil diese Themen die sprachliche Gleichberechtigung aller
europäischen
Sprachen sowie die Grundlage der friedlichen Koexistenz der Völker
in Europa berühren, vgl. Thesen 11 und 12:
These 11: Indem sie die Erforschung der europäischen
Minderheitensprachen
in Vergangenheit und Gegenwart unterstützt, unterstützt die
Eurolinguistik
auch die Gleichberechtigung der weniger verbreiteten Sprachen sowie ihre
unverzichtbaren Rechte bei der Sprachenverwendung in allen Domänen.
These 12: Mit ihrem europaweiten Programm wird die Eurolinguistik
das Verständnis der inneren Gründe der kulturellen, religiösen
und politischen Konflikte zwischen den größeren Sprachen sowie
auch zwischen den großen und den Minderheitensprachen in Europa
fördern,
womit sie einen Beitrag zur Friedensforschung leisten wird (siehe auch
die Europäische Charta der regionalen und Minderheitensprachen
von
1992).
Der ELAMA steht in regem Kontakt mit eurolinguistisch orientierten
Instituten an den hier erwähnten Universitäten und wirkt somit
für eine Europäisierung der Sprachforschung im Rhein-Neckar-Kreis
durch Vorträge, Gastdozenturen, den vom DAAD oder im Rahmen des
Erasmus-Programms
geförderten Austausch von Studenten mit Litauen, Skandinavien, Polen
und Russland. Durch die Schwerpunkte Sprachkontakt und
Multilingualismus
in Forschung und Lehre strebt der ELAMA in Zusammenarbeit mit den
oben genannten Instituten des In- und Auslands eine Modernisierung des
Lehrangebots zum Aufbau einer Europäistik an, insbesondere an Schulen
und Hochschulen Baden-Württembergs.
These 13: Eurolinguistik ist ein integrierter Teil einer neuen
interdisziplinären Ausrichtung der Europäistik mit dem Ziel,
von der Grundschule bis hin zur Universität ein Europa-orientiertes
Programm zur Ausbildung junger Europäer zu fördern.
Vor diesem Hintergrund verfolgt ELAMA im Einzelnen folgende Ziele:
Ziel 1: |
Erwerb sprachwissenschaftlicher Fachliteratur über Sprachkontakt,
sprachliche Minderheiten und Multilingualismus sowie allgemeiner Literatur
zum Thema "Europäistik" für eine "Europa-Bibliothek" im
Zentrum Mannheims. |
Ziel 2: |
Veranstaltung von Vorträgen über europarelevante Themen in
der Sprachwissenschaft und Europäistik zwecks Verbreitung
europäisch-orientierten
Gedankengutes im Rhein-Neckar Gebiet. |
Ziel 3: |
Einrichtung eines eurolinguistischen Forschungsprojekts
im Rhein-Neckar
Kreis und Zusammenarbeit mit Europa-Freunden im In- und Ausland bei der
Erforschung der gemeinsamen Strukturen und Typologien in den
europäischen
Sprachen und Kulturen, auch mit dem Ziel einer Kooperation in Sachen
"Europäistik"(vgl.
These 13 oben). |
Ziel 4: |
Gründung eines Forschungszentrums für Eurolinguistik und
Europäistik im Raum Mannheim-Heidelberg im Anschluss an die geplante
"Europa-Bibliothek". |
Durch Vereinssitzungen mit Vorträgen zum Thema "Eurolinguistik"
wirkt der ELAMA auf lokaler Ebene aktiv an der Verbreitung einer
gesamteuropäischen
Sichtweise der Sprachen und Kulturen in Europa mit.
3 Eurolinguistik als Hebel der Europäistik
Die Liste der Ziele und Aktivitäten von ELAMA ist Indiz eines
wohlüberlegten Aktionsplans mit dem Ziel eines neuen Faches
"Europäistik",
das in Forschung und Lehre neue Prioritäten setzt. Ein Vergleich der
Forschungsinstitute für Mehrsprachigkeit in den Mitgliedsländern
der Europäischen Union zeigt in dieser Hinsicht eine höchst
unterschiedliche
Forschungspolitik, was den Ausbau von multiethnischen und multilingualen
Forschungszentren mit einer gesicherten Finanzierung wie in anderen
Ländern
betrifft (vgl. Villalta und Anzil, eds., 2000). Während z.B. in Italien
(Udine, Padua) und Schweden (Uppsala, Stockholm) neue interdisziplinäre
Institute mit voll ausgebauten kontaktlinguistischen und multilingualen
Schwerpunkten in Forschung und Lehre vorhanden sind, ist die Bundesrepublik
Deutschland, die kein einziges multilinguales oder multiethnisches
Forschungszentrum
besitzt (Stand 2000), absolutes Schlußlicht. Stattdessen wird eine
groß Anzahl linguistischer Lehrstühle gekürzt oder sogar
gestrichen, besonders in Baden-Württemberg (in Tübingen und
Heidelberg),
wo vor den Streichungen Ansätze zu ethnologischer und multilingualer
Forschung vorhanden waren. Trotz der großen Flut von Arbeitsimmigranten
und Ausländern in den deutschen Ballungszentren (im Jahre 2001 waren
in Deutschland 7 Millionen Ausländer gemeldet!) sehen die heutigen
Politiker keinen Anlass, Forschung über Mehrsprachigkeit und
Sprachkonflikte
zu unterstützen. Nationalphilologische Fächer werden dagegen
nicht abgebaut, sondern in unverändertem Ausmaß weiterbetrieben,
obwohl sie das europaweite Angebot in eurolinguistischem oder
europäistischem
Sinne nicht leisten können. Trotz großer politischer Aussagen
und Lippenbekenntnis ist offensichtlich, dass die Politiker andere, nationale
Prioritäten statt der europaorientierten setzen. Heute ist Europa
in der deutschen Ausbildungspolitik kein großes Thema. Neuberufene
Wissenschaftsminister betreiben nicht den Aufbau, sondern den Abbau der
Humanwissenschaften, stets unter Berufung auf die Modernisierung und
Europäisierung
der technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen. Diese Auffassung
von Modernisierung bei gleichzeitigem Abbau der Humanwissenschaften steht
im eklatanten Gegensatz zur europafreundlicheren Forschungs- und
Ausbildungspolitik
in anderen Ländern wie Schweden, der Schweiz, Belgien, den Niederlanden,
Großbritannien und Italien.
Ein weiteres Beispiel auf europäischer Ebene ist die Gründung
des
Büros für weniger verbreitete Sprachen in Dublin (1981) und in
Brüssel (2000), das für interethnische und sprachpolitische Ziele
in der EU wirkt. Mit der Verabschiedung der Europäischen Charta
für
regionale und Minderheitensprachen (1992) und ihrer Ratifizierung durch
zehn Mitgliedstaaten des Europarates (Stand 2001) ist ein Schutz für
die
weniger verbreiteten Sprachen in Europa gewährleistet, der große
Konsequenzen für ihren Fortbestand und ihre Funktion haben wird. Die
europaweite
multilinguale Sprachforschung an den oben genannten europäischen
Forschungszentren
sowie die Bemühungen um einen Schutz der sprachlichen Minderheiten
seitens
der Europäischen Kommission sprechen eine deutliche Sprache der
Besorgnis
um die Mehrsprachigkeit in Europa (vgl. Pushkin These 12). Im reichsten
Mitgliedsstaat
der EU, der auch die größte Anzahl von Zuwanderern hat,
nämlich
der BRD, erlebt man dagegen z.Z. eine Ausbildungs- und Forschungspolitik,
die
einen ernsten Niedergang der humanistischen und sprachwissenschaftlichen
Fächer
bedeutet, sowohl was die Finanzierung (d.h. die Anzahl von Stellen), als
auch
was die Integration der interethnischen Perspektiven in die Curricula der
Humanwissenschaften
betrifft - und das, obwohl die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998 die
Charta von 1992 unterschrieben und ratifiziert hat. Die
Auseinandersetzung mit
den Sprachen und Kulturen der Herkunftsländer der Einwanderer
müßte
eine unverzichtbare Komponente in jedem Studienplan der
Universitäten und
jeder angemessenen Schulausbildung sein. In einem Land wie die BRD mit so
vielen
ausländischen Zuwanderern ist es eine menschliche und politische
Katastrophe,
die Jugend nicht besser auf Europa vorzubereiten. Die zahlreichen
gewaltsamen
Ausschreitungen gegen Ausländer und der Fremdenhass sind eine
Konsequenz
dieser Ausbildungspolitik, auch wenn sicherlich noch weitere Gründe
dahinterstecken.
These 10: Ein Gefühl einer europäischen Identität,
das durch die Überzeugung von einem europäischen Erbe begründet
ist, wird helfen, das Heranwachsen radikaler nationaler Bewegungen und
ethnische Diskriminierung zu verhindern.
Das Versäumnis der deutschsprachigen Länder, in diesem Sinne
die Wende zur Europäistik zu vollziehen, äußert sich in
der fehlenden Unterstützung für eine Europa-orientierte Ausbildung
in Fächern wie Archäologie, Griechisch, Latein, Allgemeiner
Sprachwissenschaft
usw. Als abschreckendes Beispiel kann man die Zerschlagung der philosophischen
Fakultät in Mannheim sowie die dortige Streichung dieser
Europa-Fächer
nennen. Sie ist Ausdruck einer deutlichen Europafeindlichkeit und allgemeinen
Ignoranz kurz vor der Osterweiterung der europäischen Union und der
Einführung des Euros, zu einem Zeitpunkt also, da die kontaktbezogenen
internationalen Perspektiven für die heranwachsende Generation um
so wichtiger erscheinen. Die oben erwähnte Schizophrenie zwischen
öffentlicher Politik und innerer Geisteshaltung in Sachen Europa kommt
hier deutlich zum Ausdruck. Die These 14 des Pushkin-Manifests zu diesem
Thema verspricht eine gewisse Ak eptanz unter den Zuwanderern und ihren
Kindern:
These 14: Die Eurolinguistik wird auch ein notwendiges
mehrsprachiges
Programm für die Förderung der Ausbildung der Gastarbeiter und
Flüchtlinge mit ihren Kindern beinhalten, die durch lange Perioden
der Abwesenheit von ihren Heimatländern zu zweisprachigen Europäern
herangewachsen sind.
Da die Zuwanderer und ihre Kindern sich in ihrem Zwitterzustand zwischen
ihrem Ursprungsland und dem Gastgeberland als wahre Europäer bekennen
können, wird das herkömmliche nationalistische Ausbildungsmodell
für das zusammenwachsende Europa untauglich. Was für sie notwendig
sein wird, ist eine Ausbildung frei von nationalistischen Vorbildern aus
dem 19. Jahrhundert. Ihre Zwei- oder Mehrsprachigkeit lässt sie leicht
zu Trägern von zwei oder mehr Kulturen werden. Als Zweisprachige
können
Sie eine Brücke zwischen ihrem Heimatland und dem Gastgeberland schlagen.
Eine nationalistische einsprachige Ausbildung wirkt für diese Funktion
und ihre Integration schädigend und hemmend. Gerade um sie als die
ersten echten Europäer kümmern sich die nationalen Schulen und
Universitäten nämlich herzlich wenig, vgl. These 9:
These 9: Die Eurolinguistik wird zu einer Disziplin werden,
die nationalistischen Tendenzen in der Sprachwissenschaft entgegenwirkt
und die Ausbildungspolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
beim Auflösen vorurteilsbeladener nationaler Weltbilder
unterstützt.
Auch im Hinblick auf die Technologie und die innereuropäische
Kommunikation
zwischen den mehrsprachigen Menschen ist Mehrsprachigkeit von großem
Nutzen.
Im Internet nimmt die Bedeutung der Zwei- und Dreisprachigkeit für die
Kommunikation
immer weiter zu. Eine europaweite und sogar globale Kommunikation mit modernen
elektronischen Medien ist nur mit Hilfe von Fremdsprachenkenntnissen
möglich.
Um eine Verständigung zwischen den höchst unterschiedlichen
ethnischen
Gruppen zu ermöglichen, muss das multilinguale Individuum im Zentrum der
Ausbildungssysteme stehen. Gemeint sind damit nicht nur Zuwanderer in die
europäischen
Länder, sondern auch Zuwanderer weltweit, die für ihre
Migrationen von
der Mehrsprachigkeit abhängig sind. Der Mensch ist schließlich mit
einer faculté du langage geboren, die nicht einsprachiger,
sondern
mehrsprachiger Natur ist, vgl. These 1. Für die Verständigung
zwischen
den Sprachnationen sind Kenntnisse der sprachlichen und kulturellen
Differenzen
und Konvergenzen notwendig, die durch diese Mehrsprachigkeit entstehen, und
sie
stehen deshalb im Zentrum der Eurolinguistik, vgl. These 2.
Die Eurolinguistik kann sich aber nicht nur auf die Mehrsprachigkeit
in Europa konzentrieren, denn auch auf anderen Kontinenten werden
europäische
Sprachen und ihre pidginisierten und kreolisierten Varietäten gesprochen.
Dabei kommt also die Perspektive einer globalisierten Eurolinguistik zur
Geltung, vgl. These 16:
These 16: Die Kontakte der ehemaligen Kolonialsprachen in
Übersee
haben neue Pidgin- und Kreolsprachen geschaffen und als Katalysator für
die technische, ökonomische und kulturelle Entwicklung außerhalb
Europas und auf anderen Kontinenten gewirkt.
Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die zur weltweiten Verwendung
der europäischen Sprachen geführt hat, vgl. die Thesen 15 sowie
17:
These 17: Deshalb ist die Eurolinguistik eine Angelegenheit
nicht nur Europas, sondern einer Weltzivilisation in ihrer Funktion als
linguistischer Innovator für außereuropäische Sprachen.
Schließlich wird in Thesen 18-20 ein Aufruf formuliert, europaweite
Organisationen, Bibliotheken, Projekte und Institute für die Erforschung
der europäischen Mehrsprachigkeit einzurichten sowie auf dem Weg zu
einer künftigen Europäistik Zeitschriften zu gründen und
Tagungen und Symposien abzuhalten.
Literaturverzeichnis
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hg. von P. Sture Ureland. Band 66, 82, 92, 109, 125, 162, 168, 191, 238,
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Fusco, Fabiana / Oriloes, Vincenzo / Parmeggiani, Alice (eds.) (2000):
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Hinrich, Uwe (ed.) (1999): Handbuch der Südosteuropa-Linguistik.
Wiesbaden: Harrassowitz.
Hinderling, Robert / Eichinger, Ludwig M. (1996): Handbuch der
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Holtus, Günter / Metzeltin, Michael / Schmitt, Christian (eds.)
(1998): Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL). Band
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Plurilingua (1983- ), hg. von Peter H. Nelde. Bonn.
Plurilinguismo (1994-1998), hg. von Roberto Gusmani. Udine.
Reiter, Norbert (1995): "Eurolinguistik - Sinn und Verfahren".
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Mitteilungen 35: 30-38.
Reiter, Norbert (ed.) (1999): Eurolinguistik - Ein Schritt in die
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Ureland, P. Sture (2000): "Perspectives of Contact Typology and
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in Recent Symposia (Glienicke 1997, Pushkin 1999 and Udine 1999)". In:
Fusco / Orioles / Parmeggiani (eds.): 417-430.
Ureland, P. Sture (ed.) (demn.): Contact Typology:
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and the Rise of New Languages and Nations in Europe. Proceedings
of the 2nd Symposion on Eurolinguistics in Pushkin, Russia.
Sept. 10-16, 1999.
Villalta, Barbara and Barbara Anzil (eds.) (2000): Centri di ricerca
e di documentatione sul Plurilinguismo. Udine.
Anhang 1: Das Pushkin
Manifest [zurück]
Die Pushkin-Thesen
(formuliert im Zusammenhang mit dem 2. Internationalen Symposium über
Eurolinguistik im September 1999 in Pushkin, Russland)
A. Multilingualismus im Zentrum der Forschung und Multilingualismus als
Faktor der Glottogenese in der Eurolinguistik
These 1: Ausgehend von der Überzeugung, daß der Mensch
mit einer faculté du langage geboren ist, die nicht
monolingualer,
sondern multilingualer Natur ist, stellt die Eurolinguistik das mehrsprachige
Individuum ins Zentrum der Forschung.
These 2: Im Fokus der Eurolinguistik steht linguistische und
kulturelle Divergenz oder Konvergenz, die durch den Einfluß von
Mehrsprachigkeit
entstanden ist.
B. Kontakttypologien und Netzwerke von Sprachkontakten
These 3: Die Beschreibung der historischen und heutigen
Kontakttypologien
der europäischen Sprachen ist eine dringende Aufgabe der Eurolinguistik.
These 4: Die zugrundeliegenden historischen, politischen, sozialen
und ökonomischen Faktoren solcher Kontakttypologien sind für
die Beschreibung der binneneuropäischen und außereuropäischen
Einflüsse auf die Sprachen Europas unentbehrlich.
C. Gemeinsame sprachliche Charakteristika (Europäismen) als Spiegel
der Kontaktmuster
These 5: Deshalb sind die gemeinsamen linguistischen Charakteristika
der europäischen Sprachen zu beschreiben, die durch Kontakte der
europäischen
Völker untereinander im Laufe der Jahrhunderte durch Mischung entstanden
sind.
These 6: Das gemeinsame europäische Erbe, das diesen
Charakteristika
(Europäismen) zu Grunde liegt, soll der Allgemeinheit explizit
zugänglich
gemacht werden.
D. Europäismen, europäische Gemeinsamkeit und Identität
These 7: Eine solche Sichtweise der gemeinsamen linguistischen und
kulturellen Grundlagen der europäischen Sprachen wird ein Gefühl
von europäischem Zusammenhalt entstehen lassen.
These 8: Ein solches europäisches
Zusammengehörigkeitsgefühl
von der Antike bis zur Moderne wird bei der Schaffung einer europäischen
Identität behilflich sein, die auch heute unter der jüngeren
Generation noch fehlt.
E. Eurolinguistik, Nationalismus, nationale Weltbilder und Diskriminierung
These 9: Die Eurolinguistik wird zu einer Disziplin werden, die
nationalistischen Tendenzen in der Sprachwissenschaft entgegenwirkt und
die Ausbildungspolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
beim Auflösen vorurteilsbeladener nationaler Weltbilder unterstützt.
These 10: Ein Gefühl einer europäischen Identität,
das durch die Überzeugung von einem europäischen Erbe begründet
ist, wird helfen, das Heranwachsen radikaler nationaler Bewegungen und
ethnische Diskriminierung zu verhindern.
F. Eurolinguistik, weniger verbreitete Sprachen und
Sprachengleichheit
These 11: Indem sie die Erforschung der europäischen
Minderheitensprachen
in Vergangenheit und Gegenwart unterstützt, unterstützt die
Eurolinguistik
auch die Gleichberechtigung der weniger verbreiteten Sprachen sowie ihre
unverzichtbaren Rechte bei der Sprachenverwendung in allen Domänen.
These 12: Mit ihrem europaweiten Programm wird die Eurolinguistik
das Verständnis der inneren Gründe der kulturellen, religiösen
und politischen Konflikte zwischen den größeren Sprachen wie
auch zwischen den großen und den Minderheitensprachen in Europa
fördern,
womit sie einen Beitrag zur Friedensforschung leisten wird (siehe auch
die Europäische Charta der regionalen und Minderheitensprachen
von
1992).
G. Europäistik als ein Fach in der Ausbildung
These 13: Eurolinguistik ist ein integrierter Teil einer neuen
interdisziplinären
Ausrichtung der Europäistik mit dem Ziel, von der Grundschule bis
hin zur Universität ein Europa-orientiertes Programm zur Ausbildung
junger Europäer zu fördern.
H. Migration und Europäisierung
These 14: Die Eurolinguistik wird auch ein notwendiges mehrsprachiges
Programm für die Förderung der Ausbildung der Gastarbeiter und
Flüchtlinge mit ihren Kindern beinhalten, die durch lange Perioden
der Abwesenheit von ihren Heimatländern zu zweisprachigen Europäern
herangewachsen sind.
I. Eurolinguistik und Globalisierung - europäische Sprachen weltweit
These 15: Die Gründung einer internationalen Basis für
die Eurolinguistik wird als Beispiel für ein globales Szenario wirken,
wobei Englisch world-wide, Spanisch world-wide, Französisch world-wide
(Frankophonie), Russisch world-wide etc. eingeschlossen sind.
These 16: Die Kontakte der ehemaligen Kolonialsprachen in
Übersee
haben neue Pidgin- und Kreolsprachen geschaffen und als Katalysator für
die technische, ökonomische und kulturelle Entwicklung außerhalb
Europas und auf anderen Kontinenten gewirkt.
These 17: Deshalb ist die Eurolinguistik eine Angelegenheit nicht
nur Europas, sondern einer Weltzivilisation in ihrer Funktion als
linguistischer
Innovator für außereuropäische Sprachen.
J. Eurolinguistische Initiativen für eine europaweite Ausrichtung
These 18: Die Mitglieder des Pushkin-Symposiums unterstützen
den ELAMA in seinen Bemühungen um eine europaweite Ausrichtung von
Forschung und Organisationen in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und in anderen europäischen Ländern.
These 19: In europäischen Ländern, wo solche Projekte
und Institutionen nicht existieren und wo die Assimilierung von
Immigrantenminderheiten
eine wichtige Frage ist, sollten Forschungsprojekte und eventuell ganze
Forschungszentren für Multilingualismus und Eurolinguistik gegründet
werden, damit - besonders bei der jüngeren Generation von Immigranten,
Gastarbeitern und Asylanten - ein Zusammengehörigkeitsgefühl
entsteht, das uns Europa als unsere Heimat erleben lässt,.
These 20: Die Mitglieder des Pushkin-Symposiums fordern alle
offiziellen und privaten Organisationen auf, eurolinguistische Aktivitäten
in allen Ländern zu unterstützen, und fordern Privatpersonen
auf, eurolinguistischen Vereinen beizutreten.
Anhang 2: Das ELAMA Logo mit einer kontrapunktischen
Darstellung der Sprachkontakte nördlich der Alpen
Eurolinguistics
Eurolinguistischer Arbeitskreis Mannheim (ELAMA)