Das Archivische
Abstract
Seit Anfang der 1990er Jahre erlebt der Begriff des Archivs eine Renaissance im intellektuellen Diskurs. Fragen nach der Organisation des Wissens und seiner Überlieferung rücken vermehrt in den Fokus. Dieser sogenannte "archival turn" wird von der archivischen Fachwissenschaft allerdings kaum angemessen rezipiert. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag leisten zu einer disziplinenübergreifenden Auseinandersetzung über Funktionsweisen und Wesen des Archivs. Der erste Teil der Arbeit widmet sich dem Archivdiskurs wie er im Bereich der zeitgenössischen Kunst geführt wird. Dies geschieht exemplarisch am Projekt Interarchive (1999-2002), das unter der Leitung von Beatrice von Bismarck, Hans-Peter Feldman und Hans-Ulrich Obrist "archivarische Praktiken und Handlungsräume" im zeitgenössischen Kunstfeld thematisiert. An diesem Beispiel werden aus archivwissenschaftlicher Perspektive Gemeinsamkeiten und Unterschiede der mit dem Begriff des Archivs angerufenen Konzepte herausgearbeitet und nach Möglichkeiten gesucht, die unterschiedlichen Archivbegriffe produktiv aufeinander beziehen zu können. Charakteristisch für den künstlerisch-kulturwissenschaftlichen Archivdiskurs wie er im Projekt Interarchive zum Ausdruck kommt ist die Anwendung eines auf Michel Foucault zurückgehenden philosophischen Archivbegriffs auf konkrete Praktiken der Sammlung und Speicherung von Informationen. In dieser Perspektive erscheint das Archiv als ein System, das nicht so sehr historische Tatsachen abbildet, als vielmehr ihre Wahrnehmung und Deutung auf genuine Weise prägt. Die Archivwissenschaft sollte sich meines Erachtens intensiver mit solchen Überlegungen auseinandersetzen und versuchen, diese für die eigene Praxis produktiv zu machen. Dies wird allerdings nicht zuletzt dadurch erschwert, dass die in diesen Diskursen wirksamen Vorstellungen archivischer Ordnung in den meisten Fällen stärker von bibliothekarischen als von archivischen Konzepten geprägt sind. So findet beispielsweise das für die Identität der modernen Archivwissenschaft massgebliche Provenienzprinzip, die Ordnung nach Entstehungszusammenhang, im Rahmen des Projekts Interarchive keine Erwähnung. Im zweiten Teil der Arbeit wird daher versucht das Provenienzprinzip in seiner historischen Genese darzustellen. Dabei zeigt sich, dass sich die Durchsetzung dieses archivischen Ordnungsprinzips spezifischen Bedingungen verdankt und ihm die Praktiken grosser Verwaltungsarchive ebenso eingeschrieben sind wie das Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts. Der letzte Teil fragt daher nach Möglichkeiten einer Aktualisierung dieses archivischen Kernprinzips unter Einbezug diskursanalytischer Theorieansätze. Entsprechende Diskussionen werden in den 1990er Jahren vor allem im Umfeld der kanadischen Fachzeitschrift Archivaria geführt. Die für das Archiv so zentrale Frage nach der Provenienz von Unterlagen wird hier folgenreich reformuliert als Frage nach ihrer generellen Kontextualität.
Veröffentlicht
2014-05-15
Zitationsvorschlag
Messner, P. (2014). Das Archivische. Informationswissenschaft: Theorie, Methode Und Praxis, 3(1). https://doi.org/10.18755/iw.2014.17
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